E-Book, Deutsch, 104 Seiten
Reihe: MERKUR Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken
Demand MERKUR 3/2019
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-608-11162-0
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Nr. 838, Heft 3 / März 2019
E-Book, Deutsch, 104 Seiten
Reihe: MERKUR Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken
ISBN: 978-3-608-11162-0
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
In welchen Hinsichten es sich der im Auftrag Emmanuel Macrons erstellte Restitutionsbericht von Bénédicte Savoy und Felwine Sarr es sich zu einfach macht, legt Patrick Bahners Argument für Argument auseinander. Werner Krauß ist in wissenschaftlichem Auftrag als Ethnologe an der Nordsee unterwegs: Er beobachtet, wie mit dem Klimawandel vor Ort umgegangen wird – in seinen Beobachtungen erlebt man, wie der große Begriff durch Konkretisierung in viele Teile zerlegt wird. Emily Kern erklärt, warum die Geschichte vom Übergang der Menschheit vom Jäger- und Sammler-Dasein zur Sesshaftigkeit mit Ackerbau bei weitem nicht so simpel ist, wie sie lange erzählt worden ist.
Cornelia Koppetsch weist in ihrer Soziologiekolumne darauf hin, wie sehr ein auf Universalität zielendes Weltbürgertum seinerseits exkludierend agiert. Friedrich Balke setzt sich mit Hans Blumenbergs frühen Feuilletons – teils unter dem Namen Axel Colly erschienen – auseinander. Friedrich Lenger spart nicht mit Kritik an Werner Plumpes mit Kritik an der Kapitalismuskritik nicht sparender Kapitalismusgeschichte.
Günter Hack schreibt über allerlei Ungerechtigkeiten beim EU-Bürgerrecht. Wie weit ist die Gleichberechtigung in der Wissenschaft wirklich - fragt Hendrikje Schauer. Valentin Groebner befasst sich mit "kleinen Formen", aber um die Wissenschaft geht es auch. Claudia Basrawi ist auf den Spuren ihrer Kindheit in Beirut unterwegs. In Robin Detjes Schlusskolumne geht es um Bilderfluten im Internet vor oft unscharfem Hintergrund.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Ethnologie | Volkskunde Ethnologie Umwelt und Kultur, Kulturökologie
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Alte Geschichte & Archäologie Vor- und Frühgeschichte, prähistorische Archäologie
- Wirtschaftswissenschaften Wirtschaftswissenschaften Wirtschaftsgeschichte
- Sozialwissenschaften Medien- und Kommunikationswissenschaften Kommunikationswissenschaften Digitale Medien, Internet, Telekommunikation
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein Politische Studien zu einzelnen Ländern und Gebieten
- Rechtswissenschaften Internationales Recht und Europarecht Europarecht
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziologie Allgemein
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Wirtschaftsgeschichte
Weitere Infos & Material
Patrick Bahners: Französisches Ausleerungsgeschäft. Der "Bericht über die Restitution afrikanischen Kulturerbes"
Werner Krauß: Die Zukunft der Klimapolitik. Ein ethnologischer Bericht von der norddeutschen Küste
Emily Kern: Nutzen und Nutzlosigkeit der Agrarrevolution. Über moderne Legendenbildung
Cornelia Koppetsch: Soziologiekolumne. Weltbürgerlichkeit als repräsentative Kultur?
Friedrich Balke: Kopernikanische Revolution als Kulturkritik. Hans Blumenbergs frühe Feuilletons
Friedrich Lenger: Eine eurozentrische Geschichte des Kapitalismus. Gefangen in der Kritik der Kapitalismuskritik
Günter Hack: European Son
Hendrikje Schauer: Große Fußstapfen
Valentin Groebner: Akademische Größenverhältnisse: Ein Zettelkasten
Claudia Basrawi: Die blaue Stunde, trauriges, lebendiges Beirut
Robin Detje: Kokosraspeln und zarte Milchcreme
DOI 10.21706/mr-73-3-18 Werner Krauß Die Zukunft der Klimapolitik
Ein ethnologischer Bericht von der norddeutschen Küste Von der Französischen Revolution ging an alle Gemeinden, Dörfer und Städte in Frankreich ein Fragebogen, in den sie eintragen konnten, unter welchen Bedingungen sie lebten, welche Steuern sie zu zahlen hatten und was sie dringend brauchten. Die Liste der Beschwerden war lang und eindrücklich, schließlich litt man unter der Willkür des Adels, es gab Hunger, und die Infrastrukturen ließen zu wünschen übrig. Aus diesen Beschwerdeheften entstand eine vollständige und buchstäblich zu verstehende Geo-Grafie des Landes. Daran erinnert Bruno Latour in seinem Buch Das terrestrische Manifest aus aktuellem Anlass.1 Was würde heute in einem solchen Beschwerdeheft stehen, wenn danach gefragt würde, was es braucht, um ein gutes Leben zu führen? Ein gutes Leben im Sinne von klimafreundlich, erdverbunden und dennoch weltoffen? Gerade vor dem Hintergrund des Aufstiegs von Populismus und Trumps Ausstieg aus dem Klimavertrag von Paris gewinnt diese Frage an Relevanz. Weder Brexit, America First noch Heimattümelei sind eine gesunde Reaktion auf den Stress, den die globalen Probleme soziale Ungleichheit, Migration und Klimawandel verursachen. Auch die Europäische Union sorgt sich um die Folgen des Klimawandels und finanziert Projekte, um die Kommunikation zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu verbessern. Als Ethnologe bin ich in ihrem Auftrag in Norddeutschland unterwegs, um ein Anforderungsprofil für einen Klimaservice zu erstellen, der ortsbezogen Klimapolitik ermöglichen und unterstützen soll. Der Begriff »Klimaservice« klingt allerdings wie einem Textbuch für neoliberale Ökonomie entlehnt, wo »Dienstleistungen ausgelagert«, »Informationen transferiert«, »Entwicklungen ermöglicht« und »Win-win Situationen« für »Stakeholder« und »Entscheidungsträger geschaffen« werden – alles Begriffe, die auch im Weltklimabericht IPCC verwendet werden, wie man in Die große Verblendung, dem Buch des indischen Schriftstellers Amitav Gosh zum Klimawandel, nachlesen kann.2 Doch andererseits schreibt die EU nicht vor, mit welchen Inhalten dieses Konzept gefüllt und wie es in die Praxis umgesetzt werden soll. Für mich geht es zuallererst einmal darum, einen Lagebericht zu erstellen: Wie sieht Klimapolitik, die immer global verhandelt wird, vor Ort aus? Wie wird der Klimawandel wahrgenommen, und wie verändert er das Leben an der Küste? Was bedeutet es, ein Mensch zu sein, wenn wir das Leben und unsere Umwelt nicht mehr nach den Maßstäben des Kohle- und Ölzeitalters gestalten? Mit gebührend Forschungsmitteln ausgestattet, machte ich mich Anfang 2018 auf ins platte Land, um dort meine Erhebung zu beginnen. Die omnipräsenten Windparks lassen keinen Zweifel daran, dass in diesem Teil der Welt Klimapolitik und Energiewende längst in Gang gesetzt sind. Das Wetter meinte es gut mit mir, auch wenn das zynisch klingen mag. Der Winter war lang, nass und ewig dunkel. Die Felder und Äcker standen unter Wasser, die Bauern konnten den Dünger nicht ausbringen, weil sie mit ihren Traktoren im Matsch steckenblieben. Die winterlichen Sturmfluten kosteten gar das Leben eines Menschen, der jenseits des Deichs in seinem Auto eingeschlafen war. Weil es so warm war, klarte der Himmel wochenlang nicht auf. Das ist der Klimawandel, so die einhellige Meinung. Gefolgt wurde dieser Winter von einem scheinbar endlosen Sommer mit extremer Dürre, der von Mai bis weit in den Oktober dauerte. Die Felder und Weiden färbten sich braun, das Viehfutter wurde knapp, die Bauern mussten zukaufen oder gar Vieh vorzeitig zum Schlachthof bringen. Auch hier die einhellige Meinung: So sieht der Klimawandel aus. Doch das ist nur die eine Seite der Debatte über diese extremen Wetterereignisse, wie es im Klimadiskurs heißt. Die andere handelt von der europäischen Agrar- und Umweltpolitik, von Düngeverordnungen, von der Förderung industrieller Landwirtschaft, die mit ihren Monokulturen wetteranfälliger ist als die konventionelle oder organische Landwirtschaft. In der EU wird nach wie vor und trotz besseren Wissens die Fläche und weniger die Qualität gefördert. Allerdings wurden die routinemäßig von der Bauernlobby eingeforderten Kompensationen für Dürreausfälle in Berlin länger als sonst diskutiert. Die Stimmen mehren sich, den Klimawandel als Berufsrisiko einzustufen. Meine ethnologische Erhebung fing, wie so oft, mit einem Kulturschock an. Ich wohnte auf einem Bauernhof und fuhr mit dem Auto um den Jadebusen, vom Wangerland über Wilhelmshaven durch den Landkreis Friesland nach Butjadingen bis nach Fedderwardersiel, wo man hervorragend Fischbrötchen essen kann. Eine platte, menschenleere Landschaft, 52 Kilometer immer am Deich entlang, der in einem großen Schwung diese Bucht eindämmt, die letztlich nur dazu dient, Wilhelmshaven einen Tiefseehafen zu sichern. Der Historiker David Blackbourn nennt zu Recht den Jadebusen neben dem Oderbruch oder der Kanalisierung der Flüsse als Beispiel für »the making of Germany«: Nationenbildung durch die Eroberung der Natur, durch Dämme, Stauseen und Trockenlegung.3 Auf einer meiner ersten, noch ziellosen Fahrten durch Butjadingen fiel mir ein Schild mit der Aufschrift »Umweltstation Iffens« auf – ein Zeichen, ohne Zweifel. Ich bog ab und parkte auf dem gepflasterten Hof mit dem mächtigen alten Bauernhaus. Ich klopfte im Regen an die Holztür, und es öffnete ein freundlicher älterer Herr mit längeren grauen Haaren unter der Mütze und in wetterfester Kleidung. Wie durch eine magische Fügung schien ich hier mein Paradies gefunden zu haben: Die Umweltstation entpuppte sich als Forschungslabor, als Ausbildungsstätte für angehende Lehrlinge in der Region, als eine alteingesessene Wohngemeinschaft, als Kunstatelier und als Museum; in der Bibliothek auf dem Dachboden findet man viele Bücher zur Geschichte dieser Region. Ich zögerte nicht, mein Anliegen vorzubringen, gemeinsam mit Menschen aus der Region Grundlagen für einen Klimaservice zu entwerfen. Ich tat mich ein bisschen schwer zu erklären, was das genau ist, aber das würde sich schon noch geben. Umweltbewusste Menschen, citizen scientists und Künstler mit enger Bindung an die Region, das war es doch, was ich gesucht hatte. Nur leider blieb mein Gastgeber an diesem Punkt zurückhaltend. Ich verabredete ein Interview an einem anderen Tag und fand mich in Gesellschaft weiterer Kommunarden und zweier junger Frauen wieder, die hier ihr ökologisches Jahr ableisteten. Ich kam alsbald wieder auf mein Projekt zu sprechen. Wieder stieß ich auf Zurückhaltung, und ich beschloss, in die Offensive zu gehen. Macht ihr euch keine Sorgen wegen des Klimawandels? Habt ihr keine Angst vor den Folgen des Meeresspiegelanstiegs, hier, direkt hinter dem Deich? Die Antwort war ein eindeutiges Nein. Mehr noch, alle äußerten sich kritisch: Klimawandel sei ein Modebegriff und ähnlich unpräzise wie Nachhaltigkeit oder Waldsterben. Kein Zweifel, die Temperaturen würden ansteigen, und wer hinter dem Deich wohne, sorge sich natürlich um die Deichsicherheit. Aber Klimawandel sei inzwischen ein Konzept, das von allem und von nichts handele, aber nichts mehr mit den konkreten Gegebenheiten vor Ort, mit Gewässern, Tieren und Pflanzen zu tun habe. Ihr Ziel sei es, gemeinsam mit den Menschen, die diese extreme Landschaft bewohnen, eine lebenswerte Umwelt zu schaffen. Mein Gastgeber hatte sich meine Website angeschaut und meinte, ich würde darüber sicher eine schöne Arbeit schreiben, aber für sie sei das nichts. Mit wem sollten sie denn da was machen? Und sie erzählten mir als Gegenbeispiel von ihrem Apfelprojekt: Jeden Herbst bringen Leute aus der Region ihre Äpfel zu ihnen, wo sie dann gemeinsam gepresst und in Flaschen abgefüllt werden. Viele Leute haben noch alte Apfelbäume, die die EU-Standardisierung überlebt haben, und die Sorten werden benannt, Apfelfeste gefeiert und Apfelgedichte verfasst. Äpfel schaffen Community, bewahren Biodiversität, sie helfen, das Insektensterben zu verhindern, und sie schmecken nach Butjadingen. Klimawandel ist hingegen ein abstraktes Konzept, etwas für die Verwaltung und die Wissenschaft. Nach einem Salzwiesenspaziergang hinter dem Deich und einer Besichtigung der hauseigenen Mosterei machte ich mich beschämt davon. Ich hatte meine Lektion erhalten. Als Ausführender eines europäischen Projekts war ich selbst, aus dem Wunsch heraus, einen guten Job zu machen, zu einem technokratischen Vertreter einer Klimapolitik geworden, die ich gerade...