E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Deville Viva
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-293-30990-6
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-293-30990-6
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Patrick Deville, geboren 1957, studierte Vergleichende Literaturwissenschaften und Philosophie in Nantes und arbeitete dort anfänglich als Dozent. Er lebte in den 1980er Jahren im Nahen Osten, in Nigeria und Algerien. In den 1990er Jahren besuchte er Kuba, Uruguay, Mittelamerikanische Staaten und Staaten des ehemaligen Ostblocks. Er gründete und leitet die »Maison des écrivains étrangers et des traducteurs« und deren Zeitschrift Meet. Seine Werke wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem als »bester Roman des Jahres« der Zeitschrift Lire, mit dem Fnac-Preis und dem Prix Femina.
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Von Tampico nach Mexiko-Stadt
Am Ende des Fallreeps, beim Verlassen der Ruth, eines norwegischen Tankers in Ballast, händigt man Trotzki die kleine automatische Pistole aus, die man ihm drei Wochen zuvor bei der Einschiffung abgenommen hatte. Der Verbannte, der einst eine der größten Armeen der Welt befehligt hat, steckt das, was ihm von seiner Feuerkraft übriggeblieben ist, in eine Tasche. Mit siebenundfünfzig Jahren ist er ein Mann im reifen Alter, das weiße Haar zerzaust, an seiner Seite seine grauhaarige Frau Natalja Iwanowna Sedowa. Sie sind blass, nach dem Halbdunkel der Schiffskabine blendet sie das Sonnenlicht. Auf einem Foto sieht man, wie Trotzki eine weiße, wenig martialisch aussehende Golfmütze aufsetzt. Einige Soldaten, ein General in Galauniform und eine junge Frau, die ihren schwarzen Zopf zu einem Dutt gedreht hat, empfangen sie auf dem Kai. Man begleitet sie zum Bahnhof von Tampico.
Zu viert sitzen sie dann im getäfelten Zugabteil. Vor ihnen General Beltrán in dunkler Uniform und mit strengem Gesicht sowie die junge Frau, die eine bunte, vorwiegend in Gelbtönen gehaltene indianische Bluse trägt. Ihre pechschwarzen Augenbrauen treffen sich über der Nasenwurzel wie die Flügel einer Amsel. Der Hidalgo ist der Privatzug des mexikanischen Präsidenten Lázaro Cárdenas. Der muralistische Maler Diego Rivera hat ihn überzeugt, dem Verbannten ein Einreisevisum auszustellen und ihm damit das Leben zu retten. Wir sind im Jahr 1937, also drei Jahre nach der Ermordung Sandinos durch Somozas Schergen in Managua. Die Nachricht war mit Verspätung nach Frankreich gelangt, nach Barbizon, wo Trotzki sich damals versteckt hielt. In Nicaragua herrscht Diktator Somoza, in Italien der Faschismus, in Deutschland der Nationalsozialismus und in Russland der Stalinismus. Spanien befindet sich im Bürgerkrieg, bald werden die Republikaner in die Flucht geschlagen, Franco obsiegt. Trotzki ist seit zehn Jahren ein Besiegter, der durch die Welt irrt. Die Lokomotive stößt eine Dampfwolke aus. Nun sitzt er also wieder in einem Zug. Doch zum ersten Mal in einem mexikanischen Zug.
Er kennt die Bilder von Pancho Villas Männern auf dem Dach eines Eisenbahnwaggons, wo sie mit Sombreros und Patronengürteln sitzen, die sich über der Brust kreuzen. Er kennt Mexiko in Aufruhr von John Reed, dem jungen Schriftsteller, der danach Zehn Tage, die die Welt erschütterten schrieb und die Russische Revolution pries. Er hat wieder die Züge vor Augen, in denen er, den Wechselfällen seines Exils folgend, kreuz und quer durch Europa gereist war. Und seinen durch den Schnee preschenden, gepanzerten Zug mit dem roten Stern, den er in seiner Zeit als Volkskommissar für das Kriegswesen hatte montieren lassen, als fünf Millionen Männer unter seinem Befehl standen, bevor er nur noch ein Verbannter auf der Flucht war, der jetzt vor der jungen Frau mit dem schwarzen, von Perlmuttkämmen und Bändern gebändigten Haar auf einer Bank sitzt, vor dem schönen bunten Vogel, der ihn vielleicht schon an Larissa Reissner und die Eroberung von Kasan, an den ersten Sieg der Roten Armee vor fast zwanzig Jahren erinnert.
Frida Kahlo fixiert die tiefblauen Augen des Verbannten hinter den runden Brillengläsern und lächelt ihm zu. Sie ist noch keine dreißig Jahre alt. Ihr Mann, Diego Rivera, ist weltberühmt, aber der Mann vor ihr ist noch berühmter. Er hat die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke gebrochen. Sie fahren den Río Pánuco entlang, dann die Lagunen vor der Stadt. Es geht nicht sehr schnell voran. Der Hidalgo hat nicht so viel Kraft wie der gepanzerte Zug, in dem er mehr als zwei Jahre gelebt, die Distanzen zwischen den Fronten von Moskau bis zur Krim überbrückt und die Weiße Armee unter Wrangel zurückgedrängt hat. Die unbekannte Landschaft wird zusehends trockener, je weiter sich die Gleise von der Küste entfernen, die Hochebenen erreichen und die tropischen Gefilde Tampicos sowie die wogende grüne See der Karibik hinter sich lassen. Draußen, je nachdem, durch was für ein Dorf sie kommen, staubige Straßen, Holzhäuser, kleine Gemischtwarenläden, Miszellaneen, ein Fluss, mit Waren beladene Boote, Rinderherden. Für einige Stunden sind sie eine geschlossene Gesellschaft in einem Zugabteil mit lackierter Holzvertäfelung, jeder ist in seine Gedanken versunken. Trotzki und Natalja Iwanowna sind in Norwegen knapp dem Tod entronnen. Sie befürchteten, man würde sie unterwegs über Bord werfen oder ihren Tod als Selbstmord tarnen. Sie haben keine Ahnung, was sie erwartet.
Wenn es ihm noch möglich wäre, anonym zu bleiben, würde Trotzki unerkannt zwischen Indianern und Peones an einem dieser kleinen Bahnhöfe aussteigen, die Tolstoi gefallen hätten. Er kennt das Leben der Bauern, den Heugeruch, das Knarren der Radnaben und den roten Horizont über der Ebene. Bücher lesen und Gemüse anbauen. Es hat ihn oft einige Anstrengung gekostet, sich von seinem Refugium auf dem Land und den Büchern loszureißen, um in die Stadt und die Stürme der Geschichte zurückzukehren. Nach der Revolution, ja, nach dem weltweiten Triumph der Revolution aus dem Zug aussteigen, lesen und schreiben, jagen und angeln, wie er es jedes Mal nach einer Niederlage gemacht hat. Die Jagdpartien in den Sümpfen um Alma-Ata während seines Exils in Kasachstan nach Stalins Sieg, dann die morgendlichen Angelausflüge mit dem Boot rund um die Insel Prinkipo, nachdem Stalin ihn nach Istanbul abgeschoben hatte.
Durch trockenes Gestrüpp klettert der Zug hinauf zu den Vulkanen, auf die Hochebenen, ein unwirtliches Land, bei dessen Anblick sein fünfzehn Jahre zuvor an Typhus verstorbener Vater, der alte Bronstein, ein Bauer in der ukrainischen Kornkammer, mit den Schultern gezuckt und in den Staub gespuckt hätte. Der in Gehöften aus Lehm und Stroh aufgewachsene Sohn ist viel zu brillant, um auf dem Bauernhof zu bleiben. Der herausragende Schüler, Bester in allen Fächern, lässt die Feldarbeit hinter sich und schlüpft durch das Nadelöhr der geringen Zahl von Studienzulassungen, die der Zar den jüdischen Studenten zugestanden hat. Lew Dawidowitsch Bronstein ist ein junger Verstandesmensch, der sich vor Leidenschaften hütet. Später würde er Schriftsteller sein, jetzt wirft er sich erst einmal auf die Wissenschaft, wird politisch aktiv auf den Werften von Odessa. Er verfasst Flugschriften, hält Reden vor Arbeitern im Alter seines Vaters, er entdeckt die Macht des Wortes und das Charisma, das ihm in die Wiege gelegt wurde, die Gabe, mit seinen Worten Einfluss auf das Denken der Werftarbeiter und das Alexandra Lwownas zu nehmen.
Er entdeckt auch das Gefängnisleben, und in seiner Zelle verfestigen sich auf Kosten des Zaren und seiner Kerkermeister seine Gedanken, er lernt Sprachen. Mit zwanzig wird er nach Sibirien deportiert, die Züge, die Wälder, die Hütten, die Lektüre, die Heirat in der Verbannung mit der schönen Alexandra Lwowna, die ihm in die Verbannung folgt, die beiden Töchter Nina und Sinaida. Er wird den Mut haben, sie zu verlassen mit der heroischen, jähen Entschlossenheit, der man im Leben von Heiligen und Propheten begegnet, allein zu fliehen, weil die Revolution ihm mit dem Furor des biblischen Gottes gebietet, Frau und Kinder zu verlassen. Es ist der Beginn der falschen Identitäten.
Lew Dawidowitsch Bronstein, den seine Freunde zu seinen Lebzeiten zuerst LD, später dann Den Alten nennen sollten, besitzt einen gefälschten Pass auf den Namen Trotzki, und mit diesem wird er in die Geschichte eingehen. Er versteckt sich in einem Pferdewagen, erreicht Irkutsk, steigt in die Transsibirische Eisenbahn. Im Laufe seiner Flucht kommt er nach Österreich, nach Zürich, Paris, wo er Natalja Iwanowna kennenlernt, die in Genf Botanik studiert. Jahrzehnte später sitzt sie neben ihm in diesem Zug, dem Hidalgo des Präsidenten Cárdenas, und schläft an seine Schulter gelehnt. Auch er döst vor sich hin, begegnet dem Blick General Beltráns und dem der geheimnisvollen Mexikanerin mit den schwarzen Augenbrauen, der Amsel auf der Stirn, den roten Lippen.
Der Zug wird immer langsamer, je steiler die Strecke ansteigt und er seine Waggons in die Höhe von zweitausend Metern nach Mexiko-Stadt zieht, je mehr der Januarhimmel aufklart und sich golden einfärbt, an dem die Zopilotes, die Rabengeier mit den weiten, schwarzen Schwingen kreisen. Nach drei Wochen auf See ist Trotzki ein wenig orientierungslos. So wie 1905, als der große rote Christus seine Flügel über Sankt Petersburg ausbreitet, Apostel und Märtyrer herbeiruft. Die Armen sterben im Januarschnee vor dem Winterpalast. Von allen, auf deren Kopf eine Belohnung ausgesetzt ist, gelingt es Trotzki als einzigem, in den ersten Tagen des Aufstands unter dem Namen Wikentjew, einem adligen Großgrundbesitzer, nach Russland zurückzukehren. Er hat das entsprechende Auftreten und Gebaren. Es herrscht der Belagerungszustand. Man stellt ihn an die Spitze des Sowjets, und sein Vorbild ist die Französische Revolution. Auf der Rednertribüne zitiert er Danton: »Organisation, Organisation, und nochmals Organisation!« Es endet schnell in einem Schlamassel, in Auflösung, Niederlage, Peter-und-Paul-Festung, zehnmonatiger Untersuchungshaft, dem Prozess, erneuter Verbannung, dem Zug nach Sibirien. In Sträflingskleidung auf dem Bahnsteig. Nur sein europäisches Schuhwerk hat ihm die zaristische Polizei gelassen, eine Stümperhaftigkeit, die sich rächen sollte – in den Hohlräumen der Absätze steckten wie in einem Roman von Dumas ein paar Tscherwonzen (Goldmünzen) und ein gefälschter Pass.
Die Verbannten erfahren, dass sie nach Obdorsk deportiert...




