E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Darznik Was wir sahen, was wir träumten
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-641-27983-7
Verlag: C.Bertelsmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman. Ein kraftvoller Roman über das bewegte Leben der Fotografie-Ikone Dorothea Lange. Ausgezeichnet von der New York Times als bester historischer Roman 2021
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-641-27983-7
Verlag: C.Bertelsmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
San Francisco 1918: Die junge Dorothea Lange kommt gerade aus New York – im Gepäck ihre Kamera, große Hoffnungen und der Traum, sich als Fotografin einen Namen zu machen. Als sie kurz nach ihrer Ankunft ausgeraubt wird, findet sie unerwartet Hilfe in Caroline Lee, einer temperamentvollen jungen Frau mit asiatischen Wurzeln. Ihre neue Freundin führt sie ein in die schillernde Kunstszene San Franciscos. Carolines Warnungen zum Trotz heiratet sie den brillanten, aber psychisch labilen Maler Maynard Dixon. Die Ehe endete in einem Desaster. Und ein rassistischer Angriff auf ihre Freundin Caroline öffnet Dorothea die Augen für die Realität außerhalb der Künstlerkreise. Mit ihrem unvergleichlichem Gespür für die Kamera gelingt es ihr, diese Missstände festzuhalten und darauf aufmerksam zu machen. Bild für Bild entdeckt Dorothea ihre Bestimmung und wird zu der Künstlerin, deren ikonische Fotografien eine ganze Nation bewegten.
»Ein kraftvoller Roman über eine Frau, die sich über Konventionen hinwegsetzt, um ihrer Leidenschaft zu folgen.« Kirkus Review
Jasmin Darznik wurde in Teheran (Iran) geboren. Sie promovierte in Princeton. Ihre Texte sind mehrfach preisgekrönt und wurden in Zeitungen wir The New York Times, The Washington Post und Los Angeles Times veröffentlicht. Jasmin Darznik ist Professorin für Englische Philologie und Kreatives Schreiben an der University of Virginia.
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Kapitel 1
FOTOGRAFIN UND JUNGE ORIENTALIN EROBERN SAN FRANCISCO IM STURM
1918 erschien ein Foto von uns in der Zeitung. Darauf sieht man uns nebeneinanderstehen, ich mit meiner umgehängten Graflex, Caroline mit einem bezwingenden Lächeln. Sie trägt eine Tunika mit langen Glockenärmeln und einer breiten Satinschärpe um die Taille. Es hat etwas von einer Kostümierung, was auch für meine Aufmachung gilt: ein Kleid aus fließendem Pannesamt, ein Satz Silberreife an jedem Handgelenk und ein langer Paisley-Schal. Beide tragen wir einen Bubikopf, nur habe ich dicke, dunkelblonde Locken und ihre Haare sind schwarz und glatt. Carolines kajalumrandete Augen schimmern, aber weil es eine Schwarz-Weiß-Fotografie ist, erkennt man ihre Farbe nicht, die Farbe von geschliffenem Glas.
Wann immer ich in den nächsten Jahren das Foto betrachtete, fühlte ich mich in unser Atelier in der Sutter Street 540 in San Francisco zurückversetzt – die 540, wie wir es nannten. Als wären wir nach wie vor dort, Caroline und ich, voller Hoffnung und ganz in unserem Element. Beide hatten wir so lange mit dem Gefühl gelebt, nirgendwohin zu gehören, dass wir glaubten, nur uns selbst zu haben. Zur Zeit der Aufnahme hatten wir in dem Atelier unser Zuhause gefunden, ein Zuhause, das wir mit schierer Willenskraft aus dem Nichts geschaffen hatten. Wir arbeiteten achtzehn Stunden am Tag, von Montag bis Samstag, und auch wenn uns das an den Rand der Erschöpfung brachte, genossen wir doch jede Minute dort. Am allerschönsten waren die Abende, an denen unsere Freunde vom Monkey Block herüberkamen. Jeder brachte jemanden mit, und die 540 war erfüllt von Musik und Tanz und lebhaften Gesprächen.
Nach zwei Jahren war alles vorbei, und ich war wieder auf mich allein gestellt.
Nachdem der Skandal bekannt geworden und Caroline verschwunden war, stand mir die ganze Geschichte schlagartig vor Augen. Was passiert war und was ich nie ungeschehen machen könnte. Ich sah Caroline auf dem Boden sitzen, die Knie bis zum Kinn hochgezogen, den Kopf gesenkt. Dann sah ich sie den Blick heben und mich geistesabwesend anstarren. Ich sah den Schatten auf ihrer Wange, der bis zum Morgen lila verfärbt sein würde.
Hätte ich nur meine Graflex hervorholen, die Objektivkappe abnehmen und ein Foto machen können, dann hätte es einen Beweis gegeben. Aber ich konnte nicht. Ich liebte sie so sehr, dass ich es nicht über mich brachte, ihren Schmerz festzuhalten. Die Geschichte war jedoch auf jedem meiner späteren Fotos, sowohl jenen, die bekannt wurden und in Erinnerung blieben, als auch jenen, die nie veröffentlicht, die zerstört oder vergessen wurden. Besonders auf denen. Es ist ein Bild, das sich nie verändert oder verblasst, auch wenn nur ich von ihm weiß.
Will man ein wahrhaft gutes Bild von etwas machen, dann muss man es wirklich sehen, nicht nur anschauen. Ich habe einmal gesagt, dass eine Kamera dabei ein guter Lehrmeister ist, aber manchmal steht sie einem auch im Weg. Das begriff ich in jener Nacht. Nach so vielen Jahren versetzt mich das Bild augenblicklich zurück nach San Francisco, in ein Fotoatelier in der Sutter Street 540, in eine verwüstete Dunkelkammer, in der eine Geschichte endete und eine andere begann.
Die erste und wichtigste Lektion nach meiner Ankunft in San Francisco war die, wie es sich anfühlt, wenn man allein ist und keinen Penny besitzt, wenn die einzigen Verbindungen zur Welt Angst, Hunger und Mangel sind. Damals fing alles für mich an.
Im Frühling 1918 brach ich auf. Ich war fast dreiundzwanzig, neugierig und ungeduldig und hatte mir gerade den Bubikopf schneiden lassen. Tausend Ideen gingen mir durch den Kopf, wer, was und wo ich sein wollte. Zwei Jahre lang hatte ich mir jeden Penny vom Mund abgespart, und so steckten jetzt einhundertzweiundvierzig Dollar in meiner Börse. Zwei Jahre, die ich in selbst genähten Kleidern und mit geborgten Büchern und Makrelenresten oder Dosenbohnen auf trockenem Schwarzbrot im Henkelmann verbracht hatte, aber ich hatte es geschafft. Das war mein letzter Winter an der Ostküste. Nichts konnte mich dort noch halten.
Von New Jersey aus fuhr ich in fünf Tagen in einer Dritte-Klasse-Koje auf einem Dampfschiff nach New Orleans. Von dort nahm ich den Zug, der mich in zwölf Tagen quer durchs Land brachte. Eigentlich hatte ich vorgehabt, mit dem Geld nach Paris zu gehen, aber der nicht enden wollende Krieg durchkreuzte meine Pläne. Also nahm ich mir vor, einige Wochen in San Francisco zu verbringen und von dort nach Süden aufzubrechen, nach Mexiko. Weiter hatte ich nicht überlegt. Ich würde einfach so lange reisen, bis mir das Geld ausging, und dann würde mir schon etwas einfallen.
Meine Kamera steckte in ihrer Tasche, die an meiner Hüfte baumelte. Viel mehr besaß ich nicht, jedenfalls nichts, an dem ich hing. Auf meinem Schoß lag ein abgewetzter Lederkoffer, den ich vor meiner Abreise in einem Trödelladen erstanden hatte. Darin befanden sich ein halbes Dutzend unbelichteter Filmrollen, ein Stift und ein Skizzenbuch, Kleider zum Wechseln für ein paar Tage, ein Waschbeutel und ein gebrauchtes Exemplar von Edna St. Vincent Millays Renascene.
Der Zug war überfüllt und laut, das fürchterliche Essen viel zu teuer. Nach der langen Reise war ich übermüdet und hungrig und steif von dem Versuch, aufrecht auf meinem Platz zu schlafen, dazu war mein schlimmes Bein völlig verkrampft. In dem Moment jedoch, in dem der Schaffner durch den Wagen ging und rief: »Oakland Station! Nächster Halt Oakland Station!«, sprang ich auf, schloss den Gürtel um meinen Mantel und packte meinen Koffer.
Jemand schob ein Fenster auf und ein Windstoß fuhr durch das Abteil. Um mich herum wurde Gepäck zusammengerafft und herumgehoben, die Leute drängten sich auf eine Seite des Wagens und reckten den Hals, um einen Blick nach draußen zu erhaschen.
Zuerst konnte ich nichts sehen. Ich zwängte mich zum Fenster durch und stellte mich auf Zehenspitzen. Die vom Licht der tief stehenden Sonne beschienene, prachtvoll leuchtende Bucht tauchte vor mir auf. Mit zusammengekniffenen Augen konnte ich Schleppboote und Fischkutter erkennen und dahinter die Skyline einer sonnenvergoldeten Stadt, die sich an den Rand der Erde klammerte.
San Francisco, Jewel City. Das Paris des Westens. Ein Ort, wo alles – buchstäblich alles – passieren konnte und vielleicht in genau diesem Moment passierte. Ein Ort, in dem man sich, wenn man das Wagnis einging, verlieren konnte.
Hier war Frisco. Hier war ich.
Ich war in der Nähe des Wassers, nicht weit von den Werften in Hoboken aufgewachsen, aber dieser erste Blick auf San Francisco im Mai 1918 traf mich völlig unvorbereitet. Bis zu diesem Moment wusste ich nicht, dass das, worin eine Stadt eingebettet war – der Himmel, das Land, das Meer –, sie so klein aussehen lassen konnte. Doch wenn San Francisco auch kleiner war, als ich es mir vorgestellt hatte, war es dank seiner Lage an der Bucht und der dunkelgrünen Hügel ringsum wunderschön, wie verzaubert. Aber nicht nur das. Wie anfangs auch Manhattan war es mir fremd. Niemand kannte mich hier, und das bedeutete, ich konnte sein, wer ich wollte.
Langsam verschwand die Aussicht hinter Fabriken und Schindelhäuserreihen, und ich klappte die Kameratasche auf und betrachtete versonnen meine Graflex, das glänzende Metall, die polierte Linse. Arnold Genthe hatte sie mir, ein paar Monate nachdem ich bei ihm angefangen hatte, überreicht. Es war meine erste eigene Kamera und das bei Weitem schönste Geschenk, das ich jemals erhalten hatte. »Sie haben ein gutes Auge, Dorothea«, hatte er zu mir gesagt. Ich musste immer lächeln, wenn ich an diesen Tag dachte. An das Leuchten in Genthes Augen, als er mir die Kamera entgegenhielt. An den Moment, als ich sie nahm, ihr Gewicht in meinen Händen spürte und begriff, dass sie von nun an mir gehörte.
Ruckelnd und schaukelnd blieb der Zug stehen. Halb geschoben von den anderen Aussteigenden quetschte ich mich durch den Gang und trat auf den Bahnsteig. So schnell es mein Bein zuließ, hinkte ich durch den Bahnhof, und schon stand ich auf der Straße und ging Richtung Hafen. Der Koffer schlug gegen meinen Oberschenkel und mein Herz klopfte in meiner Brust. Ich trug einen knöchellangen Hosenrock, einen eng gegürteten hellbraunen Mackintosh und hoch geknöpfte braune Stiefel. Die Stiefel hätten dringend geputzt werden müssen, aber das musste warten, ich hatte es eilig, die nächste Fähre nach San Francisco zu erreichen.
Die Überfahrt verging viel zu schnell. Eben noch schaukelte die Fähre sanft dahin, dann glitt sie schon an den Anleger und rumpelte unsanft gegen die Pfosten, sodass die Passagiere ins Stolpern gerieten und gegeneinanderstießen. Ich knickte um und wäre beinahe gefallen, aber eine Hand umfasste meine Taille mit warmem, festem Griff.
»Vorsicht, Miss«, erklang hinter mir eine Stimme.
Ich drehte mich um. Der Mann, der dort stand, war attraktiv und gut gekleidet. Er trug einen Dreiteiler und eine karierte Schleife, hatte blaue Augen und seine blonden Haare waren mit Brillantine zurückgekämmt. Ich merkte, dass ich ihn anstarrte. Damals sah man nur selten junge Männer, noch viel seltener welche in Zivil. Aus irgendeinem Grund war er nicht zum Kriegsdienst eingezogen worden – zumindest noch nicht.
Es dauerte einen Moment, aber dann hatte ich mich wieder gefasst, straffte die Schultern und reckte das Kinn. Auf meinen Dank hin zwinkerte der Mann mir zu und schenkte mir das breiteste Lächeln der Welt.
Kalifornien, hier bin...




