E-Book, Deutsch, 448 Seiten, Format (B × H): 140 mm x 210 mm, Gewicht: 592 g
Curtis Hexeneinmaleins
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-905574-06-7
Verlag: Kommode
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Shakespeare-Krimi
E-Book, Deutsch, 448 Seiten, Format (B × H): 140 mm x 210 mm, Gewicht: 592 g
ISBN: 978-3-905574-06-7
Verlag: Kommode
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ashley Curtis wurde 1959 in Kalifornien geboren. Er studierte chinesische und biblische Literatur an der Yale Universität sowie Physik und Physikpädagogik am Smith College. Von 2009 bis 2014 war er Schulleiter an der Ecole d'Humanité in Hasliberg, Berner Oberland. Im Kommode Verlag erschienen bisher der Shakespeare-Krimi Hexeneinmaleins (2019) sowie die philosophischen Plädoyers Irrtum und Verlust (2017) und Alles ist beseelt (2021). Weitere Publikationen erschienen bei Bergli Books. Curtis lebt zur Zeit in Domodossola in Norditalien, wo er als Schriftsteller, Lektor und Übersetzer tätig ist.
Zielgruppe
Dieser literarische Krimi wird nicht nur Krimi-Leser begeistern sonder auch alle, die sich für Shakespeare und insbesondere die Debatte um die Urheberschaft der Werke interessieren. Das Buch ist gespickt mit Referenzen und Zitaten aus verschiedenen Shakespeare-Stücken und zitiert real existierende Dokumente zur Untermauerung der Oxford-These.
Weitere Infos & Material
Zu seinen Lebzeiten rauchte Professor Thompson dicke Zigarren, deren Asche er in schwere Glasaschenbecher abstrich, und zog die ungebärdigen Augenbrauen hoch, die über seine Brillengläser lugten wie fürwitzige Eichhörnchen. Seine Augen waren von den Brillengläsern so verzerrt, dass man nicht genau wusste, ob er einem ins Gesicht blickte oder auf etwas hinter einem an der Wand.
Doch jetzt hatte er die Augen geschlossen. Von den vierhundertsiebenundfünfzig Zuschauern im Swan Theatre der Royal Shakespeare Company lag er als Einziger reglos in seinem Sessel.
Die Beifallsstürme legten sich, und das Licht ging an. Macbeth war tot. Man hatte seinen noch tropfenden malträtierten Kopf auf einen Pfahl gespießt und in wildem Triumph über die Bühne geschwenkt. Die Schlacht, die seiner Enthauptung vorausging, war erbittert gewesen; ein Tumult aus klirrendem Stahl, hämmernden Knüppeln und Schreien der Wut und des Schmerzes. Von allen Seiten waren zuckende Lichter herabgefahren, grellweiße, blendende Lichter, die zornig brüllende Krieger einfroren und in Schattenrisse verwandelten. Schwer vorstellbar, dass jemand, und sei es ein Siebzigjähriger mit Jetlag, so ein Gemetzel verschlief.
Und doch war Thompson in der ersten Reihe zusammengesackt, die Beine von sich gestreckt, der Kopf schief auf die Rückenlehne gesunken.
Georgina Mansard, Thompsons ehemalige Studentin, erhob sich vom Platz neben ihm. Sie sah besorgt auf ihn herab, beugte sich zu ihm.
»Adrian«, sprach sie ihn an. Dann, lauter: »Adrian, alles in Ordnung mit Ihnen?«
Georgina legte die Hand auf seine rechte Schulter und rüttelte sacht daran. Einer seiner Arme war gelähmt, fiel ihr ein, aber nicht welcher, und sie fasste nach der anderen Schulter. Ihre Hand streifte seinen bloßen, kaltfeuchten Hals, und sie zuckte zurück.
»Hilfe!«, stieß sie hervor, nicht eben laut, denn ihr war die Luft weggeblieben. »Hilfe!«
Sie war ein zartes Persönchen, das kurze Haar im forschen Rot eines Orientteppichs gefärbt, eine feine Strähne vor den Ohren herabfallend. Die Brille, die an einer Kette um ihren Hals hing, hatte eine Fassung im gleichen Rot.
Eine ungeduldige Menge drängte von hinten heran, elegant gekleidete Männer und Frauen, verärgert über die Verzögerung, dann beunruhigt über die Aussicht, eine Unregelmäßigkeit könnte ihren freien Abend stören. Georginas Rufe wurden schließlich von zwei jungen Platzanweisern gehört, von denen einer hinaus zur Kasse rannte, während der andere Professor Thompson hilflos und zunehmend bestürzt auf die Wangen patschte und anschließend am versehrten Arm rüttelte. Der kleine Teil des Publikums, der sich noch im Saal befand, zögerte an den Ausgängen, gaffte auf die Aufregung, und als jemand von den Verärgerten hinter Georgina vernehmlich »Ist ein Arzt anwesend?« rief, kam der Exodus zum Erliegen, und einige derer, die bereits an den Türen waren, machten kehrt und wollten wieder in den Saal hinein. Ein junger, athletisch gebauter Mann mit schwarzem Haar und akkurat gestutztem Kinnbart kam nach vorn gestolpert und rief: »Ich bin Arzt, was gibt’s denn?« – aber das war offensichtlich, und niemand antwortete ihm. Der Mann ließ Thompson behutsam auf den Boden herab und wies eine junge Frau an, einen Krankenwagen zu rufen; er bog Thompsons Kopf zurück, legte das Ohr an seinen Mund und, erschrocken, die Finger an den fleischigen Hals, tastete nach dem Puls. Er riss ein transparentes kleines Tuch aus einem Beutel an seiner Schlüsselkette, legte es Thompson über den Mund und atmete zweimal hinein, wechselte dann zum Oberkörper, riss Thompson das Hemd auf und drückte mit aneinandergelegten Ellbogen und verschränkten Händen in so schnellem Rhythmus, dass der schwabbelige, weiß behaarte Brustkorb federte wie ein kaputtes Trampolin unter den Salti eines frenetischen Akrobaten.
Kurz darauf kamen zwei uniformierte Polizisten mit einem Defibrillator angerannt, dessen Pads sie auf Thompsons fleckige Haut klebten. »Weg!«, schrie der eine; der Arzt unterbrach sein Pumpen und beugte sich, noch auf den Knien, zurück.
»Weg, alle weg vom Patienten!«
Der erste Polizist drückte auf einen Knopf, Thompsons Körper wölbte sich in einem peinvollen Bogen nach oben und plumpste bleiern wieder herab. Zwei grauhaarige Rettungssanitäter teilten die Menge und kamen zu ihm geeilt.
Rettungssanitäter Nummer drei, eine stämmige junge Frau, wollte wissen, ob jemand den Mann kenne. Georgina, von der Menge um den Toten abgedrängt, meldete sich zaghaft. Sie wusste zwar nichts über Allergien oder regelmäßig eingenommene Medikamente, konnte aber Details darüber beisteuern, was Thompson zuletzt zu sich genommen hatte, und berichtete, dass er vor einem Jahr einen Schlaganfall gehabt und dadurch den Gebrauch eines Arms eingebüßt habe. Ihr sei heute Abend nichts aufgefallen – das Stück sei so laut gewesen. Die Sanitäterin sah sie befremdet an, aber die anderen waren inzwischen bereit zu gehen. Professor Thompson wurde auf einer Trage die Rampe hinauf und durch den Ausgang aus dem Saal gerollt, von einer Maske auf dem Gesicht mit Sauerstoff versorgt, den er nicht mehr einatmen konnte.
Als Georgina aufblickte, kam ein dünner Mann in dunklem Anzug von der anderen Seite des Theaters auf sie zu. Ein seltsames Gefühl starker Beunruhigung durchzuckte sie, wanderte vom Spann ihrer Füße durch ihre Brust nach oben, und ihr wurde heiß und schwindlig.
»Harry«, sagte sie durch ein Taschentuch und aufkommende Tränen hindurch. »Harry.«
Er legte die Arme um sie, drückte den kleinen Körper fest an sich. Sie erschauerte ob der Wärme, der Verwirrung.
»Was sagen sie?« Harrys Jackett an ihren Ohren, seine warmen Arme, ihre gemeinsame Vergangenheit dämpften seine Worte. Sie gestattete sich, die Umarmung noch einen Moment auszukosten.
»Nichts.« Tränen fielen ihr auf die Wangen.
Harry entließ sie aus seinen Armen. Seine Stirn verzog sich, als er die Augen schloss. »Mein Gott«, sagte er leise. »Adrian.«
Er sprach den Namen, als sei er sich nicht ganz sicher, dass er es war, ihr alter Lehrer und Mentor, als könne es sich durch einen aberwitzigen Zufall um einen anderen würdigen Herrn mit Glatze und dicker Brille handeln, der ihm bloß äußerlich ähnelte. Es war die Feststellung einer Tatsache, die in sich die Hoffnung barg, sie wäre doch fraglich, eine rein hypothetische Hoffnung freilich nur und keiner Antwort wert.
Aufgewühlt und durcheinander, wie sie war, sah Georgina Harry entgeistert an. Jedes Detail seiner Erscheinung kündete von seiner Besonderheit. Nach ihrer gemeinsamen Studienzeit war sie pummelig geworden, er hingegen sah dünner und fahler aus denn je, die lange Nase noch spitzer, die blassblauen Augen, sofern das möglich war, noch entrückter. In Harrys dunklem Haar entdeckte Georgina erste Spuren von Grau, seine Wangen waren seltsam gerötet, und seine schmalen Lippen bebten vor Erregung. Er kam ihr vor wie eine Gestalt der Romantik – Heathcliff oder Wordsworth oder Liszt – beim Durchwandern der Alpen, in langem Wollrock, mit ledernem Ranzen über der Schulter und Wanderstock in der Hand.
Sie sah weg, und das Bild löste sich auf. Ein Polizist und der Arzt traten zu ihnen.
»Waren Sie mit ihm hier?«, fragte der Polizist. Georgina nickte.
»In welcher Beziehung stehen Sie zueinander?«
»Ich bin seine – also, Sie müssen wissen, wir alle hier –, das ist Harry Abrams, er ist auch hier. Wir sind hier auf der Konferenz, der – Konferenz. Heute erst angekommen – über die Urheberschaft der Werke Shakespeares.«
»Wahrscheinlich Shakespeare«, sagte der Arzt gereizt.
»Wie bitte?«, sagte Georgina verwirrt.
»Shakespeare«, wiederholte er. »Ich würde meinen, Shakespeare ist der Urheber seiner Werke.«
»Oh, ja. Ich auch übrigens. Aber einige …«
»Können Sie den Mann identifizieren?«, warf der Polizist ein. Der zweite Beamte stand hinter ihm, einen kleinen Notizblock aufgeschlagen in der Linken, den gezückten Stift in der Rechten.
»Professor Adrian Thompson, ja, aus Yale. Er war unser Lehrer.«
»Und was genau ist passiert?«, fragte der Arzt ungeduldig.
»Ich weiß nicht. Ich dachte nicht, dass etwas passiert sei. Ich meine, die Aufführung war laut und - fesselnd, besonders der Schluss.«
»Das einzig Gute der Tragödie.«
»Was?«
»Der Böse bekommt, was er verdient.«
Es dauerte einen Moment, bis seine Worte zu Georgina...




