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E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Davies Nervöse Zeiten

Wie Emotionen Argumente ablösen

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

ISBN: 978-3-492-99360-9
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Wir befinden uns in einer neuen politischen Ära, die viele ratlos zurücklässt: Wo bisher Zahlen, Daten und Expertisen Grundlage politischer Entscheidungen waren, sind nun Emotionen Trumpf. Ob Donald Trump in den USA, der Front National in Frankreich oder die AfD in Deutschland – überall greifen Populisten die Ängste der Menschen auf und sind mit ihren gefährlichen Ideologien auf Erfolgskurs. Doch wie konnte es dazu kommen, dass statt objektiver Größen wie Arbeitslosenzahlen oder Wirtschaftswachstum plötzlich Wut und Angst über unsere Zukunft entscheiden? William Davies erklärt unter Einbeziehung ökonomischer, philosophischer und politischer Theorien, wie es zum »Niedergang der Vernunft« und dem »Siegeszug der Gefühle« kommen konnte.
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EinführungTeil eins: Der Niedergang der Vernunft1. Demokratie der Gefühle2. Wissen für den Frieden3. Fragwürdiger Fortschritt4. Der politische KörperTeil zwei: Der Siegeszug der Gefühle5. Wissen für den Krieg6. Ratespiele7. Krieg der Worte8. Zwischen Krieg und FriedenDanksagungAnmerkungenRegister

Einführung

Teil eins: Der Niedergang der Vernunft
1. Demokratie der Gefühle
2. Wissen für den Frieden
3. Fragwürdiger Fortschritt
4. Der politische Körper

Teil zwei: Der Siegeszug der Gefühle
5. Wissen für den Krieg
6. Ratespiele
7. Krieg der Worte
8. Zwischen Krieg und Frieden

Danksagung
Anmerkungen
Register


1. Demokratie der Gefühle
Das neue Zeitalter der Massen
Donald J. Trumps Präsidentschaft begann mit dem Streit um eine Zahl: die der Menschen, die an seiner Amtseinführung teilgenommen hatten. Am fraglichen Abend veröffentlichte die New York Times eine Schätzung, wonach die Menge nur ein Drittel so groß gewesen sei wie 2009 bei Obamas Festakt, die manche auf 1,8 Millionen Menschen veranschlagt hatten. Luftaufnahmen der Menge von 2017 schienen dies zu bestätigen: Sie zeigten auf der National Mall deutlich größere menschenleere Areale als damals. Zu diesem Anlass hielt Sean Spicer, der damalige Pressesprecher des Weißen Hauses, die erste von zahlreichen weiteren außerordentlichen Pressekonferenzen ab, in der er den Medien vorwarf, sie versuchten, die »gewaltige Unterstützung kleinzureden«, die Trump hinter sich geschart hatte. Tatsächlich sei die Menge »das größte Publikum gewesen, das jemals einer Amtseinführung beigewohnt hat. Punkt.« Am selben Tag informierte Trump die Teilnehmer einer Sitzung im CIA-Hauptquartier, dass die Menge zwischen 1 und 1,5 Millionen Menschen umfasst habe. Auf Spicer prasselte aus verschiedenen Ecken von Presse und sozialen Medien Spott hernieder, nicht zuletzt, weil er in der Manier des plumpen Propagandisten, der die Parteilinie herunterbetet, keine Fragen des Pressekorps zugelassen hatte. Als Reaktion versteifte sich das Weiße Haus allerdings nur auf seine Linie mit so manchen verblüffend neuen philosophischen Rechtfertigungen. Trumps Beraterin Kellyanne Conway leugnete entschieden, dass Spicer gelogen habe. Er habe nur »alternative Fakten« zu denen geäußert, an die die Journalisten glaubten. Auf einer weiteren Pressekonferenz am nächsten Tag sagte Spicer: »Manchmal können wir den Fakten nicht zustimmen.« Binnen 72 Stunden nach Trumps Amtseid war deutlich geworden, dass das Weiße Haus Grundkriterien für Wahrheit außer Kraft gesetzt hatte. Der Schlagabtausch mit den Medien gab Trump offenbar Auftrieb und erneute Gelegenheit, die moralischen und emotionalen Schachzüge einzusetzen, die sich im Verlauf seines Wahlkampfs als so effizient erwiesen hatten. Er erblickte in den offenkundig sachlichen Feststellungen der Medien zur Größe der Menschenmengen Ungerechtigkeit, Elitismus und Verfolgung. »Sie würdigen mich auf unfaire Weise herab«, beschwerte er sich Tage später bei einem Interviewer von ABC News und führte ihn zu einer Fotografie an der Wand, die die gewaltige Größe der Massen bei der Amtseinführung angeblich aus einem besseren Blickwinkel zeigte. »Ich nenne es ein Meer der Liebe«, sagte er und deutete auf das Foto. »Diese Leute sind aus allen Teilen des Landes – vielleicht der Welt – angereist, schwierig für sie herzukommen. Und sie liebten, was ich zu sagen hatte.« Für Trump drehte sich der Streit nicht mehr um »Fakten«. Es war eine Auseinandersetzung zwischen zwei Emotionen: dem arroganten Spott seiner Kritiker und der Liebe seiner Unterstützer. Zumindest darin hatte er recht. Zu den Menschenmengen bei Amtseinführungen von Präsidenten gibt es keine offiziellen Daten. Der National Park Service veröffentlicht keine eigenen Schätzungen mehr, seitdem er 1995 in eine Kontroverse über die Größenordnung des »Million Man March« geraten war, zu dem afroamerikanische Männer nach Washington angereist waren. Die Behörde hatte die Teilnehmerzahl damals auf 400 000 geschätzt, was (aus offensichtlichen Gründen) den Erfolg der Kundgebung etwas in Zweifel gezogen hatte. Wegen der politischen Brisanz, die solche Themen umgibt, beteiligte sie sich anschließend nicht mehr an solchen Hochrechnungen. Auch ohne Politik sind Größen von Menschenmengen Gegenstand völlig unterschiedlicher Schätzungen: Die angegebenen Zahlen zur Menge, die zur Hochzeit von Prinz William und Kate 2011 in London zusammenströmte, schwankten zwischen 500 000 und über einer Million Menschen. Aufnahmen von Satelliten und Ballons mit angepasster Technik, die einst zum Ausspionieren des sowjetischen Waffenarsenals entwickelt worden war, lieferten stets die zuverlässigsten Angaben, haben aber Defizite. Satellitenbilder sind ungenau, wenn Wolken im Weg sind oder die Schatten von Menschen oder die Farbe des Untergrunds über die tatsächliche Dichte der Menge hinwegtäuschen. Als eines ihrer entscheidenden Merkmale erscheinen Menschenansammlungen je nachdem, von wo aus man sie sieht, in Größe und Dichte radikal unterschiedlich. Zweifellos hat Trump tatsächlich eine dicht gedrängte Menge erblickt, die bis weit in die Ferne reichte, als er am fraglichen Tag vor dem Kapitol als frisch vereidigter US-Präsident seine Ansprache hielt. So hat es wohl ausgesehen. Vielleicht dachte er, dass ihm die Journalisten zustimmen würden, hätten sie nur seinen Blickwinkel gehabt. Auch wenn Organisatoren von Märschen und Protestveranstaltungen aus strategischen Gründen dazu neigen, Teilnehmerzahlen überhöht anzugeben, erscheinen Menschenmengen (auch dem Gefühl nach) den Beteiligten immer deutlich größer als Außenstehenden. Es mag eine Art optische Täuschung sein, hinter der nicht unbedingt Unehrlichkeit geargwöhnt werden muss. Mit der Verbreitung von Smartphones im städtischen Raum werden zusätzliche Daten verfügbar, anhand derer sich die augenblicklichen Bewegungen von Massen einschätzen lassen. Aber solche Einschätzungen sind nicht exakt dasselbe, als mit einer abschließenden Zahl aufzuwarten. Man kann die Anzahl der Mobiltelefonsignale an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit ermitteln oder städtische Infrastruktur (wie Straßenlaternen) mit intelligenten Sensoren ausstatten, gewinnt dann aber nur Datensätze, die von Natur aus fließend sind. Auch wenn sich aus diesen die Wellen an Aktivitäten und Bewegungen gut herauslesen lassen – wozu solche Konzepte der »Smart City« üblicherweise auch dienen sollen –, sind Menschenansammlungen naturgemäß noch immer schwer objektiv erfassbar. So absurd Trumps, Spicers und Conways Äußerungen auch geklungen haben, durchaus aufschlussreich ist, dass sich der Streit um die Amtseinführung gerade an diesem Detail entzündete: an einer Frage von großer emotionaler Bedeutung, bei der aber Experten relativ machtlos sind, um Differenzen auszuräumen. Menschenmengen widersetzen sich nicht nur wissenschaftlichen Beobachtungs- und Messtechniken. Zu viele Stimmen wenden sich dagegen, Massen auf diese Art zu bestimmen, auch die Organisatoren, Redner und Teilnehmer großer Kundgebungen wollen das nicht. Eine neutrale, objektive Perspektive ist daher schwierig zu erreichen und zu vertreten. Öffentliche Versammlungen sind so alt wie die Politik, haben aber seit der globalen Finanzkrise von 2007 bis 2009 insbesondere im linken Spektrum ganz neue Bedeutung erlangt. Die Occupy-Bewegung, die sich 2011 aus Protest gegen die Banken formierte, erkor die öffentliche Versammlung zu ihrem politischen Hauptzweck, griff zur nüchternen Sprache der Statistik und machte mit dem berühmten identitätsstiftenden Slogan »Wir sind die 99 Prozent« mobil. Linke Führer wie Alexis Tsipras in Griechenland, Pablo Iglesias in Spanien und Jeremy Corbyn in Großbritannien setzten politisch wieder verstärkt auf die Fähigkeit, Menschenmassen auf öffentlichen Plätzen zusammenzuscharen. Auch hier ruft die Größe von Versammlungen bei Unterstützern wie Gegnern eine Reihe emotionaler Reaktionen hervor: Übertreibung, Spott, Mitleid, Desinformation, Hoffnung und Ressentiments. Corbyns Unterstützer beschwerten sich häufig darüber, dass die etablierten Medien über seine Veranstaltungen trotz deren augenscheinlich gewaltiger Größe nicht in angemessener Breite berichteten. Aber noch einmal: Nach welchem Maßstab lässt sich die Bedeutung einer Menschenmenge einschätzen? Wie groß muss eine Versammlung sein, damit sie als berichtenswert gilt? Auf Twitter kursierende Fotos, die angeblich eine bestimmte Kundgebung zeigen, während sie tatsächlich von einer anderen (gewöhnlich deutlich größeren) stammen, verdichten den Nebel, der die Politik der Massen umgibt. Dann folgt der Spott der Gegner, die Massenkundgebungen als politisch bedeutungslos abtun – mit dem Hinweis auf die Gegensätze zwischen dem Erfolg auf der Straße und dem an der Wahlurne. Andererseits zeigten Analysen von Corbyns unerwartet gutem Abschneiden bei den britischen Parlamentswahlen 2017, dass sich seine Massenveranstaltungen im Nahbereich auf das Wahlverhalten durchaus positiv ausgewirkt hatten.[1] Aber wer kann schon sagen, wodurch und warum? Eine Ahnung, dass wir in ein neues Zeitalter der Massen eingetreten sind, vermitteln drastisch die Weiterverbreitung und der zunehmende Einfluss der sozialen Medien. Seit dem 18. Jahrhundert betrieben Zeitungs- und Buchverlage eine »One-to-many-Kommunikation«, in der sie bestimmte Zuhörerschaften und Leserkreise mit Informationen versorgten. Die Empfänger blieben weitgehend passiv und zeigten einigermaßen absehbare Reaktionen. Seit Anfang der 2000er-Jahre haben die sozialen Medien dieses System durch eine »Many-to-many-Kommunikation« ersetzt (und in gewisser Weise vereinnahmt), in der sich Information weitaus erratischer wie ein Virus in einem Netzwerk ausbreitet. Manche Ideen oder Bilder können sich scheinbar aus eigenem Antrieb verbreiten, die Experten überrumpeln und dabei außergewöhnliche Wählerbewegungen auslösen. Neue Methoden von Marketing und Informationsübermittlung tauchten auf, um die Prozesse der Verbreitung und Nachahmung von Inhalten auszutesten und zu beeinflussen. Massen spielten seit der Antike in der Politik eine Rolle, besaßen aber bis zum 21. Jahrhundert nie entsprechende Werkzeuge, um sich in Echtzeit selbst zu...


Davies, William
Dr. William Davies lehrt am Goldsmiths College der University of London politische Wirtschaftswissenschaften. Seinen Forschungsschwerpunkt bildet die Ideengeschichte, vor allem im Bereich der Ökonomie, unddie Frage, wie wir mit ihrer Hilfe die Gegenwart besser verstehen können. Er schreibt zudem für internationale Zeitungen und Magazine, darunter The Guardian und die New York Times.

Dr. William Davies lehrt am Goldsmiths College der University of London politische Wirtschaftswissenschaften. Seinen Forschungsschwerpunkt bildet die Ideengeschichte, vor allem im Bereich der Ökonomie, und die Frage, wie wir mit ihrer Hilfe die Gegenwart besser verstehen können. Er schreibt zudem für internationale Zeitungen und Magazine, darunter The Guardian und die New York Times.


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