Cunningham | Die Schneekönigin | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Cunningham Die Schneekönigin

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-641-15277-2
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-641-15277-2
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In Hans Christian Andersens Märchen »Die Schneekönigin« zerbricht ein Zauberspiegel in tausend Scherben. Trifft ein Splitter einen Menschen im Auge, so sieht er fortan alles um sich herum nur noch hässlich und böse. Wird ein Mensch dagegen im Herzen getroffen, wird es so kalt wie Eis … Michael Cunningham spielt auf brillante Weise, voller Poesie und mit einem guten Schuss Ironie versehen, mit Motiven aus Andersens Märchen. Und während er vor dem Hintergrund eines winterlichen New York eine Welt voll Eis, Schnee und Kälte heraufbeschwört, ist sein Roman in Wahrheit eine Hymne auf den Glauben an die Liebe und das Leben.

Der New Yorker Stadtteil Bushwick liegt jenseits von Brooklyn. In dieser Gegend sind die Mieten noch einigermaßen bezahlbar, die Häuser alt und die Leute nicht ganz so schick. Hier teilen sich die Brüder Tyler und Barrett eine Wohnung mit Tylers großer Liebe Beth, die unheilbar an Krebs erkrankt ist und um die sie sich beide aufopferungsvoll kümmern. Sie sind in den sogenannten besten Jahren und können es noch nicht ganz glauben, dass sich ihre Träume niemals erfüllen werden: Tyler, ein genialer Musiker, steht immer noch ohne Band und ohne Erfolg da. Aber er wird, das nimmt er sich vor und dafür sucht er sich heimlich Inspiration beim Kokain, das ultimative Liebeslied für Beth komponieren, ja, er wird es ihr bei der geplanten Hochzeit vorsingen ... Barrett, fast Literaturwissenschaftler, fast Startup-Unternehmer, fast Lord Byron, verkauft Secondhand-Designerklamotten in Beths Laden und trauert seinem letzten Lover nach, der ihn gerade schnöde per SMS abserviert hat. Als Beth sich wider alle Erwartungen zu erholen scheint, glaubt Tyler umso mehr an die Kraft der Liebe, während der Exkatholik Barrett sich fragt, ob das merkwürdige Licht, das er eines Nachts im Central Park amwinterlichen Himmel sah, nicht doch irgendwie eine göttliche Vision gewesen sein könnte …

Michael Cunningham wurde 1952 in Cincinnati, Ohio, geboren und wuchs in Pasadena, Kalifornien, auf. Er lebt in New York City, lehrt an der Yale University und hat mehrere Romane und Erzählungen veröffentlicht. Sein Roman »Die Stunden« wurde vielfach preisgekrönt, u. a. mit dem Pulitzerpreis und dem PEN/Faulkner-Award, und wurde in 22 Sprachen übersetzt. Die überaus erfolgreiche Verfilmung »The Hours« mit Meryl Streep, Julianne Moore und Nicole Kidman wurde mit einem Oscar ausgezeichnet.

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Ein himmlisches Licht erschien Barrett Meeks über dem Central Park, vier Tage nachdem die Liebe ihm wieder einmal übel mitgespielt hatte. Es war keineswegs sein erster romantischer Fußtritt gewesen, aber der erste, der ihm mittels einer fünfzeiligen SMS versetzt wurde, deren fünfte Zeile aus vernichtend unpersönlichen Wünschen für eine glückliche
Zukunft bestand, gefolgt von drei kleingeschriebenen x.

Während der vergangenen vier Tage hatte Barrett sein Bestes getan, um sich durch diese Abfolge von, der Eindruck drängte sich auf, zunehmend lapidaren und lauwarmen Trennungen nicht entmutigen zu lassen. Als er noch unter dreißig war, endeten seine Liebesbeziehungen für gewöhnlich mit Weinkrämpfen und Geschrei, so laut, dass die Hunde der Nachbarschaft mit einstimmten. Einmal hatten er und sein zukünftiger Ex einander mit Fäusten traktiert (Barrett kann immer noch hören, wie der Tisch umkippt, die Pfeffermühle im Halbkreis über den Dielenboden rollt). Ein anderes Mal: eine lautstarke Auseinandersetzung in der Barrow Street, eine zerbrochene Flasche (bis heute assoziiert Barrett mit »verknallen« grüne Glasscherben auf dem Gehweg unter einer Straßenlaterne) und eine Frauenstimme, die aus einer dunklen, tiefer gelegenen Fensteröffnung kam und einfach nur fragte, weder schrill noch streng: »Könnt ihr Jungs denn nicht verstehen, dass hier Leute wohnen? Wir wollen schlafen«, und dabei klang wie eine erschöpfte Mutter.

Als Barrett dann Mitte und noch später Ende dreißig war, nahmen die Trennungen allmählich den Charakter von Geschäftsverhandlungen an. Sie kamen nicht ganz ohne Kummer und Vorwürfe aus, gestalteten sich aber fraglos weniger hysterisch. Sie ähnelten eher Verträgen oder Investitionen, die, unglücklicherweise und trotz vielversprechender Aussichten auf hohe Gewinne, schiefgelaufen waren.

Diese Trennung war jedoch die erste, die via SMS vollzogen wurde und deren Abschiedsgruß ungebeten und unerwartet auf einem Bildschirm erschien, der nicht größer war als ein Stück Hotelseife. Hi Barrett ich glaube du weißt was jetzt kommt. Hey wir haben es immerhin versucht oder?

Barrett hatte jedoch keine Ahnung gehabt, was kommen würde. Er verstand die Nachricht natürlich – die Liebe und die Zukunft, die sie bringen mochte, waren abgesagt. Aber ich glaube du weißt was jetzt kommt? Diesen Satz könnte ein Dermatologe nach dem jährlichen Check-up fallenlassen. Ich vermute, Sie ahnen schon, dass es sich bei dem Schönheitsfleck auf Ihrer Wange, jenem kleinen, schokobraunen Punkt, der verschiedentlich als eines Ihrer reizendsten Merkmale bezeichnet wurde (wer hatte gleich gesagt, Marie Antoinettes aufgemalte Version habe sich an exakt derselben Stelle befunden?), in Wahrheit um Hautkrebs handelt.

Barretts erste Reaktion erfolgte auf gleichem Wege, per SMS. Eine E-Mail hätte altmodisch, ein Anruf verzweifelt gewirkt. So tippte er auf winzigen Tasten: Wow das kommt überraschend wie wäre es wenn wir kurz reden, bin da wo ich immer bin. xxx.

Im Laufe des zweiten Tages hatte Barrett zwei weitere SMS abgeschickt, gefolgt von zwei Sprachnachrichten, und den größten Teil des zweiten Abends war er damit beschäftigt gewesen, keine dritte zu hinterlassen. Bis zum Ende von Tag drei hatte er nicht nur keine wie auch immer geartete Antwort erhalten, sondern auch angefangen einzusehen, dass er keine mehr bekommen würde; dass der stämmige, nachdenkliche Doktorand aus Kanada (Psychologie, an der Columbia), mit dem er sechs Monate lang Tisch, Bett und Privatsphäre geteilt hatte, der Mann, der gesagt hatte: »Ich könnte dich lieben«, nachdem Barrett beim gemeinsamen Bad Frank O’Haras »Ave Maria« rezitiert hatte, der Mann, der die Namen aller Bäume kannte, als sie das Wochenende in den Adirondacks verbrachten, einfach weiterzog; dass Barrett am Bahnsteig zurückgelassen worden war und sich wunderte, wie es dazu kommen konnte, dass er ganz offensichtlich den Zug verpasst hatte.

Ich wünsche dir für die Zukunft Glück und Zufriedenheit. xxx.

Am vierten Abend durchquerte Barrett nach einem Zahnarztbesuch, der ihm einerseits deprimierend banal erschien, andererseits seine seelische Stärke bewies, den Central Park. Bitte sehr, servier mich in fünf nichtssagenden und verletzend unpersönlichen Zeilen ab. (Tut mir leid dass es sich nicht entwickelt hat wie erhofft, aber ich weiß wir haben beide unser Bestes gegeben.) Deinetwegen werde ich meine Zähne nicht vernachlässigen. Ich werde froh sein, froh und dankbar dafür, dass ich nun doch keine Wurzelbehandlung brauche.

Dennoch. Die Vorstellung, dass er sich ohne jede Vorbereitungszeit damit abfinden musste, niemals mehr die reine, unbeschwerte Anmut dieses jungen Mannes erleben zu dürfen, der den gelenkigen, unschuldigen, schwärmerisch porträtierten Athleten eines Thomas Eakins so ähnlich sah; die Vorstellung, dass er nie wieder sehen würde, wie der Junge sich aus seinem Slip schälte, bevor er ins Bett stieg, nie wieder sein überbordendes, unschuldiges Entzücken über kleine Überraschungen erleben würde (ein von Barrett selbst aufgenommenes Leonard-Cohen-Mixtape mit dem Titel Why Don’t You Just Kill Yourself; ein Sieg der New York Rangers), erschien ihm buchstäblich als Unmöglichkeit, als ein Verstoß gegen die Naturgesetze der Liebe. Ebenso der Umstand, dass Barrett voraussichtlich niemals erfahren würde, was so furchtbar schiefgelaufen war. In den letzten Wochen hatten sie gelegentlich gestritten, sich betreten angeschwiegen. Doch Barrett war immer davon ausgegangen, dass sie lediglich in die nächste Phase eintraten; dass ihre Meinungsverschiedenheiten (Meinst du, du könntest versuchen, wenigstens manchmal pünktlich zu sein? Warum machst du mich in Gegenwart meiner Freunde so nieder?) ein Hinweis auf wachsende Vertrautheit waren. Er hätte sich nicht ansatzweise vorgestellt, eines Morgens beim Blick auf sein Handy erkennen zu müssen, dass die Liebesmüh verloren war, und zwar mit ungefähr demselben Maß an Bedauern, wie man es nach dem Verlust einer Sonnenbrille empfinden würde.

Am Abend der Erscheinung – Barrett war soeben vom Fluch der drohenden Wurzelbehandlung befreit worden und hatte gelobt, pflichtbewusster Zahnseide zu benutzen – ging er über die große Wiese in Richtung der illuminierten, gletscherartigen Masse des Metropolitan Museum. Seine Schritte knirschten über den vereisten, silbergrauen Schnee. Barrett nahm die Abkürzung zur Linie 6, von den Ästen der Bäume fielen Tropfen auf ihn herab, er war froh, endlich zu Tyler und Beth nach Hause fahren zu können, froh, erwartet zu werden. Er fühlte sich betäubt, so als hätte man seinem ganzen Sein Novocain gespritzt. Er fragte sich, ob er mit seinen achtunddreißig Jahren im Begriff war, sich von einer Figur tragischer Leidenschaft, vom reinen Tor der Liebe in einen Nullachtfünfzehn-Manager zu verwandeln, der, während er ein Geschäft abschreibt (ja, das Portfolio des Unternehmens hat Verluste gemacht, aber das ist keine Katastrophe), schon an das nächste denkt, mit neuer, wenn auch leicht realistischerer Hoffnung. Er fühlte sich nicht mehr genötigt, zum Gegenangriff überzugehen, im Stundentakt Nachrichten auf dem Anrufbeantworter zu hinterlassen oder vor dem Haus des Ex Wache zu stehen, obwohl er noch vor zehn Jahren genau das getan hätte: Barrett Meeks, Soldat der Liebe. Inzwischen empfand er sich als gealtert und verarmt. Wenn er ein Drama aus Wut und Leidenschaft inszeniert hätte, dann nur, um zu verschleiern, dass er bankrott war, dass er elend war, bitte, Bruder, hast du eine kleine Spende?

Mit hängendem Kopf lief Barrett durch den Park, nicht aus Scham, sondern ermattet, als wäre sein Kopf zu schwer, um aufrecht getragen zu werden. Sein Blick fiel auf die bescheidene, blaugraue Pfütze seines eigenen Schattens, die vom Laternenlicht auf die Schneedecke geworfen wurde. Er sah seinen Schatten über einen Kiefernzapfen gleiten, über angedeutete Runen aus Kiefernnadeln, über die Verpackung eines Oh-Henry!-Schokoriegels (wurden die immer noch hergestellt?), die knisternd vorbeiflatterte wie zerfetztes, vom Wind getragenes Silber.

Die Miniaturlandschaft zu seinen Füßen kam ihm ganz plötzlich unerträglich winterlich und nüchtern vor. Er hob den schweren Kopf und blickte empor.

Da war es. Ein blasses, türkisblaues Licht, transparent, ein Schleierfetzen, sternenhoch, nein, es stand tiefer als die Sterne, aber weit oben; höher als ein Raumschiff schwebte es über den Baumwipfeln. Es breitete sich langsam aus oder vielleicht auch nicht, war im Zentrum verdichtet und lief zu den Rändern hin in Rüschen und Spiralen aus.

Barrett hielt es für ein Nordlicht, das sich zu weit nach Süden verirrt hatte, ein nicht gerade gewöhnlicher Anblick über dem Central Park, aber als er da stand – ein Fußgänger mit Mantel und Schal auf einer laternenbeschienenen Eisfläche, betrübt und enttäuscht, aber ansonsten ziemlich normal – als er zu dem Licht emporblickte, das vermutlich gerade die Nachrichten beherrschte – als er sich fragte, ob er an seinem Standort verharren und die Überraschung für sich behalten oder loslaufen und sich nach einem Zeugen umschauen sollte – da waren noch andere Leute, dunkle Scherenschnitte, dort drüben auf der großen Wiese verteilt …

In dieser Unentschiedenheit, dieser Unbeweglichkeit, fest verankert in seinen Timberlands, ging es ihm auf. Er glaubte, nein, er wusste mit Sicherheit, dass das Licht, zu dem er hinaufsah, auf ihn heruntersah.

Nein. Es sah nicht. Es verstand. Wie ein Wal...


Bonné, Eva
Eva Bonné übersetzt Literatur aus dem Englischen, u.a. von Rachel Cusk, Anne Enright, Michael Cunningham und Abdulrazak Gurnah. Sie wurde mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet.

Cunningham, Michael
Michael Cunningham wurde 1952 in Cincinnati, Ohio, geboren und wuchs in Pasadena, Kalifornien, auf. Er lebt in New York City, lehrt an der Yale University und hat mehrere Romane und Erzählungen veröffentlicht. Sein Roman »Die Stunden« wurde vielfach preisgekrönt, u. a. mit dem Pulitzerpreis und dem PEN/Faulkner-Award, und wurde in 22 Sprachen übersetzt. Die überaus erfolgreiche Verfilmung »The Hours« mit Meryl Streep, Julianne Moore und Nicole Kidman wurde mit einem Oscar ausgezeichnet.



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