E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Dexter Ihr Fall, Inspector Morse
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-293-31037-7
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalerzählungen. Ein Fall für Inspector Morse 14
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-293-31037-7
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Colin Dexter (1930-2017) studierte Klassische Altertumswissenschaft und war erst als Oberstufenlehrer und anschließend als Prüfer an der Oxford-Universität tätig. 1973 schrieb er Der letzte Bus nach Woodstock. Es folgten dreizehn weitere Fälle für Inspector Morse, die als Fernsehserie verfilmt wurden. Seine Werke wurden mehrfach ausgezeichnet, u. a. mehrmals mit dem CWA Gold Dagger. Für sein Lebenswerk wurde Dexter mit dem CWA Diamond Dagger und dem Order of the British Empire für Verdienste um die Literatur ausgezeichnet.
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Das größte Rätsel
»Heda!«, brummte Scrooge mit seiner gewöhnlichen Stimme, so gut er sie vorzutäuschen vermochte. »Was fällt Ihnen ein, zu dieser Tageszeit zu erscheinen?«
Charles Dickens, Ein Weihnachtslied in Prosa
Er hatte zaghaft an Morse’ Wohnung in Nord-Oxford geklopft. Nur wenige waren je in die büchergesäumten, wagnergeschwängerten Räume eingeladen worden, und sogar er – Sergeant Lewis – hatte sich nie allzu willkommen gefühlt. Selbst in der Weihnachtszeit nicht. Und so klang es denn auch nicht gerade nach dem Fest der Freude, als Morse Lewis hereinwinkte und schlecht gelaunt die Unterhaltung mit dem Bankdirektor zu Ende führte.
»Hören Sie! Wenn ich im Moment ein paar Hundert auf meinem Konto stehen lasse, dann ist das meine Sache. Ich verlange noch nicht mal Zinsen dafür. Was ich verlange, ist nur, dass Sie mir nicht diese verdammten Bankgebühren aufdrücken, wenn ich – wie oft?, ein-, zweimal im Jahr? – überziehe. Es ist nicht so, dass ich geizig wäre« – Lewis’ Augenbrauen hoben sich einen Zentimeter –, »aber wenn Sie mich noch mal damit belasten, möchte ich, dass Sie mich anrufen und mir sagen, warum!« Morse knallte den Hörer auf und saß schweigend da.
»Sie hören sich nicht so an, als ob Sie in Weihnachtsstimmung wären«, wagte Lewis zu äußern.
»Ich kann Weihnachten nicht ausstehen – konnte ich noch nie.«
»Sie bleiben in Oxford, Sir?«
»Ich werde mich in der Küche betätigen.«
»Plumpudding?«
»Wände streichen. Plumpudding kann ich nicht ausstehen – konnte ich noch nie.«
»Sie klingen jede Minute mehr wie Scrooge, Sir.«
»Und ich werde einen Roman von Dickens lesen. Das mache ich Weihnachten immer. Vielmehr wieder lesen.«
»Wenn ich mit Dickens anfangen würde, welchen …?«
»Ich würde als ersten Bleakhaus nehmen, als zweiten Klein Dorrit –«
Das Telefon klingelte, und Morse’ Sekretärin teilte ihm aus dem Hauptquartier mit, dass er bei der Wohltätigkeitstombola der Polizei einen Geschenkgutschein über fünfzig Pfund gewonnen hatte, und diesmal legte Morse erheblich besser gelaunt auf. »Sagten Sie ›Scrooge‹, Lewis? Nur damit Sie es wissen, ich habe bei dieser Tombola fünf Lose gekauft – ein Pfund das Stück!«
»Ich habe auch fünf Lose gekauft, Sir.«
Morse lächelte selbstgefällig. »Wir sollten mildtätiger sein, Lewis! Es kommt darauf an, dass man diese Anliegen unterstützt, nicht, dass man gewinnt.«
»Ich warte im Auto, Sir«, sagte Lewis ruhig. Er wurde langsam ärgerlich. Mit Morse’ Jähzorn konnte er sich abfinden, aber er ertrug es nicht, sich noch mehr über dessen uneigennützige Großzügigkeit anzuhören.
Morse’ alter Jaguar war wieder mal in der Werkstatt (»Zu geizig, sich einen neuen zu kaufen!«, behaupteten die Kollegen), und es fiel an diesem Tag Lewis zu, den Chief Inspector herumzuchauffieren; zweifellos würde er ihm außerdem (wenn die Dinge nach Plan liefen) das eine oder andere Bier spendieren müssen. Was in der Tat recht wahrscheinlich war, da Morse es an diesem Dienstagmorgen so gedeichselt hatte, dass ihre Ankunft im George mit dem Zeitpunkt der Öffnung zusammenfallen würde. Während sie am Bahnhof vorbeifuhren, berichtete Lewis Morse, was er bisher über die Ereignisse des vergangenen Tages herausgefunden hatte.
Die Gäste des George hatten für die Littlemore-Stiftung für geistig behinderte Kinder vierhundert Pfund gesammelt. Diese stolze Summe sollte Ende der Woche dem Geschäftsführer der Stiftung überreicht werden, und die Oxford Times hatte versprochen, dass einer ihrer Fotografen das große Ereignis festhalten würde. Mrs Michaels, die Wirtin, war vormittags gegen halb elf von ihrem Mann vor der Bank am Carfax abgesetzt worden und hatte dort eine bunte Mischung aus Münzen und Scheinen gegen vierzig funkelnagelneue Zehner eingetauscht. Danach hatte sie einiges eingekauft (darunter Weintrauben für ihre gerade ins Krankenhaus eingewiesene Tochter), bevor sie mit einem Minibus nach Hause fuhr, wo sie kurz nach zwölf ankam. Das Geld befand sich in einem langen weißen Umschlag zusammen mit den morgendlichen Besorgungen in ihrer Einkaufstasche. Ihr Mann war noch nicht aus dem Cash and Carry zurück, und als Mrs Michaels das George durch die Bar betrat, hatte sie das Telefon läuten hören. Da sie annahm, es sei das Krankenhaus (was auch der Fall war), hatte sie die Tasche auf die Theke fallen lassen und sich beeilt, den Hörer abzunehmen. Bei ihrer Rückkehr war der Umschlag verschwunden.
Zur Zeit des Diebstahls hatten sich rund dreißig Personen in der Bar aufgehalten, darunter einige Rentner, die Stammgäste waren, der übliche Trupp Billard spielender Arbeitsloser und die Belegschaft einer ortsansässigen Firma bei der Weihnachtsfeier. Und – ja! – von Anfang an hatte Lewis gewusst, dass die Chance, das Geld wieder aufzutreiben, praktisch gleich null war. Trotzdem erschienen die drei Routineverhöre, die Morse durchführte, Lewis arg unbefriedigend.
Nachdem Morse der wenig erhellenden Aussage des Wirts eine Weile gelauscht hatte, fragte er ihn, warum seine Erledigungen im Cash and Carry so lange gedauert hätten; und obwohl die nachfolgende Erklärung völlig plausibel schien, hatte die Entlassung des ersten Zeugen fast beleidigend schroff gewirkt. Und niemanden hätte man schneller und wirkungsvoller vor den Kopf stoßen können als den Aushilfsbarkeeper, der gestern Vormittag Dienst gehabt hatte und sich nun weigerte, Morse’ barsche Fragen über sein gegenwärtig überzogenes Konto zu beantworten. Und was war mit der attraktiven, rot gelockten Mrs Michaels? Nachdem ein ziemlich schiefes Lächeln ihre regelmäßigen, wenn auch leicht nikotinverfärbten Zähne enthüllt hatte, war die unglückliche Dame nicht imstande gewesen, ihre Tränen zurückzudrängen, als sie Morse zu erklären versuchte, warum sie für den Pressefotografen auf echten Banknoten statt eines auf Kameraformat vergrößerten Pseudoschecks bestanden hatte.
Aber halt! Lewis sah, dass soeben etwas Dramatisches in Morse vorgegangen war: als sei plötzlich Licht auf einen Mann gefallen, der zuvor im Dunkeln gesessen hatte. Jetzt fragte er (Morse) – welche Überraschung! –, ob die gute Dame zufällig ein Paar leuchtend grüne, hochhackige Lederschuhe besäße, und als sie erwiderte, ja, das täte sie, lächelte Morse heiter, als hätte er das Geheimnis des Universums entschlüsselt, und zitierte umgehend nicht nur die drei soeben Verhörten in die Bar, sondern auch alle im George Anwesenden, die am gestrigen Vormittag dort getrunken hatten.
Während sie warteten, fragte Morse nach den Seriennummern der gestohlenen Scheine, und Lewis reichte ihm einen Zettel, auf den mit verschmiertem Kuli hastig einige Zahlen gekritzelt worden waren. »Um Gottes willen!«, zischte Morse. »Hat man Ihnen in der Schule das Schreiben nicht beigebracht?«
Lewis atmete schwer, zählte bis fünf und schrieb dann die Ziffern gewissenhaft noch einmal auf ein jungfräuliches Stück Papier: 773741–773780. Morse warf einen flüchtigen Blick darauf, bevor er das Blatt in seine Tasche steckte und sich den Stammgästen des George zuwandte.
Er sei praktisch sicher (sagte er), wer das Geld gestohlen hätte. Absolut sicher wüsste er aber, wo sich das Geld genau in diesem Moment befände. Er hätte die Seriennummern der Banknoten – das sei inzwischen aber nicht mehr von Belang. Der Dieb wäre vorher vielleicht in Versuchung gewesen, das Geld auszugeben, jetzt jedoch nicht mehr! Und warum nicht? Weil die betreffende Person nun, zur Weihnachtszeit, nicht länger die Kraft hätte, ihrem besseren Ich zu widerstehen.
In der Bar, die jetzt lautlos und still wie ein Grab war, wirkten Morse’ Zuhörer wie hypnotisiert – auch dann noch, als Morse Anweisungen gab, die Scheine in den Originalumschlag zurückzulegen und (wie, sei ihm egal) innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden in Sergeant Lewis’ Büro im Hauptquartier der Thames Valley Police abzuliefern.
Auf der Rückfahrt konnte Lewis seine Neugier nicht länger zügeln. »Sie glauben wirklich, dass –?«
»Natürlich!«
»Anscheinend schaffe ich es nie, mir die Indizien selbst zusammenzureimen, Sir.«
»Indizien? Was für Indizien, Lewis? Ich wusste gar nicht, dass wir welche haben.«
»Na ja, diese Schuhe zum Beispiel. Was spielen sie für eine Rolle?«
»Wer sagt, dass sie eine Rolle spielen? Es ist nur so, dass ich mal eine Schönheit mit rotem Haar kannte, die sechs Paar – sechs, Lewis! – leuchtend grüne Schuhe hatte. Sie stünden ihr, meinte sie.«
»Sie … haben also überhaupt nichts mit dem Fall zu tun?«
»Nicht, dass ich wüsste«, murmelte Morse.
Am nächsten Morgen wurde in Lewis’ Büro ein weißer Umschlag abgegeben, obwohl sich am Empfang niemand entsinnen konnte, wann und woher er gekommen war. Lewis rief sofort Morse an, um ihm zum glücklichen Ausgang des Falles zu gratulieren. »Da ist nur noch eins, Sir. Ich habe den Zettel mit...