E-Book, Deutsch, 104 Seiten
Reihe: MERKUR
Demand / Knörer MERKUR 5/2025, Jg.79
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-608-12440-8
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nr. 912, Heft 05, Mai 2025
E-Book, Deutsch, 104 Seiten
Reihe: MERKUR
ISBN: 978-3-608-12440-8
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010). Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein
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Weitere Infos & Material
ESSAY
Uwe Volkmann
Demokratischer Minimalismus.
Zur Kapitulation der Demokratietheorien vor der gegenwärtigen Lage
Ernest Mujkic
Anima migrante.
Versuch einer Philosophie des Flüchtlings
Timon Beyes
Soziale Farbe I.
Mocha Mousse, die Unordnung der Farbe und die Ordnung des Sozialen
KRITIK
Albrecht Koschorke
Postliberalismus und Elitentausch
Bernhard J. Dotzler
Vergleichende Sternbildkunde.
Zu Raoul Schrotts Himmelsatlas
MARGINALIEN
Felix Ackermann
Forschen in Gegenwart des Krieges
Jann Maatz
(V)Erträumte Rechtssubjekte
Eckhard Nordhofen
Ein christliches Tetragramm
Robin Detje
Eine Reise
Dominik Graf
Der westdeutsche Traum des populären Films.
Begegnungen mit Götz George
Anke Stelling
Schnelles Sterben
DOI 10.21706/mr-79-5-20
Ernest Mujkic
Anima migrante
Versuch einer Philosophie des Flüchtlings
Unsereiner muss Wiederaufbauarbeit leisten. Wir sind so viele. Mir ist das nicht klar gewesen. Wir sind, hört man hier, mehr als angefordert. Wir missbrauchen, hört man dort, unser Freiheitsrecht, auszuwandern, um zu bleiben, um zu wohnen. Wir sind, heißt es allerorts, illegal. Wir sind Flüchtlinge. Wir sind nicht Gäste, die, Geschäftstätigen oder Touristen gleich, in ein anderes Land aufbrechen. Wir wollen bleiben, wir wollen wohnen, wir wollen leben. Wir sind Flüchtlinge, weil die Welt, in der wir zur Welt gekommen sind, uns keine Heimstätte (mehr) bietet. Vielleicht nie eine solche geboten hat. Wir sind Flüchtlinge, weil wir, von politischen Machthabern und ihren Helfershelfern vor Ort zum Feind und Freiwild erklärt, um unser Leben fliehen müssen. Wir sind Flüchtlinge, weil wir, in unserem Herkunftsland um den Lohn unseres täglichen Werks betrogen, verarmt und hungernd, um unser Leben fliehen müssen. Wir sind Flüchtlinge, weil wir, unser Frucht- und Festland verloren, um unser Leben fliehen müssen. Wir sind Flüchtlinge, weil wir, die Aussichtslosigkeit des morgigen aus der Erbarmungslosigkeit des gestrigen Tages kennend, um unser Leben fliehen müssen. Wir sind Flüchtlinge – einerlei, ob unbegleitet und minderjährig, begleitet und erwachsen, gebildet oder ungebildet, gebrechlich oder gesund –, wir sind Flüchtlinge, weil »die Staaten«, die wir verlassen müssen, »ohne Ausnahme schlechte Staaten sind«,1 weil diese Staaten untergehend oder untergegangen sind, weil wir, in diesen lebend, schon Staatenlose sind. Und doch müssen wir, wollen wir den Regularien gehorchen, uns bekennen. Wir müssen einsehen, dass wir falsche Migranten sind. Wir müssen uns schuldig bekennen, durch unsere Flucht an der illegalen Einreise teilgenommen zu haben. Wir müssen uns schuldig bekennen, dem Flüchtlingsbegriff nicht zu genügen. Wir müssen uns schuldig bekennen, irreguläre Migranten zu sein. Wir sind Flüchtlinge. Und doch sind wir es nicht. Nicht mehr. Wir sind weniger.
In der Übereinkunft der Internationalen Migrationskonferenz in London im Jahr 1889 hieß es »We affirm the right of the individual to the fundamental liberty accorded to him by every civilized nation to come and go and to dispose of his person or his destinies as he pleases«,2 und das stand schon im Widerspruch zu der ab dem 17. Jahrhundert zunehmenden Verwendung des Flüchtlingsbegriffs zur Bezeichnung von infolge politischer und militärischer Gewalt verfolgten Personen.3 Diese Grundfreiheit ist seit dem Ersten Weltkrieg, aber insbesondere seit der millionenfachen Ermordung und Vertreibung von europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg, dadurch eingeschränkt worden, dass Flüchtlinge laut Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) lediglich über eine »Flüchtlingseigenschaft« verfügen, weil der Flüchtlingsstatus nur einer Person zuerkannt wird, die aus »begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als Staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will«.
Auch Michael Walzer, dessen Ausführungen über die Mitgliedschaftszugehörigkeit zu den meistdiskutierten migrationsethischen Annahmen gehören, hat in Übereinstimmung mit Artikel 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) – wonach »niemand […], der wegen eines nicht-politischen Verbrechens oder wegen Handlungen strafrechtlich verfolgt wird, die gegen die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen verstoßen«, für sich das »Recht« in Anspruch nehmen kann, »in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen« – eine Verteidigung des Status quo und damit auch die Grenzschließung gegenüber Migranten im Allgemeinen und Flüchtlingen im Besonderen begründet.4 Wogegen Peter Singer allerdings eingewandt hat, dass diese »zu eng« gefasste Definition »das Problem hinweg[definiert]«, weil dadurch die existenzielle Notlage lediglich auf politisch bedingte – zumal die Verfolger den Verfolgten keine Verfolgungsbescheide ausstellen –, nur selten anerkannte Fluchtgründe zurückgeführt wird und andere – etwa ökonomisch und ökologisch verursachte – existenzielle Notlagen als Fluchtgründe ausgeschlossen sind.5
Die Freiheit einer jeden Gemeinschaft, und damit auch einer sich zur freiheitlichen Grundordnung bekennenden Gesellschaft, selbst zu bestimmen, wie viele Mitglieder sie hat, wie sie ethnisch und im weiteren Sinn kulturell und politisch beschaffen sein will, erlaubt es Walzer zufolge, Migranten und Flüchtlingen die Aufnahme zu verweigern. Den Flüchtlingen als »Opfern politischer und religiöser Verfolgung«, so schränkt er ein, seien alle politischen Gemeinschaften zwar auf der Grundlage des Prinzips der »gegenseitigen Hilfe«, das er als einziges legitimes »externes Prinzip für die Vergabe von Mitgliedschaft« betrachtet, zur Aufnahme verpflichtet. Von dieser Pflicht ausgenommen sind jedoch seiner Ansicht nach Gesellschaften, die nicht für die Not der Flüchtlinge (mit)verantwortlich sind. Außerdem erachtet er es auch in dem Fall, dass »ihre Zahl wächst und wir genötigt sind, unter Opfern auszuwählen«, für moralisch gerechtfertigt, wenn aufnehmende Gemeinschaften sich nach ethnischen, kulturellen und politischen Zugehörigkeitsaspekten die richtigen Flüchtlinge aussuchen. Auch wenn Walzer es nicht ausdrücklich sagt, legt sein Resümee es letztlich nahe, dass Staaten, in welche die genannten Flüchtlinge zu fliehen versuchen, trotz des völker- und menschenrechtlich bindenden Verbots des Refoulement (also der Abschiebung von politisch Verfolgten in die Staaten, aus denen sie fliehen müssen) letztlich selbst bestimmen dürfen, wer überhaupt als Flüchtling zu betrachten ist und damit als aufnahmewürdig gilt.
Vor dem Hintergrund dieser die Begriffe der Gemeinschaft und Gesellschaft nur vage unterscheidenden Bestimmung des nationalen Gemeinschaftsrechts liberaldemokratischer Rechtsstaaten auf Selbstbestimmung und der zunächst expliziten begrifflichen Trennung zwischen Migranten und Flüchtlingen erscheint es auch laut David Miller folgerichtig, zu beachten, dass, weil es eines »internen Zusammenhangs zwischen den kulturellen und materiellen Aspekten der Gemeinschaft«, sozusagen »einer verbindenden öffentlichen Kultur« um des Überlebens einer Gemeinschaft willen bedarf, das nationalstaatliche Recht auf Wahrung der »kulturellen Kontinuität« beziehungsweise »kollektiven Identität« berechtigterweise über dem Recht des Flüchtlings auf die Bewegungsfreiheit steht, das ihm zufolge kein »mitgliedschaftsspezifisches Menschenrecht« und damit lediglich ein »Ersatzrecht« sei, welches das Verlassen eines Landes völkerrechtlich garantiert, das Einreisen, Bleiben und Wohnen in einem anderen Land dagegen nicht.6
Dieses Recht der Gemeinschaft auf die »Vereinigungsfreiheit« impliziert wiederum Christopher Heath Wellman zufolge, dass »wohlhabende Länder ihre Grenze« so wenig »für weniger vermögende Immigranten öffnen« müssen wie »wohlhabende Paare ihre Ehen für schlechter gestellte Personen«.7 Zwar würden, wie Julian Nida-Rümelin hervorhebt, »Individualrechte Grenzen« ziehen, deren Überschreitung normativ unzulässig sei, also Grenzen, die es verbieten, Migranten und Flüchtlinge Gesetzen zu unterwerfen, die sich auf deren Existenz schädigend auswirken.8 Jedoch ist dieser Argumentation zufolge auch das moralische Gebot zu beachten, dass es eine »Solidaritätspflicht« gegenüber...