Ditlevsen | Böses Glück | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Ditlevsen Böses Glück

Storys
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8412-3174-1
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Storys

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

ISBN: 978-3-8412-3174-1
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Erstmals in deutscher Übersetzung ausgewählte Storys von Tove Ditlevsen, Autorin der gefeierten 'Kopenhagen-Trilogie' 

Eine frisch verheiratete Frau sehnt sich obsessiv nach einem gelben Regenschirm. Ein Ehemann verjagt die geliebte Katze seiner Frau. Eine betrogene Mutter entlässt impulsiv ihre Haushälterin. Unter der Oberfläche dieser unbeirrbar scharf beobachteten Geschichten über Liebe und Beziehungen im Kopenhagen des 20. Jahrhunderts pulsieren Verlangen und Verzweiflung. Während vor allem die Frauen darum kämpfen, den ihnen zugewiesenen Rollen zu entkommen, träumen sie davon, frei und glücklich zu werden - ohne je ganz zu verstehen, was das wahrhaft bedeuten könnte. Luzide kartografiert Ditlevsen Momente des Alltags, die ein Leben in eine andere Richtung wenden. Der Band 'Böses Glück' zeigt sie als Meisterin der kurzen Form.

'Ditlevsen schreibt Sätze, die eigentlich Gemälde sind.' FAS.

'Von hypnotischer Qualität.' THE NEW YORK TIMES. 

'Es ist kein Zufall, dass Tove Ditlevsen gerade wieder entdeckt wird. Man hat ihre sezierende Prosa mit der Annie Ernauxs verglichen. Der Vergleich ist berechtigt. Was sie verbindet, ist ihre Fähigkeit, einer widrigen Wirklichkeit standzuhalten. Im Leben, und wenn nicht im Leben, dann in der Literatur.' TAZ. 

'Diese funkelnden Geschichten beschwören tiefste Gefühlsquellen herauf.' VOGUE.

'Ditlevsen kann mit wenigen Worten eine ganze Welt erstehen lassen.' THE TIMES. 

'Eine monumentale Autorin.' PATTI SMITH.



Tove Ditlevsen (1917-1976), geboren in Kopenhagen, galt lange Zeit als Schriftstellerin, die nicht in die literarischen Kreise ihrer Zeit passte. Sie stammte aus der Arbeiterklasse und schrieb offen über die Höhen und Tiefen ihres Lebens. Heute gilt sie als eine der großen literarischen Stimmen Dänemarks und Vorläuferin von Autorinnen wie Annie Ernaux und Rachel Cusk. Die ' Kopenhagen-Trilogie' mit den drei Bänden 'Böses Glück', 'Jugend' und 'Abhängigkeit' ist ihr zentrales Werk, in dem sie das Porträt einer Frau schafft, die entschieden darauf besteht, ihr Leben nach den eigenen Vorstellungen zu leben. Die 'Kopenhagen-Trilogie' wird derzeit in sechzehn Sprachen übersetzt. Bei Aufbau ist zuletzt 'Gesichter' erschienen.
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DER REGENSCHIRM


Helga hatte schon immer, und vollkommen widersinnig, mehr vom Leben verlangt, als es bieten konnte. Menschen wie sie wandeln zwischen uns und unterscheiden sich äußerlich kaum von denen, die instinktiv eine Bilanz ziehen und genau den Platz in der Welt finden, der ihnen gemäß Aussehen, Fähigkeiten und Herkunft zusteht. Hinsichtlich dieser drei Faktoren war Helga bloß durchschnittlich ausgestattet. Als sie auf den Heiratsmarkt entsandt wurde, war sie ein etwas zu kleines und farbloses junges Mädchen mit schmalen Lippen, Stupsnase und – als einzig vielversprechendem Vorteil – einem Paar großer, fragender Augen, die ein aufmerksamer Beobachter als »verträumt« beschrieben hätte. Nach ihren Träumen gefragt, wäre Helga jedoch in Verlegenheit geraten.

Spezielle Begabungen hatte sie nie gezeigt. In der Grundschule war sie gut zurechtgekommen und auch immer lange auf ihren Stellen als Hausmädchen geblieben. Sie hatte nichts gegen die Arbeit, die in ihrer Familie so selbstverständlich war wie das Atmen. Alles in allem war sie anpassungsfähig und bescheiden, ohne dabei allzu verschlossen zu sein. Sie hatte einige Freundinnen, mit denen sie abends in Tanzlokale ging. Dann trank jede von ihnen eine Limonade und hielt Ausschau nach einem Partner. Wenn sie lange genug gesessen hatten und nicht aufgefordert worden waren, hätten ihre Freundinnen mit jedem getanzt, und sei es ein Buckliger. Helga dagegen blickte sich nur zerstreut im Raum um, und die Männer, die sie als gut aussehend einstufte – sie waren immer dunkelhaarig und hatten braune Augen –, betrachtete sie so lange, offensichtlich und ernst, dass es ihnen nicht entgehen konnte. Forderte ein anderer als einer dieser wenigen Auserwählten sie auf (was im Übrigen nicht oft geschah), blickte sie schüchtern auf ihre Knie hinab, errötete schwach und entschuldigte sich unbeholfen: »Ich tanze nicht.« Einige Tische weiter verfolgte ein Paar brauner Augen diesen seltenen Anblick. Dies war ein Mädchen, das sich nicht dem Erstbesten an den Hals warf.

Und so bewegten viele kleine Schwärmereien die Oberfläche ihrer Seele, wie der Frühlingswind die jungen Blätter erzittern lässt, ohne den Lauf ihres Lebens zu ändern. Der Mann begleitete sie nach Hause und küsste kalte, verschlossene Lippen, die sich nicht zu irgendeiner Leidenschaft öffnen ließen. Helga war sehr konventionell. Heiraten musste sie nicht unbedingt, ehe sie sich hingab, aber sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, vorher einen Ring am Finger zu tragen und den Auserwählten ihren Eltern vorzustellen. Diejenigen, die zu ungeduldig oder zu mäßig interessiert waren, um dieses Prozedere abzuwarten, verschwanden mehr oder weniger enttäuscht wieder. Mitunter streifte Helga ein leiser Schmerz; dann vergaß sie ihn in ihrem Lebensrhythmus aus Arbeit, Schlaf und neuen Abenden mit neuen Möglichkeiten.

Bis sie im Alter von 23 Jahren Egon traf. Er verliebte sich in ihre Besonderheit, ihre unbestimmbare Eigenart, die nur selten von anderen Menschen entdeckt und noch seltener als Vorzug eingestuft wurde.

Egon war Mechaniker und interessierte sich außerdem für Fußball, Wetten, Billard und Mädchen. Doch weil jeder Verliebte vom Flügelschlag höherer Sphären gestreift wird, fing dieser gewöhnliche Mann plötzlich an, Gedichte zu lesen und sich so gewählt auszudrücken, dass seine Kollegen in der Werkstatt erstaunt gewesen wären, hätten sie ihn gehört. Rückblickend betrachtete er diese Zeit wie eine schwere Krankheit, die nicht spurlos an seinem Leben vorübergegangen war. Doch solange es währte, war er stolz auf Helga und entzückt über ihre sorgsam gehütete Unschuld, und als sie endlich den Ring trugen und der Antrittsbesuch bei der Familie überstanden war, nahm er sein Eigentum auf dem Schlafsofa seines gemieteten Zimmers in Besitz. Es war, wie es sein sollte. Sie hatte ihn nicht getäuscht. Zufrieden schlief er ein, hinterließ Helga aber in einem verwirrten Gemütszustand. Sie weinte ein wenig, denn sie hatte, auch davon, etwas Wunderbares erwartet. Ziemlich vergebliche Tränen, denn jetzt war ihr Weg endgültig abgesteckt. Das Hochzeitsdatum stand fest, und die Aussteuer war gesammelt, und sie hatte ihre Stelle gekündigt, weil Egon nicht wollte, dass sie »für andere Leute schrubbte«, wenn sie erst einmal verheiratet waren. Ihre Freundinnen waren angemessen neidisch und ihre Eltern zufrieden. Egon war Facharbeiter und stand damit eine kleine Stufe über ihrem Vater, der ihr beigebrachtet hatte, man solle niemals nach unten streben, sich allerdings auch nie »etwas einbilden«.

Helga hatte an diesem Abend kein klares Gefühl, dass etwas Einschneidendes mit ihr passiert war. Trotzdem lag sie lange wach, ohne an etwas Bestimmtes zu denken. Erst im Halbschlaf schwebte ein eigenartiger Wunsch in ihr Bewusstsein: Hätte ich doch bloß einen Regenschirm, dachte sie. Plötzlich kam es ihr so vor, als wäre es genau dieser für manche Menschen so alltägliche Gebrauchsgegenstand, von dem sie schon ihr ganzes Leben träumte. Als Kind hatte sie vor Weihnachten immer Wunschzettel mit vernünftigen, erschwinglichen Dingen geschrieben: eine Puppe, ein Paar rote Fäustlinge, Rollschuhe. Doch sobald die Geschenke an Heiligabend unter dem Baum lagen, geriet sie in eine erwartungsvolle Ekstase. Sie starrte auf die Pakete, als enthielten sie den Sinn des Lebens, und ihre Hände zitterten beim Auspacken. Anschließend weinte sie über die Puppe, die Fäustlinge und die Rollschuhe, die sie sich gewünscht und auch bekommen hatte. »Du undankbares Wesen«, sagte ihre Mutter wütend, »du machst uns alles kaputt.« Das stimmte auch, denn am nächsten Heiligabend oder Geburtstag wiederholte sich die Szene. Sie wusste nie, was sie in diesen festlich verpackten Paketen eigentlich zu finden glaubte. Vielleicht hatte sie schon einmal einen Regenschirm auf den Wunschzettel geschrieben und ihn nicht bekommen. Es wäre allerdings auch albern gewesen, ihr etwas so Lächerliches und Überflüssiges zu schenken. Ihre Mutter hatte nie einen Schirm besessen. Wind und Wetter hatte man so zu nehmen, wie sie kamen, und sollte sich bloß nicht einbilden, Haut und Haar persönlich vor dem Regen schützen zu dürfen, der alles andere durchnässte.

In der folgenden Zeit, in der Helga sich in Gedanken ganz ihrem künftigen Dasein als Ehefrau widmete und gemeinsam mit ihrer Mutter alle Tätigkeiten ausführte, die zu den Pflichten einer Verlobten gehörten, kam es nichtsdestotrotz häufig vor, dass sie nachts wach an der Seite ihres Mannes oder allein in ihrem Dienstmädchenzimmer lag und ihrem sonderbaren Traum von einem Regenschirm nachhing.

Ein bestimmtes Bild formte sich in ihr und verlieh diesem geheimen Gedanken einen Hauch von etwas Verbotenem, Leichtsinnigem, der selbst im wachen Zustand über ihren Gesichtszügen lag wie ein zarter, nicht greifbarer Schleier und ihren Verlobten mitunter zu dem Ausruf veranlasste: »Woran denkst du denn nur?«, verärgert und eifersüchtig, als würde er sie irgendeiner Untreue verdächtigen. Einmal antwortete sie: »Ich denke an einen Regenschirm«, und er erwiderte überzeugend ernst: »Du spinnst ja wohl!« Zu diesem Zeitpunkt hatte er längst aufgehört, Gedichte zu lesen, und er sprach auch nicht mehr von ihren »verträumten Augen«, was jedoch keinesfalls bedeutete, dass er enttäuscht war; vielmehr war sie ein für alle Mal ein Teil seines Lebens und seiner Gewohnheiten geworden. Sie sah unzählige Fußballspiele mit ihm, ohne je zu begreifen, was es mit dieser Unterhaltung auf sich hatte, die andere Menschen dazu bewegte, Hurra zu grölen und sich wie wild zu gebärden.

Das Bild, das sich aus ihrer Erinnerung formte, war folgendes: Sie saß, etwa zehn Jahre alt, auf dem Fensterbrett im Schlafzimmer der Familie und blickte in den Hof hinab, der spärlich vom Licht über der Treppe des Hinterhauses beleuchtet wurde. Sie war im Nachthemd und sollte eigentlich im Bett liegen, hatte es sich jedoch angewöhnt, für eine Weile hier zu sitzen, ehe sie schlafen ging, und in den Abend hinauszusehen, während ein sanfter Friede die Ereignisse des Tages aus ihren Gedanken verdrängte. Dann ging die Tür zur Straße auf, und über die feuchten Pflastersteine des Hofs, auf die in hitzigem Takt Regentropfen platschten, trippelte ein anmutiges, traumgleiches Wesen. Ein langes gelbes Kleid berührte fast den Boden, und hoch über einer Fülle von seidigen Locken schwebte ein Regenschirm. Nicht so wie der Schirm ihrer Großmutter, der rund war,...



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