E-Book, Deutsch, 384 Seiten
de Moor Mélodie d'amour
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-446-24572-3
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-446-24572-3
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Margriet de Moor gehört zu den bedeutendsten niederländischen Autoren der Gegenwart. Sie studierte Klavier und Gesang, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. Bereits ihr erster Roman Erst grau dann weiß dann blau (Hanser, 1993) wurde ein sensationeller Erfolg. Heute sind ihre Romane und Erzählungen in alle Weltsprachen übersetzt. Ihr Werk erscheint im Hanser Verlag, zuletzt Die Verabredung (Roman, 2000), Der Jongleur (Ein Divertimento, 2008), Der Maler und das Mädchen (Roman, 2011), Mélodie d'amour (Roman, 2014), Schlaflose Nacht (2016) und Von Vögeln und Menschen (Roman, 2018). Margriet de Moor lebt in Amsterdam.
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1
Er ist mit dem Fahrrad gekommen. Es regnet nicht mehr, von irgendwo scheint sogar ein wenig Mondlicht. Es ist genau fünf vor acht, als Gustaaf Doesburg beim letzten Häuserblock des Goudsesingel absteigt und sein Rad an einen Laternenpfahl schließt, gut so, jeder vernünftige Mensch tut das, obgleich er bestimmt schon das Gefühl hatte, auf dem Weg zu einer irrsinnigen Szene zu sein. Fünfzig Meter weiter gab es damals noch ein kleines Stück Innenstadt, das nicht nur die Bomben überlebt hatte, sondern auch die Bauwut der ersten Nachkriegsjahrzehnte. Es ist Dienstag, der zehnte November 1970. Nichts in diesem Viertel war abgebrannt, eingestürzt oder auch nur zugenagelt gewesen. In eines dieser renitenten Häuschen, deren Obergeschoss aus einem Spitzboden bestand, auf dem man gerade so eben stehen konnte – aber sie konnte damals schon nicht mehr stehen –, ist Atie nach der Scheidung eingezogen. Vorgestern ist sie gestorben. Gustaaf Doesburg legt das letzte Stück zu Fuß zurück, neugierig, entschlossen, bang, und biegt nach rechts in die Gasse ein, die zu den kleinen Höfen hinter den Häusern führt. Ausgerechnet Luuk, ihr Liebling, hat das Gebot der Mutter übertreten und dem Vater berichtet, dass es vorbei ist. Aus und vorbei.
Der heimliche Anruf hat ihn am Tag zuvor erreicht, als er allein zu Hause war, frisch geduscht und in Schlappen nach der Arbeit. Es traf ihn körperlich, wie ein Schlag in den Magen, aber er reagierte, noch bevor der Schlag verebbte, wie es seine Art war, drastisch.
Er sagte zu seinem Sohn, dass er sie noch einmal sehen wolle.
»Das geht nicht, Papa.«
Sie wussten es. Sie wussten es beide verdammt gut. Dennoch führten Gustaaf und Luuk diesen belanglosen kleinen Dialog, in dem eine ihnen bestens bekannte elende Tatsache noch einmal erwähnt und bestätigt wurde. Belanglos oder nicht, dieser Dialog ist Teil ihrer Familiengeschichte, des Schicksals von Atie und Gustaaf Doesburg-Maas und ihrer Söhne Kaspar, Wijnand, Jan und Luuk. (Dass die vier Brüder auch noch eine Halbschwester haben, Dittie, ist eine Geschichte für sich.)
Atie gestorben ... war das die Möglichkeit?
Gustaaf, den Hörer am Ohr, hatte sich zum triefenden Garten gewandt, während ihm alles mögliche durch den Kopf ging, Farben, Geräusche, Bilder, zum Beispiel die Art, wie sie lachte, mit weit zurückgelegtem Kopf, aber auch die Art, wie sie knurrte, wirklich wie ein Tier, wenn ihr etwas nicht passte. Währenddessen war ihm bewusst, woraus das leise atmende Rauschen am anderen Ende der Leitung bestand. Luuk, der wahrscheinlich aus dem Sterbehaus anruft, denkt an das unumstößliche Gesetz, das seine Mutter gleich bei ihrem Umzug erlassen und wie ein Gelöbnis ihren Söhnen verkündet hat. Der Junge sieht Aties blassgrüne Augen auf sich gerichtet, als sie kundtut, sie werde ihrem Mann, von jetzt an als ihr Ex zu bezeichnen, zeit ihres Lebens nicht gestatten, auch nur einen Fuß in ihre Wohnung zu setzen.
Aber – jetzt ist sie doch tot?
Auch dann nicht.
Das Nein der Mutter, in ihrem letzten Lebensabschnitt eines ihrer stärksten Attribute, hing noch durch und durch irdisch in der Luft. Die Söhne wussten das. Ihr Vater auch.
Dennoch murmelte Gustaaf: »Das geht schon.«
Es blieb still. Keine unmittelbare Reaktion von Luuk, der durchaus gedacht haben mag, hier werde ihm etwas Verachtenswürdiges vorgeschlagen. Denn Verrat, ja, der ist natürlich immer möglich.
Doch jetzt schnaufte Gustaaf verwirrt. »Wie ist es passiert?« fragte er mühsam, wobei er nichts von seiner Furcht verbarg.
»Am Morgen ging es ihr eigentlich kaum schlechter als ... als am Tag zuvor«, hatte Luuk begonnen.
»Ja ...?«
Zögern, Unbehaglichkeit. Es war unmöglich, das haben beide so empfunden, das hoffnungslose Gespräch abzubrechen. Aber: in welche Richtung sollte es gehen?
»Nein, kaum ...«
Gustaaf hat die Bestürzung im Gestammel des jungen Mannes gehört. Seine Unfähigkeit, auch nur ein wenig Ordnung in eine Fülle von Szenen, manche von hypnotischer Präzision, zu bringen, deren Zeuge er doch selbst gewesen ist und sogar in der ersten Reihe. (Sie hatte also am Morgen in ihrem Ledersessel gesessen und mit der Pflegerin und mit Kaspar gescherzt, der in jener Nacht turnusgemäß bei ihr gewesen war. Gegen Mittag, im Bett, bewegte sie sich nicht mehr, wollte kein Wort sagen, schien aber zu schauen. Der Arzt, mit dem sie schon seit Jahren eine Art übermütiger Kameradschaft verband, kam, beugte sich über die Kranke und sah nachdenklich auf. Luuk solle seine Brüder anrufen.)
»Es geschah fast unmerklich«, erfuhr Gustaaf. Und, nach einer mindestens halbminütigen Pause, was am Telefon eine Ewigkeit ist: »Währenddessen schaute sie die ganze Zeit, Papa, sie behielt dabei einfach die Augen offen ...«
Schlucken.
»... verdammt.«
Es ist sehr dunkel in der Gasse. Gustaaf Doesburg, der hier noch nie war, geht achtsam über die Klinkersteine. Mondlicht legt auf die Wände links und rechts einen gräulichen Überzug, als hätte man sie für einen Umbau abgedeckt. Ohne zu wissen, was ihn erwartet, befolgt er die Anweisungen, die sein jüngster Sohn ihm erteilt hat.
»Na schön, ich rede mit ihnen«, hatte der weich gewordene Luuk den Anruf beendet, auf einmal mit rührendem Eifer in der Stimme, und er meinte damit seine Brüder. Er zielte auf eine Lösung ab, von der er sich in diesem Moment noch nicht die leiseste Vorstellung machen konnte, mit der sie aber selbstverständlich alle vier einverstanden sein mussten.
Haben sie sich dafür in der Eckkneipe getroffen? Eine ingeniöse Lösung kriecht nicht von selbst unter einem Stein hervor. Wie viele Schnäpse oder Biere sind nötig, um sich einen Streich auszudenken, der 1) auf der Hand liegt und 2) zutiefst traurig ist? Oder haben sie sich den Dreh erst an Ort und Stelle einfallen lassen, im Vorderzimmer, das durch einen mit Schrankbrettern getäfelten Durchgang mit dem Schlafzimmer verbunden ist, in dem Atie, noch nicht eingesargt, lag? Gustaaf wurde zum zweiten Mal angerufen, als er mit Frau und Töchterchen am Frühstückstisch saß. Marina war ans Telefon gegangen. »Für dich.« Er legte hastig seine Brille neben die Zeitung.
Luuk: »Komm heute abend um acht, Papa.«
»Gut.«
»Warte auf dem kleinen Hof hinter dem Haus. Klopf einfach mit dem Ring an die Fensterscheibe des hinteren Zimmers, wenn du da bist.«
»Was ...? Wo denn genau ... auf dem Hof?«
»Ja, ja, auf dem Hof. Da kommst du ganz leicht hin durch die Gasse zwischen Haus Nummer sieben und Haus Nummer neun, es ist gleich der erste, links, du kannst dich nicht vertun, wir sorgen dafür, dass das Tor auf ist.«
Die Hände um die Teetasse, Schultern hochgezogen, wie gewöhnlich beim Frühstück, hat Marina, ohne auch nur die geringste Diskretion vorzutäuschen, das Telefongespräch ihres Mannes verfolgt. In den sieben Jahren, die sie und Gustaaf inzwischen verheiratet sind, ist das Verhältnis zwischen den vier Söhnen und der neuen Ehefrau ihres Vaters erstaunlich ungezwungen geblieben. Im vorigen Monat, als Kaspars Frau eiligst in die Lidwina-Klinik musste, um das zweite Kind zur Welt zu bringen, hat Marina nachts auf das zurückgelassene Kleinkind aufgepasst.
Die feuchte Gasse macht einen Bogen nach links. Wo genau muss er hin? Gustaaf sucht das Tor, das da irgendwo für ihn geöffnet worden sein muss, er sucht einzig und allein das Tor und nichts anderes, doch wie können sich manche Dinge doch einer Vorstellung aufdrängen, mit der sie nichts zu tun haben! Natürlich, es ist November, und dann sind Regen und Kälte zu erwarten, ja, es ist nach Sonnenuntergang, und dann ist es normalerweise dunkel und auch trübselig, wenn man in der entsprechenden Stimmung ist. Aber warum steht unter einem Vordach bei den Nachbarn von Nummer sieben, das heißt auf der rechten Seite der Gasse, ausgerechnet eine Schubkarre mit einem Berg Laub, und warum liegt, wie eine Art Ehrensalut, ein Männerhut obendrauf? Das Tor, eine Abtrennung aus dünnen Brettern, die mit einem Querbalken zusammengenagelt sind, gibt sofort nach, als er die Finger leicht dagegendrückt. Warum leckt die Regenrinne an ihrem Häuschen? Hätte die nicht jemand mal eben reparieren können? Warum schleicht zwischen den schwarzen Pflanzenstengeln hinter einem niedrigen Drahtgeflecht irgendein Tier, wahrscheinlich eine Katze? Gustaaf hat den kleinen Hof erreicht und sieht, majestätisch in dessen Mitte, einen Tisch, einen gediegenen Küchentisch aus naturbelassenem Kiefernholz. Warum steht das Ding da? Nicht angegriffen von der Witterung?
Er schaut nach links. Dies wird wohl das Fenster des hinteren Zimmers sein, wahrscheinlich ihr Schlafzimmer. Die Scheibe glänzt bläulich, zugezogene Vorhänge schirmen ein Licht ab, das irgendwo da drinnen brennt. Könnte eine Bettlampe sein. Er geht darauf zu, tickt mit dem Ring an das Glas und wartet. Stille, die wie jede Stille auch jetzt wieder prallvoll mit Wörtern ist. Verdammt noch mal, Atie, du Mistweib, wenn du mich hier sehen könntest, gebeugt, sehnsüchtig, heimlich an deinem Fenster ...
Vom Turm der Laurenskerk am Grotekerkplein hat es bereits vor ungefähr zehn Minuten achtmal geschlagen, als Gustaaf Doesburg, wieder durch das Tor hinausgegangen, unverwandt auf den Eingang der Gasse starrt. Silhouette eines Bettlers von kräftiger Statur, bekleidet mit einer bauschigen Jacke und Arbeitsschuhen, windzerzaustes Haar. Mit achtundfünfzig besitzt Doesburg nicht nur weiterhin sein gesamtes lockiges Haar, das Dunkelblond ist zudem kaum ergraut, lediglich etwas fahler geworden. Er reckt den Hals wie ein Hund, sieht nichts, hört aber...