Jürgen Dahl – das Frühwarnsystem
Manfred Kriener
Der Schriftsteller Jürgen Dahl war ein Pionier der Zukunftsfürsorge und ein großer Autor, Mahner, Spötter, Gärtner, Sprachkritiker. Im Biotop der Umweltbewegung blieb er immer ein Geheimtipp. Jetzt haben Klimanotstand und Umweltkrise viele seiner Texte auf dramatische Weise aktualisiert.
Jürgen Dahls erste dezidiert umweltpolitische Schriften erschienen Ende der 1960er- und in den 1970er-Jahren. Willy Brandt und Helmut Schmidt regierten als sozialdemokratische Kanzler die Republik. Das Wirtschaftswunder war abgeflaut, doch der Aufschwung hatte auch den kleinen Leuten eigene Autos und Farbfernseher beschert, die Insignien des Wohlstands. Die Bildungsexpansion und Brandts Maxime »mehr Demokratie wagen« sorgten für politischen Aufbruch, gleichzeitig erhitzten die neue Ostpolitik, Radikalenerlass und Berufsverbote die Gemüter. Ende der 1970er-Jahre mündeten die terroristischen Attentate der RAF in die bleierne Zeit. Die Frauen erklärten: »Mein Bauch gehört mir« und die DDR setzte Wolf Biermann vor die Türe und schickte Rudolf Bahro ins Gefängnis. Größere Schockwellen lösten die steigenden Ölpreise aus, die plötzlich das Fliegen lernten. Die Deutschen gingen an autofreien Sonntagen auf der Autobahn spazieren, ihr neuer Wohlstand schien in Gefahr. Die »Ölscheichs« wurden als Feindbild inszeniert, die Debatte um die Rohstoffe trug erstmals das Aroma der Endlichkeit.
Das herausragende Thema der Protestbewegung Ende der 1960er-Jahre war Vietnam gewesen. In den 1970er-Jahren sollte es die Ökologie werden, obwohl der Begriff noch eine weithin fremde Vokabel war und erst im nächsten Jahrzehnt so richtig Karriere machte. Die historische Zäsur durch die 1972 im Bericht an den Club of Rome beschworenen »Grenzen des Wachstums« drückte den 1970er-Jahren den ersten ökologischen Stempel auf. Das Kalkül des Immer-mehr, Immer-größer, Immer-schneller ging nicht mehr auf, die Utopie des allmächtigen technischen Apparats als guter Freund und Diener des Menschen geriet ins Schlingern. Ölkrise, Energiekrise, Katastrophenfurcht und düstere Zukunftsmodelle verunsicherten viele Deutsche. Symbole, die gestern noch positiv besetzt waren wie Schornsteine, Autos, Computer, Raketen oder Atomkraftwerke weckten plötzlich negative Assoziationen.
Der Schock der Ölkrise und die fast täglichen Hiobsbotschaften über verdreckte Flüsse, explodierende Chemietanks und Gift im Salat, über Smogalarm und auseinandergebrochene Öltanker veränderten die Bewusstseinslage von Millionen und erfassten auch Teile des konservativen Lagers. 1976 breitete sich in Norditalien bei Seveso nach einem Unfall in einer Chemiefabrik eine tödliche Giftwolke aus. Tausende wurden evakuiert, Schwangere verloren ihre Kinder, Kühe lagen tot auf der Weide. Die Region war mit dem bis dahin unbekannten Ultragift Dioxin verseucht worden. Auf den Titelseiten deutscher Illustrierten blickten die pockennarbigen »Kinder von Seveso« den Lesern in die Augen. Der neue Wohlstand zeigte sein hässliches Gesicht.
Die Umweltdebatte nahm Fahrt auf, sie gipfelte in der Kritik an der Atomenergie. Die Angst vor dem ungeheuren radioaktiven Zerstörungspotenzial der Atommeiler ergriff ganze Regionen. Stellvertretend für die Ablehnung menschenfeindlicher Großtechnologie und berauschten Machbarkeitswahns formierte sich der Widerstand in unzähligen Bürgerinitiativen, die zur »neuen Landplage« (FAZ) wurden. Auch gegen Autobahnprojekte, Flugplätze, automobile Teststrecken oder Chemieanlagen gingen die Bürger in Stellung.
Angesichts der hoch emotionalen Debatte um die Atommeiler und der blutigen Schlachten an den Bauzäunen der Standorte lesen sich die Texte Jürgen Dahls erstaunlich sachlich, beinahe cool. Die Atomenergie war für den Schriftsteller, der nicht weit von dem in Kalkar geplanten Plutoniumreaktor vom Typ Schneller Brüter lebte, ein zentrales Thema. Neben seinen Veröffentlichungen zur Hochleistungsmedizin, zum rasant zunehmenden Autoverkehr mit seinen Straßenbauorgien war die auf Atomkraft fixierte Energiepolitik vielleicht sogar Dahls wichtigstes politisches Thema, auf das er immer wieder zurückkam. Exemplarisch konnte er am Atomkurs der Machteliten zeigen, welche Bedrohungspotenziale die neuen technischen Errungenschaften bereithielten und wie rücksichtslos der Fortschritt galoppierte.
1977, zwei Jahre vor der ersten Kernschmelze im amerikanischen Harrisburg, erscheint sein Aufsatz »Zur Metaphysik der Atomenergie-Erzeugung«. Sachlich, aber hellsichtig und mit klinischer Präzision sprengt er die Argumentationsketten der Atombetreiber und ihrer politischen Gefolgschaft. Gleich auf der ersten Seite nimmt er vorweg, was später in Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima geschehen wird. Er ist überzeugt, dass »nur eine große Katastrophe« den Ausbau der Atomenergie aufhalten könne, denn die roten Linien seien schon überschritten. Dass die Atomkatastrophe tatsächlich geschehen wird, ist für Dahl eine Frage schierer Arithmetik. Wenn ein schwerer Unfall höchstens einmal in 1.000 Jahren passieren könne, dann bedeute das bei 100 Atomkraftwerken nichts anderes, als dass dieser Unfall schon alle zehn Jahre geschehe. Das Unvorhergesehene sei vorhersehbar, schreibt er in typischer Dahl-Diktion. »Das Zahlenspiel der Sicherheit ist voll schöner Züge und lässt nur an den unscharfen Rändern das Muster künftiger Verhängnisse und Verheerungen durchschimmern.« Und noch eine präzise Vorhersage: Der Gemeinplatz, dass die absolute technische Sicherheit unerreichbar sei, liefere bereits den Indizienbeweis, dass auch die Atomtechnik ihre Katastrophen haben werde.
Das »menschliche Versagen«, das später den Atomwerkern von Harrisburg amtlich attestiert wird, ist bei Dahl schon eins zu eins nachzulesen: »Die Fehlbarkeit des Menschen ist bekannt und unabänderlich, eben dadurch ist den technischen Unternehmungen eine moralische Grenze gesetzt. Man kann nicht sagen, wo die Grenze verläuft, aber man sieht es, wenn sie überschritten wurde.« Wo andere Autoren schwere verbale Geschütze gegen die »menschenverachtende Atommafia« auffahren, bleibt Jürgen Dahl bei seiner ganz eigenen Tonlage: nicht moralisch, nicht verschwörungstheoretisch und bei diesem Thema auch nicht polemisch. Und trotz seines eleganten Stils auch nie renommierend. Argumente statt demagogischer Ausfälle. Aber unnachahmlich mit den langen geschwungenen Sätzen und den sprachlich ausgeruhten Begrifflichkeiten.
43 Jahre und drei Reaktorkatastrophen später ist der Atomausstieg in Deutschland beschlossen und weitgehend vollzogen. Doch die Entsorgung der strahlenden Hinterlassenschaften bleibt ein ungelöstes Debakel. Das dicke Ende der Atomenergie mit zahlreichen Milliardengräbern wird noch viele Generationen nach uns beschäftigen. Was Jürgen Dahl dazu 1977 notiert hat, ist von prophetischer Gabe. Über das absaufende Atommülllager Asse, das wegen Wassereinbrüchen in den nächsten Jahren geräumt werden muss (Kostenschätzung: vielleicht vier, vielleicht aber auch zehn Milliarden Euro), schreibt er: »Dass aber das Begräbnis in diesen Kavernen, wenn es denn endlich stattgefunden hat, eine ›Endlagerung‹ für den atomaren Abfall sei, die mit seiner Beseitigung so gut wie identisch ist, das ist nichts weiter als ein frommer Wunsch.«
In seinem Aufsatz »Kommt Zeit, kommt Unrat«, ebenfalls 1977 erschienen, zerpflückt er die Wortschöpfung des in Gorleben geplanten nuklearen »Entsorgungsparks«. Wer an einen Stadt- oder Erholungspark, an Bäume, frische Luft und blauen Himmel denke, der sei falsch gestrickt. Hier werde auch niemand seine Sorgen los, vielmehr sei der Park Anlass zu größter Sorge. Dort werde in den Laboratorien radioaktives Material, das Tausenden Atombomben entspricht, »aufgekocht, verdampft, gereinigt, destilliert, gelöst, verascht, entmischt, abgefüllt, gelagert …«. So hatte bis dato noch niemand über die Segnungen der friedlichen Nutzung der Atomenergie und ihre Entsorgung geschrieben. Dahl stellte nicht nur die Frage, ob die Atombetreiber das Entsorgungsproblem überhaupt lösen können. Er beantwortete sie auch gleich und gab die Prognose, dass der Regierung schlussendlich »nichts anderes übrigbleibt, als das dicke Ende der Atomenergieerzeugung selber in die Hand zu nehmen.« Das ist punktgenau die heutige Situation.
Zu Recht würdigte der Berliner Journalist Mathias Greffrath 2011, nach der Katastrophe in Fukushima, in der Zeit Jürgen Dahl zusammen mit dem Zukunftsforscher Robert Jungk und dem Philosophen Günther Anders als einen der drei Avantgardisten der Anti-Atom-Bewegung. Jungk und Anders waren zwar populärer als Dahl. Aber der konnte die Worthülsen der Atomprofessoren Buchstabe für Buchstabe auseinandernehmen wie kein anderer. Greffrath: »Dahl war ein sanfter, aber böser Sezierer der vernebelnden Sprache. […] Wie Anders’ theoriegeladene Moralistik greifen seine skeptischen Texte weit über die Energiefrage hinaus, verbinden sie mit einer Kritik an den Absurditäten der Konsumwelt, des Warenwahns, der Beschleunigungsspirale. Kein strenger Warner, eher ein spöttischer Tragiker, dieser Kettenraucher, der gelegentlich in den Rundfunkanstalten und Zeitungsredaktionen aufkreuzte, die Erde seines wunderbaren botanischen Gartens am Niederrhein unter den Fingernägeln und in den Falten seines freundlichen Gesichts. Dahl konnte ein Wort wie ›Verbraucher‹ so lange wenden, bis es dunkel zu leuchten begann, zur apokalyptischen Metapher wurde. Seine Glossen ergeben eine Enzyklopädie des Irrsinns – auch des Irrsinns individuellen Bemühens: ›In einer Welt, in der zur Herstellung eines Autos nicht weniger als 400.000 Liter Wasser gebraucht werden, ist es lächerlich, die Leute zu ermahnen,...