E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Dexter Zuletzt gesehen in Kidlington
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-293-31023-0
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman. Ein Fall für Inspector Morse 2
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-293-31023-0
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Colin Dexter (1930-2017) studierte Klassische Altertumswissenschaft und war erst als Oberstufenlehrer und anschließend als Prüfer an der Oxford-Universität tätig. 1973 schrieb er Der letzte Bus nach Woodstock. Es folgten dreizehn weitere Fälle für Inspector Morse, die als Fernsehserie verfilmt wurden. Seine Werke wurden mehrfach ausgezeichnet, u. a. mehrmals mit dem CWA Gold Dagger. Für sein Lebenswerk wurde Dexter mit dem CWA Diamond Dagger und dem Order of the British Empire für Verdienste um die Literatur ausgezeichnet.
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Vorspiel
Der Zug auf Gleis eins fährt in Kürze ab
Er war recht zufrieden mit sich. Natürlich ließ sich noch nichts Bestimmtes sagen, aber doch, ja – er hatte seine Sache gut gemacht. Er rief sich die einzelnen Phasen des Gesprächs noch einmal ins Gedächtnis zurück: ihre Fragen – klug und zugleich auch wieder töricht – und seine sorgfältig überlegten und, da war er sicher, gut formulierten Antworten. Zwei oder drei erschienen ihm im Nachhinein besonders gelungen, und in der Erinnerung daran huschte, während er dastand und wartete, ein flüchtiges Lächeln um seinen energischen, gut geschnittenen Mund. Eine seiner Erwiderungen war ihm noch im Wortlaut gegenwärtig:
»Meinen Sie nicht, dass Sie für dieses Amt noch etwas zu jung sind?«
»Da haben Sie sicher nicht ganz unrecht. Es ist ein sehr verantwortungsvoller Posten, und ich bin überzeugt, dass es Zeiten geben wird, wo ich – immer vorausgesetzt, dass Sie mir diese Aufgabe anvertrauen – dankbar auf den Rat von Älteren und Erfahreneren zurückgreifen werde.« Einige der betagteren Kommissionsmitglieder hatten bedeutungsvoll genickt. »Leider steht es nicht in meiner Macht, falls die fehlenden Jahre ein Hinderungsgrund sein sollten, daran etwas zu ändern. Das Einzige, was ich Ihnen versprechen kann, ist, dass dieses Manko – wenn es denn von Ihnen als solches empfunden wird – im Laufe der Zeit von selbst verschwindet.«
Nicht eben originell. Das Argument hatte er von einem früheren Kollegen, der sich rühmte, als Erster darauf gekommen zu sein. Der gedämpften Heiterkeit und dem wohlwollenden Gemurmel nach zu urteilen, hatte es auch hier die beabsichtigte Wirkung erzielt. Und keines der dreizehn Mitglieder des Gremiums schien es vorher schon einmal gehört zu haben.
Man würde sehen.
Wieder lächelte er und sah auf die Uhr. Halb acht. Seinen Zug um 20.35 Uhr würde er auf jeden Fall noch bekommen. Ankunft in London 21.42 Uhr, dann durch die Stadt zum Bahnhof Waterloo. Gegen Mitternacht konnte er zu Hause sein, vorausgesetzt, er hatte ein bisschen Glück mit dem Anschluss. Doch darüber machte er sich im Augenblick nicht viele Gedanken. Er fühlte sich sehr unbeschwert, in einer Art Aufbruchsstimmung und im Einklang mit sich und der Welt. Ob das an den beiden doppelten Whisky lag, die er sich vorhin, nachdem alles vorbei war, genehmigt hatte? Er würde die Stelle bekommen. Auf einmal war er fest davon überzeugt.
Jetzt war Februar. Seine Kündigungsfrist betrug ein halbes Jahr. Er zählte die Monate an den Fingern ab: März, April, Mai, Juni, Juli, August. Das würde also keine Probleme geben.
Er ließ seinen Blick über die Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite wandern. Ziemlich elegant. Vier Schlafzimmer, große Gärten. Er würde sich eines dieser kleinen Treibhäuser anschaffen, die in Fertigteilen geliefert wurden, und Tomaten ziehen, vielleicht auch Gurken wie Diokletian – oder war es Hercule Poirot gewesen?
Er trat aus dem scharfen Wind zurück in das hölzerne Wartehäuschen. Es hatte wieder zu nieseln begonnen. Ab und zu sauste auf der nassen Straße zischend ein Auto vorbei. Die Fahrbahn schimmerte im Licht der Straßenlampen orange … Dumm, dass sie kurz vor Schluss noch auf seine Dienstzeit bei der Armee zu sprechen gekommen waren.
»Sie sind also nicht als Offizier entlassen worden?«
»Nein.«
»Gab es dafür einen bestimmten Grund?«
»Ich glaube, ich war nicht gut genug. Ich meine, zum damaligen Zeitpunkt. Als Offizier muss man bestimmte Voraussetzungen mitbringen …« Er geriet ins Schwimmen, zwang sich aber weiterzureden. Nur nicht stocken, sich nichts anmerken lassen! »Und ich war … also, ich brachte diese Voraussetzungen einfach nicht mit. Damals trat eine große Zahl sehr befähigter Männer in die Armee ein, die mir, was natürliche Autorität und Selbstvertrauen anging, überlegen waren.« Belass es dabei. Sei bescheiden.
Ein pensionierter Oberst und ein Major a.?D. nickten beifällig. Wenn ihn nicht alles täuschte, hatte er soeben zwei weitere Stimmen gewonnen.
Es war immer dasselbe bei diesen Einstellungsgesprächen. Man musste möglichst dicht an der Wahrheit bleiben, durfte jedoch nicht den Fehler begehen, wirklich aufrichtig zu sein. Fast alle Männer, mit denen er in der Armee näher zu tun gehabt hatte, waren an Public Schools erzogen worden. Ihr Selbstbewusstsein schien grenzenlos, sie hatten den richtigen Akzent. Es waren Leutnants, Oberleutnants, Hauptmänner. Sie hatten die Offizierslaufbahn als ihr Geburtsrecht reklamiert, und ihr Anspruch war zu gegebener Zeit eingelöst worden. Über Jahre hinweg hatte er wegen dieser Bevorzugung einen dumpfen Neid verspürt. Schließlich hatte er genau wie sie eine Public School absolviert …
Die Busse verkehrten offenbar nur in größeren Abständen, und ihm kamen Zweifel, ob er noch rechtzeitig zur Abfahrt des Zuges um 20.35 Uhr am Bahnhof sein würde. Er trat einen Schritt vor und blickte die gut erleuchtete Straße hinunter, ehe er sich wieder in den Schutz des Wartehäuschens zurückzog, dessen Holzwände, wie nicht anders zu erwarten, mit gekritzelten und eingeritzten Obszönitäten übersät waren. Der unvermeidliche Kilroy hatte auf seinen rastlosen Wanderungen auch hier seinen Namenszug hinterlassen, und mehrere ortsansässige Prostituierte hatten die Wände dazu benutzt, potenziellen Kunden ihre Willfährigkeit zu annoncieren. Eine Enid liebte einen Gary und ein Dave eine Monica. Zahlreiche Verwünschungen legten den Schluss nahe, dass Oxford United seine Fans seit einiger Zeit ziemlich frustriert haben musste. Allen Faschisten wurde geraten zu verschwinden. Für Angola, Chile und Nordirland wurde Freiheit gefordert. Eine Scheibe in einer der Seitenwände war eingeschlagen, und hier und dort blinkten zwischen eingetrockneten Apfelsinenschalen, leeren Chipstüten und zerbeulten Coladosen Glasscherben. Abfall! Angewidert verzog er das Gesicht. Solchen Abfall fand er obszöner als obszöne Kritzeleien. Wäre er der Boss, er würde ein striktes Abfallgesetz erlassen. Aber auch auf seinem neuen Posten würde er diesbezüglich einige Möglichkeiten haben. Wenn sie ihn wirklich nahmen …
Wo blieb nur der Bus? Schon Viertel vor acht! Vielleicht blieb er doch besser über Nacht in Oxford. Die Entscheidung stand ihm frei. Und wenn schon Angola und anderen Freiheit gewährt werden sollte, warum nicht auch ihm? Es war schon Jahre her, dass er mehr als einen Tag getrennt von seiner Familie verbracht hatte. Er würde nichts verlieren, im Gegenteil. Die Schulbehörde hatte sich bei der Erstattung der Reisespesen außerordentlich großzügig gezeigt. Das Auswahlverfahren musste die Gemeindekasse einiges gekostet haben. Nicht weniger als sechs Bewerber in der engeren Auswahl – und einer sogar aus Inverness! Der würde die Stelle wohl kaum bekommen. Alles in allem schon eine merkwürdige Erfahrung, so eine Begegnung von Konkurrenten. Mehr als oberflächliche Freundlichkeit kam von vornherein nicht auf. Wie auf einem Schönheitswettbewerb. Alle lächeln sich an, obwohl sie sich am liebsten die Augen auskratzen würden.
Plötzlich fiel ihm noch eine Frage ein, die sie gestellt hatten: »Vorausgesetzt, Sie würden das Amt übernehmen, was denken Sie, wäre zunächst Ihr größtes Problem?«
»Ich könnte mir vorstellen, der Hausmeister.«
Seine Antwort war ganz ernst gemeint, und der begeisterte Ausbruch von Heiterkeit, den er damit auslöste, verblüffte ihn. Erst hinterher hatte er erfahren, dass der jetzige Pedell eine Art Unmensch zu sein schien, den alle wegen seiner Widerspenstigkeit und Übellaunigkeit insgeheim fürchteten.
Ja, er würde den Posten bekommen. Und eine wichtige taktische Maßnahme würde sein, sich die Anerkennung des Kollegiums und der Schüler zu sichern, indem er dieses Ekel von Hausmeister vor die Tür setzte. Als Nächstes kam der Abfall an die Reihe. Und danach …
»Warten Sie auf den Bus?«
Er hatte nicht mitbekommen, wie sie das Wartehäuschen betreten hatte. Unter ihrem Plastikhut glänzte ihr Gesicht von Regentropfen. Er nickte. »Scheint ja nicht gerade häufig zu fahren.« Sie kam auf ihn zu. Ein hübsches Mädchen. Ihr Mund gefiel ihm. Schwer zu sagen, wie alt sie war. Achtzehn? Vielleicht auch jünger.
»Es muss gleich einer kommen.«
»Na, hoffentlich haben Sie recht.«
»Ungemütliches Wetter.«
»Ja.« Er ärgerte sich. Das hatte so abschließend geklungen, dabei hätte er sich gerne noch weiter mit ihr unterhalten. Wenn sie schon beide hier warten mussten, konnten sie wenigstens miteinander reden. Sie schien ähnlich zu denken wie er, hatte aber offenbar nicht seine Hemmungen.
»Wollen Sie nach Oxford?«
»Ja. Ich möchte den Zug um 20.35 Uhr nach London erwischen.«
»Den kriegen Sie noch.« Sie zog ihren glänzenden Plastikmantel aus und schüttelte die Tropfen ab. Ihre Beine waren schlank, fast mager, aber wohlproportioniert. Er spürte eine leichte Erregung. Der Whisky …
»Wohnen Sie in London?«
»Nein, zum Glück nicht. Ich lebe in Surrey.«
»Wollen Sie da heute noch hin?«
Das genau war die Frage. »Wenn man erst in London ist, geht es schnell.«
Sie schwieg.
»Und Sie wollen heute Abend nach Oxford?«, fragte er.
»Ja. Hier...