E-Book, Deutsch, 296 Seiten
Dessaul Ewige Schuld
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-98679-038-7
Verlag: MAXIMUM Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 296 Seiten
ISBN: 978-3-98679-038-7
Verlag: MAXIMUM Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zonenrandgebiet 1974 – ein düsteres Dorfgeheimnis, eine verhängnisvolle Liebschaft und die erste große Liebe
Eine tiefe Schuld, auch wenn wir sie nicht bewusst auf uns laden, verfolgt uns ein Leben lang. Wenn wir sie endlich tilgen wollen, machen wir es oft nur noch schlimmer. So ergeht es Fritz Tiedemann.
Fritz bewegt sich zwischen den Welten. Als Einziger aus seinem Dorf geht er aufs Gymnasium in Wolfenbüttel und macht sich damit selbst zum Außenseiter. Als er und seine Mitschülerin Freda sich kurz vor dem Abitur näherkommen, beginnt für ihn ein neues Leben.
Nicht zuletzt wegen Freda wühlt er tief in der Nazi-Vergangenheit seines Heimatdorfes und lüftet ein düsteres Geheimnis.
Als ihn dann Elke, die Verlobte seines besten Freundes Helmut, verführt, gerät Fritz in einen gefährlichen Strudel, aus dem es kein Entrinnen gibt …
Vor allem ahnt Fritz nicht, welche Tragödien er auslöst. Das ganze Ausmaß erschließt sich ihm erst mehr als vierzig Jahre später.
Ein großer Gesellschaftsroman um Vergangenheit, Vergeltung und Schuld – voller Tragik, Spannung und großen Emotionen!
Autoren/Hrsg.
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1. KAPITEL
Wer mag, darf über mich richten. Ich möchte jedoch zunächst alles erzählen. Danach akzeptiere ich jedes Urteil.
Meine Geschichte beginnt im Jahr 1974. Eine Zeit lang schwebte ich wie Reinhard Mey über den Wolken und genoss grenzenlose Freiheit. Das Lied, das mein Schicksal besser wiedergibt, ist aber ein anderes. Terry Jacks singt über einen jungen Mann, der sich nacheinander an seinen besten Freund, seinen Vater und seine Freundin wendet. Ein junger Mann, der Abschied nimmt. Endgültig.
Goodbye to you, my trusted Friend.
Das neue Jahr begann in Atze Hoiers Partykeller in Winnigstedt, einen Kilometer von der deutsch-deutschen Grenze entfernt und weltgeschichtlich so bedeutend, wie der Name der Tausendfünfhundertseelengemeinde es vermuten lässt. Die Leute in der Kreisstadt Wolfenbüttel verballhornten es gern als „Winzigstedt“, falls sie den Ort denn überhaupt kannten.
Immerhin erfreuten wir die westliche Welt mit einem Grenzübersichtspunkt. Die Besucher reisten von weit her an, um einen Blick aufs dunkle Deutschland zu werfen. Sie sahen einen rund um die Uhr mit Soldaten besetzten, viereckigen Wachturm aus Beton, Metallgitterzäune mit Selbstschussanlagen, einen Todesstreifen mit Landminen und in der Ferne ein verlorenes Nest jenseits der Sperrzone. Es hieß Veltheim und war für uns genauso unerreichbar wie Vietnam oder Vancouver.
Atzes Partykeller fügte sich in diese Tristesse ein. Alte, vollgeaschte, mit Rotwein-, Cola- und Wachsflecken gesprenkelte Teppichreste verdeckten halbherzig einen nackten Betonboden. An nachlässig verputzten Wänden sammelte sich neben Bravo-Starschnitten von Uschi Glas, Suzi Quatro, Mark Spitz und T-Rex das gleiche Sammelsurium an Flecken wie auf dem Teppich. Zwei zerschlissene Sofas waren um die sogenannte Tanzfläche gruppiert. Einzig die Theke erinnerte an einen Partykeller. Hier schenkte der Gastgeber Getränke aus und bediente nebenbei den Plattenspieler. Vor der Theke standen vier fadenscheinige Hocker, die wir weitgehend mieden.
Die Dorfjugend feierte seit knapp vier Jahren „unten bei Atze“ und, ganz ehrlich, es war uns egal, wie es aussah oder roch. Da alle qualmten, gern Alkohol verschütteten und jeder von uns mindestens einmal auf die Teppichflicken gereihert hatte, roch es sehr speziell.
Ich war achtzehn und Jungfrau. Diese Feier würde daran nichts ändern. Bei Atze tanzten fünf Pärchen und, mit mir, sechs männliche Singles ins neue Jahr hinein.
Eigentlich wäre ich lieber mit den Leuten von meiner Penne zusammen gewesen, der Großen Schule in Wolfenbüttel. Das hätte die Chance auf bessere Musik erhöht – und die auf Entjungferung. Rein theoretisch, da meine Mitschüler mit einigen ungebundenen Mädels feierten. In der Praxis hätte ich mich wie immer in die Falsche verguckt. Die Blonde mit der Zahnlücke, deren Freund gegen Mitternacht unvermittelt auftauchte. Die Rothaarige vom Gymnasium im Schloss, die hinter jemandem anders her war. Oder in die Brünette mit der frechen Brille, die gerade ihre letzte Beziehung aufarbeiten musste und sich nicht bereit fühlte für einen neuen Freund. Auch wenn er so süße dunkle Locken hatte wie ich, wie mir einige Male versichert worden war.
Dummerweise hatte ich es mir mit der wichtigsten Clique am Gymnasium verscherzt. Sie feierte ohne mich Silvester. Bei Lothar am Schiefen Berg, piekfeine Adresse in Wolfenbüttel. Ärzte, Anwälte, Firmenchefs, Professoren. Da passte ich Landei sowieso nicht hinein.
Okay, zwischenzeitlich hatte es funktioniert. Die Jungs hatten mir das Gefühl gegeben, dazuzugehören. Ich durfte in der Pause in ihrem Teil der Raucherecke abhängen. Ich fuhr mit ihnen ins Autokino und tanzte auf ihren Feten.
Jetzt war es vorbei. Das Asyl, das Lothar mir gewährt hatte, nachdem ich ihm in der elften Klasse bei einem Deutschreferat geholfen hatte, war abgelaufen. Es hatte damit angefangen, dass ich politisch geworden war und die falschen Witze erzählte. Witze über Barzel, über Strauß und andere führende Politiker von CDU und CSU. Lothar und seine Leute waren glühende Anhänger der CDU. Sie erzählten ihrerseits gemeine Witze über mein Idol Willy Brandt.
Ich lachte nicht über ihre Witze, sie nicht über meine. Ich versuchte, ihnen zu erklären, warum Brandt und Wehner genau die richtige Politik machten. Sie verdrehten die Augen, wechselten das Thema, ließen mich auflaufen. Sie verabredeten sich ohne mich. Kein Autokino, keine Feten, keine Treffen im Park. Auf ihre Raucherecke verzichtete ich von allein. Wir sprachen miteinander, aber sehr zurückhaltend, unterkühlt. Mein Ausflug in die Welt der Schönen und Reichen war beendet.
Jetzt blieben mir vom hundertfünfköpfigen Abiturjahrgang nur die anderen Außenseiter. Bis auf Detlev und Thomas interessierte mich keiner von ihnen. Beide feierten nicht Silvester. Also ließ ich mich von meinem besten Winnigstedter Kumpel mit zu Atze schleppen. Helmut Jordan, frischgebackener Malergeselle, und ich waren seit frühester Kindheit befreundet.
Dennoch beäugte ich ihn in diesem Moment, eine halbe Stunde vor Mitternacht, irritiert. Helmut und seine Freundin Elke interpretierten Bernd Clüvers Der Junge mit der Mundharmonika sehr eigenwillig. Irgendwo zwischen Stehblues und ungelenkem Tango. Die anderen Pärchen, die unter der niedrigen Decke schwoften, na ja, sie stahlen den beiden nicht gerade die Show. Der Alkohol forderte seinen Tribut, und gefeierte Tänzer hatte das Dorf noch nie hervorgebracht.
Nach ihrer Tanzeinlage gesellten sie sich zu mir an die Theke, wo ich an einer Cola mit reichlich Rum nippte. Helmut verwickelte mich in ein Gespräch, während Elkes Augen die Ferne absuchten. Mich sah sie praktisch nie an. Was schade war, denn Elke stach alle Blonden, Brünetten und Rothaarigen, die ich kannte, locker aus.
Helmut hatte entweder Laberwasser oder zu viel Cola-Rum getrunken. Nüchtern quetschte er meist nur das Nötigste zwischen den Zähnen hervor, jetzt analysierte er lang und breit die Lage seines Lieblingsvereins. Eintracht Braunschweig verbrachte ein unfreiwilliges Jahr in der Regionalliga. Und wie standen eigentlich die Chancen von Eintracht-Torhüter Bernd Franke, im Kader für die Fußball-WM zu landen?
Helmuts epischer Vortrag endete erst, als Atze Block Buster! auflegte und das Jahr 1973 für die meisten von uns auf der Tanzfläche endete. Laut und wild.
Ein paar Minuten später bevölkerten wir den Hof der Hoiers. Die Familie betrieb an der Ausfallstraße zum Nachbardorf Roklum eine Gärtnerei: drei Gewächshäuser und eine üppige Freilandfläche mitsamt Baumschule. Bei Hochzeiten, Beerdigungen, Konfirmationen oder runden Geburtstagen führte kein Weg vorbei an Hoiers Sträußen, Kränzen und Gestecken. Verständlich, dass das geflügelte Wort von „Hoiers florierenden Geschäften“ im Ort kursierte. Atzes Vater Anton war darüber hinaus unser Bürgermeister. Obwohl er der CDU angehörte, verstanden wir uns gut. Ich konnte mit ihm sogar über Politik diskutieren, ohne dass er mich gleich „nach drüben“ schicken wollte.
Die Nacht war trocken und mäßig kühl. Ich hatte meinen Parka übergezogen, drehte mir eine Zigarette und schaute den anderen zu, wie sie Böller warfen und Raketen in den Himmel feuerten. Es knallte und zischte, unten waberte der Qualm der Feuerwerkskörper, oben verzierten die Raketen den nächtlichen Himmel. Ab und zu ertönten Schreckensschreie, wenn ein Böller direkt neben einem Fuß explodierte.
In diesem Moment traten Atzes Eltern aus dem Haus. Sie feierten den Jahreswechsel zusammen mit Familie Wettenstedt, den größten Landwirten im Ort. Ein Treffen der oberen Zehntausend des Dorfes. Vater Hoier wankte direkt auf mich zu, im Schlepptau Jochen, ältester Sprössling der Wettenstedts, einundzwanzig Jahre alt und offenbar zu erwachsen für unseren Partykeller. Wenn er nicht auf dem Hof der Eltern arbeitete, fuhr er mit Anton Hoier – als dessen rechte Hand – durch die Gegend.
„Alles Gute zum neuen Jahr“, begrüßte Hoier mich. Er war um die fünfzig, knapp einen Meter fünfundsiebzig groß und stämmig. Wie sein Sohn Atze hatte er rotblondes, leicht gelocktes Haar. Er trug eine Trachtenjacke und paffte an einer Zigarre.
„Ihnen auch“, antwortete ich. Jochen ignorierte ich, da er mich ebenso wenig beachtete. Das tat er nie. Drei Jahre Altersunterschied plus ältester Sohn des größten Bauern im Dorf gegenüber dem Sohn eines einfachen Tischlers, das bedeutete eine Menge Distanz, beinahe einen Klassenunterschied, wie Detlev es genannt hätte.
„Was macht denn dein Willy so?“, fragte der Bürgermeister launig. Er hatte einige Bierchen und Schnäpse intus. Das verriet neben dem wackligen Gang die lallende Stimme.
„Er wagt mehr Demokratie“, nahm ich einen bekannten Slogan von Kanzler Brandt auf.
„Jetzt?“ Hoier grinste.
„Ich schätze, jetzt feiert er Silvester.“
„Der war gut!“ Hoier lachte lauthals und zog so Jochens Aufmerksamkeit auf uns. Der Bauernsohn musterte mich, während die nächsten Raketen in den Himmel zischten. Jochen war einen halben Kopf größer als ich und hatte hellbraune Haare mitsamt Seitenscheitel. Im Gegensatz zu Vater Hoier hatte er sich für den Abstecher nach draußen keine Jacke übergezogen. Er begnügte sich mit einem Rolli.
„Schöner Parka, Tiedemann.“ Er wackelte mit seinem rechten Zeigefinger grob in meine Richtung. Auch seine Stimme klang nach Bier und Korn. Bestimmt hatte er mit seinem Chef mithalten wollen.
„Danke.“ Alle Welt trug Parka. Keine Ahnung, warum Jochen unbedingt über meinen Anorak quatschen wollte.
„Und wo...