E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Dexter Das Geheimnis von Zimmer 3
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-293-31030-8
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman. Ein Fall für Inspector Morse 7
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-293-31030-8
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Colin Dexter (1930-2017) studierte Klassische Altertumswissenschaft und war erst als Oberstufenlehrer und anschließend als Prüfer an der Oxford-Universität tätig. 1973 schrieb er Der letzte Bus nach Woodstock. Es folgten dreizehn weitere Fälle für Inspector Morse, die als Fernsehserie verfilmt wurden. Seine Werke wurden mehrfach ausgezeichnet, u. a. mehrmals mit dem CWA Gold Dagger. Für sein Lebenswerk wurde Dexter mit dem CWA Diamond Dagger und dem Order of the British Empire für Verdienste um die Literatur ausgezeichnet.
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3
Dezember
»Ich habe ein weiteres Jahr beendet«, sprach Gott,
»In Grau, Grün, Weiß und Braun;
Ich habe das Blatt auf den Rasen gestreut,
Den Wurm in der Erde versiegelt,
Und die letzte Sonne herabgelassen.«
Thomas Hardy, New Year’s Eve
Die von Bäumen gesäumte St. Giles’ Street weist sich an vier oder fünf Stellen mit schweren, gusseisernen Schildern aus (weiße Lettern auf schwarzem Grund), die in Lucy’s Gießerei im angrenzenden Stadtteil Jericho angefertigt worden sind. Der Apostroph am Ende des Namenszugs bedeutet vermutlich, dass Oxford glaubt, seinem Ruf als Gelehrtenstadt gerecht werden zu müssen, und es ist nur ein Glück, dass nicht auch noch die Autoritäten der Fakultät für Englisch ein Mitspracherecht haben, denn sie würden ganz sicher darauf bestehen, hyperkorrekt dem Apostroph noch ein weiteres »s« sowie einen zweiten Apostroph folgen zu lassen: St. Giles’s’ Street. Der Kreis derer, die mit dem Rat Fowlers bezüglich des Umgangs mit dem Genitiv vertraut sind, dürfte nicht allzu groß sein, und die Personen der nun folgenden Kapitel gehören ganz gewiss nicht dazu. Sie zählen, hält man sich an die gängige Oxforder Unterscheidung zwischen »Geist« und »Geld«, ganz eindeutig zur letzteren Kategorie.
Die St. Giles’ Street teilt sich an ihrem nördlichen Ende, dort, wo sich auf einem Rasendreieck ein Mahnmal zum Gedenken an die Toten der beiden Weltkriege erhebt, nach links in die Woodstock, nach rechts in die Banbury Road. Folgt er dieser (an der Inspector Morse seit vielen Jahren lebt), so wird dem Besucher nach einigen Hundert Metern eine Reihe von Häusern auffallen, die alle im selben Stil gehalten sind, einem Stil, den man mit einigem Recht als venezianische Gotik beschreiben darf. Über Fenstern und Türen wölben sich Spitzbögen, und die Fenster selbst sind durch zwei, manchmal auch drei schmale Säulen unterteilt.
Die Häuser sind in den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts entworfen worden, und Ruskins Einfluss ist so deutlich zu spüren, dass man meint, er hätte den Architekten während ihrer Arbeit über die Schulter geschaut. Dem Betrachter mögen sie mit ihren gelb-beigen Mauern und den purpurblauen Schieferdächern zunächst ein wenig streng und humorlos erscheinen, doch wird er sein Urteil bei genauerem Hinsehen revidieren müssen: Die eingefügten Reihen orangefarbener Steine mildern den sakralen Eindruck, und die Wiederkehr der Spitzbögen als flächiges Ornament in Orange und Purpur tut sein Übriges, das Ganze aufzulockern.
Geht man weiter, so erblickt man, Park Town rechter Hand hinter sich lassend, eine Anzahl Villen aus rotem Backstein, die – besonders nach den anfangs eher abweisend wirkenden Fassaden der venezianischen Gotik – sofort anheimelnd wirken. Die Dächer sind mit roten Ziegeln gedeckt, und bei fast allen sind die Fenster freundlich weiß umrahmt. Die Architekten, mittlerweile fünfzehn Jahre älter und überdies endlich aus dem Schatten Ruskins getreten, hatten es nun wieder gewagt, Fenster zu entwerfen, deren Sturz in einer schlichten Horizontalen bestand. Und so lassen sich nun, auf nicht einmal einem Kilometer, in dichter Nachbarschaft zueinander, die steingewordenen Zeugnisse zweier sehr unterschiedlicher Architekturrichtungen entdecken, entstanden zu einer Zeit, als die ersten Professoren aus der damals noch klösterlichen Universität auszogen, um zu heiraten und eine Familie zu gründen. In ihren geräumigen Villen waren bald Scharen weiblicher Bediensteter beschäftigt, angefangen beim Stubenmädchen bis hinunter zur Küchenmagd. Die Bebauung rechts und links der Woodstock und der Banbury Road schritt in nördlicher Richtung stadtauswärts unaufhörlich voran, und der Ausdehnungsprozess war anhand der jährlich neu entstehenden Villen beinahe ebenso exakt zu erkennen wie das Wachstum eines gefällten und zersägten Baumes an seinen Jahresringen.
Ziemlich genau zwischen den beiden oben beschriebenen Gruppen von Häusern steht das Hotel Haworth. Es ist nicht notwendig, den Bau, oder vielmehr die Bauten, im Detail zu beschreiben, doch ein paar Einzelheiten über seine Geschichte sollten besser bereits jetzt erwähnt werden. Als das Hotel vor zehn Jahren zum Verkauf stand, wurde es von einem gewissen John Binyon erworben, einem ehemaligen Fabrikarbeiter aus Leeds, der kurz vorher im Toto gewonnen hatte. Er hatte ein Pfund in die Wette investiert, dass der Spitzenreiter der Ersten Liga in einer frühen Ausscheidungsrunde um den Englischen Pokal gegen einen Amateurligisten aus Nord-Staffordshire unterliegen würde – zum nicht geringen Erstaunen aller fußballverrückten Briten. Als Belohnung für so viel Unverfrorenheit strich er vierhundertfünfzigtausend Pfund ein. Das Hotel (das zunächst Three Swans Guest House und dann Haworth Hotel hieß) war sein erster Erwerb. Das etwas von der Straße zurückgesetzte Gebäude zeigte mit seinen gelben Ziegelmauern, dem roten Ziegeldach und den freundlich geschwungenen Fensterstürzen Anklänge sowohl an den Architekturstil der 1880er-Jahre als auch an den fröhlicheren der 1890er-Jahre. Sein Entschluss, das Geld in den Kauf des Hotels Haworth anzulegen, erwies sich als klug. Nach ein paar umsatzschwachen Monaten zog das Geschäft an, und von da an ging es beständig aufwärts. Nachdem Binyon das Haus zwei Jahre mit gutem Erfolg als Bed-and-Breakfast geführt hatte, ließ er es modernisieren, und von nun an gehörte es in die Hotelkategorie. Sämtliche Zimmer besaßen entweder Dusche oder Bad sowie Farbfernsehen, es gab ein Fitnessstudio sowie ein Restaurant, für das er eine Ausschanklizenz erhalten hatte. Vier Jahre später tauchte neben dem Eingang das von allen Hotelbesitzern heiß begehrte Schild auf – die Automobile Association, kurz AA, hatte das Hotel einer Empfehlung in Form eines Sterns für würdig befunden. Dies sorgte für eine weitere Belebung des Geschäfts, sodass Binyon zu expandieren beschloss. Und dies gleich in zwei Richtungen. Zum einen erwarb er weitere, sich unmittelbar an das Hotel anschließende Gebäude, die er nach gründlichen Umbau- und Renovierungsarbeiten als Dependance nutzen wollte, wo er, vor allem in der Hauptreisezeit im Frühjahr und Sommer, weitere Gäste unterbringen konnte. Zum anderen hatte er seit Längerem Überlegungen angestellt, wie der vergleichsweise flauen Auslastung der Zimmer zwischen Oktober und März (insbesondere an den Wochenenden und in der Ferienzeit) begegnet werden könne, und war auf die Idee gekommen, Pauschal-Arrangements anzubieten. Und so ließ er, wie schon in den beiden Jahren zuvor, auch dieses Mal wieder im Herbst halbseitige Anzeigen in die einschlägigen Broschüren »Preiswerte Winterferien-Angebote sowie günstige Weihnachts- und Silvester-Arrangements« der Reiseveranstalter einrücken. Auf Anfrage verschickte Binyon an Interessenten das detaillierte Programm (»Bei diesen Preisen werden Sie kaum widerstehen können«). Das Drei-Tage-Pauschalangebot über Silvester, das die Männer und Frauen, denen wir auf den folgenden Seiten begegnen werden, gebucht hatten, sah folgendermaßen aus:
Dienstag: Silvester |
12.30 Uhr | Empfang! John und Catherine Binyon begrüßen alle Gäste, die schon eingetroffen sind, mit einem Sherry. |
13.00 Uhr | Lunch-Buffet: eine gute Gelegenheit, alte Bekannte wiederzutreffen oder neue Bekanntschaften zu schließen. Am Nachmittag besteht für alle die Möglichkeit, sich Oxford anzusehen; das Stadtzentrum ist zu Fuß in weniger als 10 Minuten zu erreichen. Für diejenigen unter Ihnen, die Spaß an Spiel und Wettkämpfen haben, werden Turniere veranstaltet. Sie haben die Wahl zwischen Darts, Billard, Tischtennis, Scrabble und Videospielen! Den jeweiligen Gewinnern winken Preise!!! |
17.00 Uhr | Tee mit Keksen und sonst gar nichts – wir wollen, dass Sie sich Ihren Appetit für den Abend aufheben … |
19.30 Uhr | Großes Kostüm-Galadinner Wir denken, es wird ein Riesenspaß, wenn jeder, wirklich jeder! kostümiert zum Dinner erscheint. Aber keine Angst! Auch wer nicht verkleidet ist, braucht auf seinen Cocktail nicht zu verzichten. Der Abend steht unter dem Motto »Geheimnisvolle Welt des Ostens«, und alle, die Lust haben, bei ihrer Verkleidung ein bisschen zu improvisieren, sind herzlich eingeladen, sich aus unserer »Lumpenkiste« im Aufenthaltsraum zu bedienen. |
22.00 Uhr | Prämierung der besten Kostüme, anschließend Live-Kabarett und Tanz, damit Sie, wenn es so weit ist, richtig in Stimmung sind! |
24.00 – 1.00 Uhr | Champagner! Auld Lang Syne! Dann ab ins Bett! |
Mittwoch – Neujahr |
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