Detering Der Antichrist und der Gekreuzigte
3. Auflage 2011
ISBN: 978-3-8353-2087-1
Verlag: Wallstein Verlag
Format: PDF
Kopierschutz: 0 - No protection
Friedrich Nietzsches letzte Texte
E-Book, Deutsch, 232 Seiten
ISBN: 978-3-8353-2087-1
Verlag: Wallstein Verlag
Format: PDF
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Heinrich Detering, geb. 1959, ist nach Lehrtätigkeit an den Universitäten in Irvine, München und Kiel Professor für Neuere deutsche Literatur an der Georg-August-Universität Göttingen. 2003 erhielt er den »Preis der Kritik' von Hoffmann und Campe und 2009 wurde er mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet. Er ist u.a. Mitherausgeber der kommentierten Ausgabe der Werke, Briefe und Tagebücher von Thomas Mann und Autor eines Buchs über Bob Dylan.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1;Inhalt;6
2;I. Der tolle Mensch;8
3;II. Autor, Text, Figur;14
4;III. Der böseste aller Menschen;26
5;IV. Der Typus des Erlösers;39
6;V. … ein Gott jenseits von Gut und Böse;56
7;VI. Zeit und Ewigkeit;66
8;VII. Am Kreuz, im Paradies;72
9;VIII. Umwerthung;87
10;IX. Der verklärte Dionysos;99
11;X. Neunzehn Jahrhunderte Missverständnis;109
12;XI. Ecce homo;116
13;XII. Was Wahrheit ist;125
14;XIII. Wer ich bin;130
15;XIV. Kreuztragung;139
16;XV. … denn Gott ist auf der Erde;147
17;XVI. Wirklich ein Weltgericht;157
18;XVII. Eine große Erzählung;162
19;Epilog;167
20;Anmerkungen;171
21;Abbildungen;215
22;Siglen und Literatur;216
23;Register der Schriften Nietzsches;227
24;Personenregister;228
25;Dank;232
(S. 124-125)
Nun haben manche Interpreten dafür plädiert, den Titel Ecce homo als satirisch und geradezu als »Nietzsches Parodie auf das Christentum « zu lesen2 – insofern nämlich das Pilatus-Wort »Ecce homo« mit Nietzsches Ohren gleichsam als ironische Distanznahme gegenüber dem vermeintlichen Messias und Gottessohn zu hören sei, getragen also von derselben Skepsis, die zuvor schon dem Wahrheitsanspruch Jesu die Gegenfrage gestellt hatte, was denn Wahrheit sei.
Am pointiertesten hat das Kofman formuliert: »Ponce Pilate le Romain est l’ancêtre de Nietzsche: en posant la question sceptique, il rend possible et prépare la question généalogique.« Über die Distanz der Jahrhunderte hinweg bedeute der Buchtitel deshalb ein ironisch-komplizenhaftes Augenzwinkern gegenüber diesem Vorgänger: »Nietzsche, en intitulant son ›autoprésentation‹ Ecce homo, fait donc d’abord, par-delà les siècles, un clin d’œil ironique et complice à son ancêtre Ponce Pilate«; der Titel »souligne son scepticisme«.3
Wirklich hatte der Antichrist ja den Pilatus, wie wir sahen, lange vor der Neuerzählung der Golgatha-Geschichte mit dessen Wahrheitsfrage eingeführt; und in seiner Interpunktion war sie zum spöttischen Ausruf geworden: »Was ist Wahrheit!« Um dieses Wortes willen hatte er Pilatus ja geradezu als die einzige Figur »im ganzen neuen Testament« bezeichnet, »die man ehren muss«.
Dieser Pilatus des Antichrist hatte damit den Gegensatz von Wahrheit und Lüge grundsätzlich in Zweifel gezogen, ganz im Sinne von Nietzsches Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. Aus seiner Wahrheitsfrage, das hat der Antichrist ihm nachgerühmt, spreche der »vornehme Hohn eines Römers, vor dem ein unverschämter Missbrauch mit dem Wort ›Wahrheit‹ getrieben wird«.
Und doch muss man auch hier noch einmal genau nachlesen. Denn was geschieht da ›vor ihm‹, wer treibt den Missbrauch? Keineswegs der »heilige Idiot« Jesus. Den hat nach der Überzeugung eben desselben Antichrist doch »nicht der entfernteste Hauch von Wissenschaft, Geschmack, geistiger Zucht, Logik« angeweht; dessen Gleichnisrede konnte ein Anspruch auf »Wahrheit« überhaupt nur im Plural und in jener ironischen Absetzung vom platonisch- paulinischen Wahrheitsbegriff zugeschrieben werden, die auch hier durch die Anführungszeichen markiert ist: »dass er nur innere Realitäten als Realitäten, als ›Wahrheiten‹ nahm«.
Nicht dieser reine Tor, der außerhalb von Wahrheit und Lüge lebt, ist für den Antichrist das Gegenüber des spöttischen Pilatus gewesen, sondern der christianisierte Jesus des Dogmas und seiner ersten Formulierung im »neuen Testament« als dem Buch der frühen Kirche, das nur Wahrheit oder Lüge, Sünde oder Gnade, Strafe oder Lohn kennt.