Dibdin | Im Zeichen der Medusa | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Reihe: Aurelio Zen ermittelt

Dibdin Im Zeichen der Medusa

Aurelio Zen ermittelt in Südtirol. Kriminalroman. Aurelio Zen ermittelt (9)
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-293-30894-7
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Aurelio Zen ermittelt in Südtirol. Kriminalroman. Aurelio Zen ermittelt (9)

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Reihe: Aurelio Zen ermittelt

ISBN: 978-3-293-30894-7
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eigentlich könnte sich Aurelio Zen zurücklehnen: Er lebt mit seiner Freundin Gemma im toskanischen Lucca und bearbeitet Routinefälle. Aber der rastlose Polizist ist froh, als er in die Dolomiten geschickt wird, wo die Leiche eines seit Jahren vermissten Offiziers der Gebirgsjäger aufgetaucht ist. Der Arzt, der die Leiche untersucht hat, berichtet Zen von einer Tätowierung auf dem Arm des Toten: Sie zeigt das Haupt der Medusa. Als bald darauf eine weitere Leiche mit einer Medusa-Tätowierung gefunden wird, merkt der Kommissar, dass er einer Verschwörung auf der Spur ist, in die höchste Kreise des Landes verwickelt sind.

Michael Dibdin, geboren 1947 in Wolverhampton, studierte englische Literatur in England und Kanada. Vier Jahre lehrte er an der Universität von Perugia. Bekannt wurde er durch seine Figur Aurelio Zen, einen in Italien ermittelnden Polizeikommissar. Elf Bände dieser Krimiserie sind erschienen. Michael Dibdin wurde mit dem CWA Gold Dagger und dem Grand prix de littérature policière ausgezeichnet. Seine Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und von der BBC als TV-Serie verfilmt. Er starb 2007 in Seattle.
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1


Ein zäher Nebel hing in den Straßen und gab den Fassaden der Häuser etwas Geheimnisvolles, ließ vertraute Dinge fremd erscheinen und bedeckte die Fenster mit einer feuchten Schicht, die dichter zu sein schien als Wasser. Gabriele versuchte, von der dicken Frau auf dem Sitz neben ihm wegzurücken, die sich an ihrem Handy in den schaurigsten Details über die Darmoperation einer älteren Verwandten ausließ, hatte aber trotzdem nicht genügend Platz, um seine Zeitung bequem aufschlagen zu können. Das Einzige, was er mühelos lesen konnte, war die Überschrift, die sich auf die anhaltenden Feindseligkeiten in einem fernen Land bezog, wo junge Männer töteten und getötet wurden. Während sich draußen dröhnend und kreischend der Verkehr staute, rumpelte die Straßenbahn vorfahrtberechtigt durch die vom Nebel verhüllte Stadt und kündigte ihr Näherkommen in periodischen Abständen mit einem schrillen Klingeln an.

»Allerdings!«, sagte die dicke Frau gerade. »Erst muss ich das Auto bei Pia abholen, falls sie überhaupt schon da ist, was ich bezweifle, und wies dann weitergeht, das wissen die Götter, bei diesem verdammten Nebel.«

Gabriele drückte sich gegen das Fenster und klappte den Kragen seines grünen Lodenmantels hoch, ein symbolischer Versuch, die Frau auszublenden. Er liebte den Nebel, wenn die ganze Welt leiser wurde und alles dicht verhüllt war. Glänzendes wurde matt, Schrilles gedämpft, allem Hässlichen um einen herum wurde regelrecht die Substanz entzogen. Dinge wurden zu bloßen Vorstellungen, die raue Gegenwart zu einer vagen Erinnerung.

Durch eine ähnliche Verschiebung hatten sich auch die Erinnerungen an die zahllosen Nebeltage in seiner Kindheit gewandelt. Die nebulösen Erinnerungen an Krankheit, echt oder vorgetäuscht, an Fieber, Grippe und Übelkeit. »Ich fühle mich nicht gut, Mamma.« Sie hatte ihm immer nur zu bereitwillig geglaubt. Und da er wusste, dass er ihr eine Freude machte, hatte es ihm kaum Gewissensbisse bereitet, wenn er Symptome vortäuschte oder übertrieb. Seine Mutter mochte es, wenn er krank war. Es gab ihr das Gefühl, gebraucht zu werden. Manchmal hatte er sogar den Verdacht gehabt, sie wusste, dass er simulierte, verzieh es ihm aber und ermunterte ihn insgeheim sogar dazu.

Nebel assoziierte Gabriele auch mit der Daunendecke, die seine Mutter aufschüttelte und sanft auf ihn sinken ließ, während die Uhr machtlos verkündete, dass er eigentlich in der Schule sein müsste, bei all diesen Rabauken und Strebern. »Meine Wolke«, hatte er die Decke genannt. Schwerelos und warm wie sie war, warf er sie zurück, sobald seine Mutter das Zimmer verlassen hatte, um zum Bücherregal zu laufen und sich dort eine Auswahl an Romanen zu holen, die er mit ins Bett nahm, wo er die Wolke wieder über sich zog. Bücher stellten auch eine Form von Nebel dar, der sich herabsenkte, um die maßgebliche offizielle Version der Dinge zu infiltrieren, sie heimtückisch zu unterwandern und damit zu entlarven, dass alles nur Lug und Trug war. Natürlich wusste er, dass die Geschichten erfunden waren, die Figuren nur Marionetten, der Ausgang vorherbestimmt, doch warum erschienen sie dann so viel wirklicher als die Realität? Und warum war außer ihm niemand schockiert über so einen herrlichen Skandal?

Quietschend hielt die Straßenbahn. Die dicke Frau stand auf, immer noch ununterbrochen in ihr Handy redend, trat hinaus auf die Straße und war im gleichen Augenblick verschwunden. Die Türen schlossen sich, und die Bahn setzte sich schwerfällig wieder in Bewegung. Nun, wo der Sitz neben ihm frei war, breitete Gabriele seine Zeitung aus und überflog rasch die aktuellen außen- und innenpolitischen Berichte. Wie so oft fiel ihm dabei ein Ausspruch seiner Mutter über Essensreste ein. »Tu einfach irgendwas Neues dazu, dann kannst dus noch einmal servieren.«

Hier in der Altstadt schien der Nebel noch dichter zu sein, viel realer als die vagen Andeutungen von Stein und Glas, die ab und zu trübe im Dunst auftauchten und wieder verschwanden. Gabriele wandte sich den Cronaca-Seiten zu und las etwas über einen Familienstreit mit tödlichem Ausgang in Genua, einen Drogentoten in Turin und die Entdeckung einer Leiche in einem stillgelegten Militärtunnel hoch oben in den Dolomiten.

Die Straßenbahn fuhr langsam auf die nächste Haltestelle zu, die letzte Station vor der, an der er aussteigen musste. Gabriele legte die Zeitung zusammen, knickte sie so, dass sie fest und handlich war, schob sie in die Manteltasche und stieg mit sieben weiteren Fahrgästen aus. Einen Hustenanfall vortäuschend, wartete er an der Haltestelle, bis sich die Leute im Nebel zerstreut hatten. Derweil zockelte die hell erleuchtete Straßenbahn davon und ließ ihn halbblind in den weißen Nebelschwaden zurück.

Er überquerte die Straße, um auf den Bürgersteig zu gelangen. Dabei musste er einem Auto ausweichen, das viel näher war, als die Lichter den Anschein erweckt hatten. Dann ging er unsicher in die Richtung, in die die Bahn gefahren war, blieb dabei immer wieder stehen, um sich lauschend umzusehen und in die schwere Luft zu schnuppern. Nach wenigen Blocks tauchte ein Café auf, das in aller Eile aus ein paar Stücken Glanz und Schimmer zusammengeschustert zu sein schien. Gabriele blieb kurz stehen, dann stieß er die Tür auf.

Er war noch nie an dieser Haltestelle ausgestiegen, noch nie in diesem Café gewesen. Deshalb war es nur natürlich, dass er die Räumlichkeiten, die Einrichtung und vor allem die Kundschaft mit lebhaftem Interesse betrachtete. Er musterte die anderen Gäste gründlich, insbesondere diejenigen, die nach ihm hereinkamen. Als man seinen Cappuccino und sein Brioche vor ihn hinstellte, ging er damit bis ans äußerste Ende der Marmortheke, wo diese in einem Bogen an die Wand stieß. Von dort konnte er den gesamten Raum überblicken, nicht nur den Eingang. Die Gäste schienen genau die Sorte Leute zu sein, die man in dieser Art Café in dieser Gegend von Mailand um diese frühe Stunde erwartete: solide, professionell, gut betucht und mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Sie standen zu zweit oder in größeren Gruppen beieinander, und niemand schenkte ihm die geringste Aufmerksamkeit.

Gabriele nahm die Zeitung aus seiner Tasche, faltete sie verstohlen auf und las den Artikel noch einmal. Dann warf er sie in den Mülleimer und wischte sich die Hände an einer Papierserviette ab, die er aus dem metallenen Spender auf der Theke gezogen hatte. Wer hätte das gedacht? Nach all den Jahren.

Wären da nicht die Postkarten gewesen, wäre es ihm mittlerweile vielleicht gelungen, die Sache zu vergessen. Abgesehen von dem einen Mal, als ein Journalist von einer kommunistischen Zeitung unter dem Vorwand, ein Buch kaufen zu wollen, zu ihm gekommen war und nach Leonardo gefragt hatte. Doch Gabriele war ihn ganz schnell wieder losgeworden.

Das mit den Postkarten fing in dem Jahr an, nachdem Gabriele seinen Abschied genommen hatte. Seitdem waren sie regelmäßig jedes Jahr gekommen, egal wo er zu der Zeit gerade wohnte, alle in Rom abgeschickt und mit dem Poststempel des Jahrestages versehen, an dem Leonardo gestorben war. Seit 1993 kamen sie im Laden an. Es war immer die gleiche billige Touristenansichtskarte der Loggia dei Lanzi in Florenz mit dem Bild von Cellinis Bronzestatue des Perseus, der das abgeschlagene Haupt der Medusa hält. Gabrieles Name und Adresse waren auf die linke Hälfte der Rückseite gedruckt. Der Raum, der für eine Nachricht vorgesehen war, wurde immer frei gelassen.

»Wir sollten jetzt besser gehen«, sagte einer der Männer an der Theke. »Sie warten sicher schon auf uns.«

Und sie würden auch auf ihn warten, dachte Gabriele. Wenn nicht heute, dann morgen. Wenn nicht im Laden, dann zu Hause. Was die Sache noch schlimmer machte, war, dass er keine Ahnung hatte, wer »sie« waren. Medusa war etwas, das er seit Langem hinter sich gelassen hatte. Er hatte sich sogar die Tätowierung entfernen lassen, ein chirurgischer Eingriff, der ihn eine Menge Geld gekostet und ihm einige kleinere Beschwerden beschert hatte. Alles, was er je über die Organisation gewusst hatte, waren die Namen der drei anderen, die zu seiner Zelle gehörten. Aber es musste doch außer ihnen noch viel mehr gegeben haben, und über dem Ganzen eine allumfassende Kommandostruktur, die zweifellos bis hoch in die militärische und politische Hierarchie hinein reichte. Vor einigen Jahren hatte er aus einem Artikel in der Zeitung erfahren, dass Alberto – jetzt Oberst – Guerrazzi mittlerweile ein hohes Tier beim Geheimdienst war. Solche Leute hatten eine unvorstellbare Macht. Wenn sie sich dadurch bedroht fühlten, dass möglicherweise die Wahrheit über Leonardos Tod ans Licht kam – und das taten sie zweifellos –, würden sie vermutlich sofort präventiv eingreifen – und völlig unberechenbar.

Draußen hatte der Nebel kein bisschen nachgelassen. Gabriele schlüpfte in den ersten Hauseingang, an dem er vorbeikam, und blickte zurück. Niemand kam aus dem Café, das er gerade verlassen hatte. Mit gesenktem Kopf ging er langsam weiter, scheinbar darauf bedacht, nicht zu stolpern und Hindernissen auszuweichen. Ein munteres Klingeln kündigte eine weitere Straßenbahn an. Sie kam quietschend an der Haltestelle zum Stehen, an der er normalerweise jeden Morgen ausstieg. Er wartete, bis sich die Gruppe von Pendlern zerstreut hatte, dann ließ er seinen Blick forschend die Straße entlangschweifen. Die Geschäfte im Erdgeschoss des großen Palazzo aus dem 18. Jahrhundert waren gerade dabei zu öffnen. Es waren hauptsächlich...


Schlootz, Ellen
Ellen Schlootz arbeitet als Übersetzerin aus dem Englischen. Sie hat u. a. Werke von Ian Rankin und David Hosp ins Deutsche übertragen.

Dibdin, Michael
Michael Dibdin, geboren 1947 in Wolverhampton, studierte englische Literatur in England und Kanada. Vier Jahre lehrte er an der Universität von Perugia. Bekannt wurde er durch seine Figur Aurelio Zen, einen in Italien ermittelnden Polizeikommissar. Elf Bände dieser Krimiserie sind erschienen.

Michael Dibdin wurde mit dem CWA Gold Dagger und dem Grand prix de littérature policière ausgezeichnet. Seine Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und von der BBC als TV-Serie verfilmt. Er starb 2007 in Seattle.



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