Döblin | Amazonas | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 896 Seiten

Döblin Amazonas

Fischer Klassik PLUS
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-10-403010-4
Verlag: S. Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Fischer Klassik PLUS

E-Book, Deutsch, 896 Seiten

ISBN: 978-3-10-403010-4
Verlag: S. Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Döblins große Südamerika-Trilogie »Ihr seid in einer grauenhaften Unwissenheit«, sagt der Häuptling am Ende der ?Amazonas?-Trilogie zu den Europäern. Alfred Döblins im Exil entstandenes Erzählwerk veranschaulicht diese koloniale Ignoranz und ist so gesehen auch ein großes Buch der Trauer über die europäische Zivilisation. Darüber hinaus aber ist es der beeindruckende Versuch, dem unbekannten südamerikanischen Kontinent, seiner Natur, dem Wald und Wasser, den Tieren und Menschen, eine Vielzahl von Stimmen, Bildern und Geschichten zu verleihen. Ein opulent erzähltes Romanwerk, das unserer bis heute bestehenden Unwissenheit das ?Wissen? einer Tatsachenphantasie« entgegensetzt, die so überbordend und mitreißend ist wie der Amazonasstrom. Mit einem Nachwort von Alexander Honold

Alfred Döblin, 1878 in Stettin geboren, arbeitete zunächst als Assistenzarzt und eröffnete 1911 in Berlin eine eigene Praxis. Döblins erster großer Roman erschien im Jahr 1915/16 bei S. Fischer. Sein größter Erfolg war der 1929 ebenfalls bei S. Fischer publizierte Roman ?Berlin Alexanderplatz?. 1933 emigrierte Döblin nach Frankreich und schließlich in die USA. Nach 1945 lebte er zunächst wieder in Deutschland, zog dann aber 1953 mit seiner Familie nach Paris. Alfred Döblin starb am 26. Juni 1957.
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Erster Teil Das Land ohne Tod


Erstes Buch Amazonas


Der Auszug der Frauenvölker


Die alte Frau wachte auf, wie der Udu im Walde rief: tru tru, udu, udu. Sie ging von Hütte zu Hütte. Die Frauen kamen heraus, dreißig Frauen und reife Mädchen. Die Alte blieb am Sippenhaus. Vom Hügel gingen sie zum Wald herunter im Gänsemarsch, eine hinter der andern, es blieb viel Platz zwischen ihnen. Im Wald war es dämmerig, der Morgennebel stieg. Auf dem Fruchtbaum schrie der Udu noch immer: tru tru, udu udu. Der Pfad war gewunden. Ein Fels hieß das Gras. Da zogen sie zu dem kleinen Flußlauf herunter. Sie hatten nicht gegessen und nicht getrunken, sie waren ohne Bemalung und ohne Schmuck. Nur die Hüftschnur und den Lendenschurz trugen sie. Es war feucht unten, und der Tau lag. Aber sie hatten keine Matten umgelegt, um die Männer, draußen auf dem Kriegspfad, nicht zu beladen. Sie fröstelten nicht, damit die Männer nicht zitterten. Das Gebüsch am rieselnden Wasser trennte sie, sie sprachen nicht. Langsam waren sie gegangen, um die Männer nicht zu ermüden. Sie stellten sich am dunklen Wasserlauf auf im Schilf.

Warum sprachen sie nicht, warum riefen sie sich nicht, warum hatten sie sich heimlich aus dem Dorf entfernt? Sie hielten jede ein silbriges Stück Bast in der Hand. Keine blickte zur anderen, alle duckten sich an den Boden im Schilf. Und kauernd flüsterte jede zu dem Stückchen Bast herunter, manche schloß die Augen, manche lächelte, jede sprach einen Namen, den eines Mannes, mit dem sie etwas gehabt hatte außer ihrem Mann oder ihrem Liebsten. Um die Untreue machte sie einen Knoten, knotete sie drin ein. Sie ballte den Bast in der Faust, schlug das Schilf vor sich zurück. Aus dreißig Händen flogen die Knoten in das Flüßchen. Das hatten sie jetzt getan, ihre Männer leicht gemacht. Still zogen sie wieder zurück, durch das Schilf, um den Fels herum, eine hinter der anderen.

Das Dorf hieß Krötenloch. Als die Sonne höher stieg, rösteten Frauen Manioca vor ihren Hütten und dem Sippenhaus, andere arbeiteten in der Pflanzung, einige stiegen mit Netzen zum Flüßchen herunter. Wie die Alte an der großen Feuerstelle vor der Maloca, dem Sippenhaus, sich nach einer jungen Frau umsah, die im Topfe Mehl mit Wasser verrieben hatte, war sie nicht da, und die Kinder sagten, sie sei ins Haus gelaufen. Die Alte traf sie hinter dem Haus am Gebüsch, wo sie erbrach und vor der Alten davonlief. Sie ergriff sie: »Warum versteckst du dich?« Weil die junge Frau krank war, rief man einen Medizinmann, der im Dorf geblieben war. Man brachte sie in eine kleine Hütte abseits. Alle sprachen von der Kranken, sie war jungverheiratet. Am nächsten Tage war sie heiß. Der Zauberer nahm seine Rassel und schritt um sie. Im Dorf sprachen sie von der Kranken, sie wagten nicht zu sagen, was sie dachten. Als am Abend noch eine Frau und ein Kind erkrankte, war die Angst groß. Der Medizinmann holte am nächsten Tage aus dem Nachbardorf einen noch älteren Zauberer, sie hießen alle sich mit Ockerfarbe einreiben, um sich zu schützen, dann forschten sie, wer Schlechtes im Dorf getan hätte. Sie hielten zwei alte Frauen für verdächtig, aber niemand im Dorf glaubte es. Man wagte noch immer nicht auszusprechen, was man fürchtete.

In der dritten Nacht brach ein großes Geschrei aus. Im Sippenhaus schrien sie, aus den Nachbarhütten kamen sie über den Hügel gelaufen mit Feuerbränden. Eine Frau im Sippenhaus hatte geträumt, ihr Mann wäre gekommen, er hatte eine Lanze in der Brust, die Lanze saß nicht tief, er konnte sie nicht herausziehen, er bat zu trinken. Wie die Frau wimmerte, war eine andere in ihrer Hängematte aufgewacht. Sie hörten an der Wand ein Poltern. Nun wußten sie, daß ihre Männer draußen lagen, unbeerdigt, und ihre Sachen holen wollten. Seit fünfmal zehn Sonnen waren sie unterwegs. Das Schreien griff auf das ganze Dorf über. Die Papageien auf den Dächern flatterten hoch und krächzten. Im Morgengrauen kam ein Boot mit vier Frauen aus der Nachbarschaft, sie fuhren gleich geängstigt zurück, auch ihre Männer waren im Krieg, fünfmal zehn Sonnen, und gaben kein Zeichen. Sie trommelten die Nachricht in die Umgebung.

Yari-Yari hieß der Wasserlauf in der Nähe. In den Rio Negro ergoß er seine Fluten. Der trug sie zwischen Hügeln, Sandsteppen, Wäldern zum großen Amazonenstrom. In Dampf waren alle Hügel, Wälder und Ebenen gehüllt.

Unter ihren Sonnenschutzmatten hockten die Frauen. Die Kerne des Urucustrauchs waren rot und gelb, sie zerrieben sie mit Palmöl, die Farbe löste sich von den Kernen, sie kratzten sie sich von der Hand ab, taten sie in die Schale. Von der Feuerstätte holten sie Kochtöpfe, kratzten den Ruß aus, taten ihn in die Schale. Währenddessen sprachen sie. Eine Frau säugte ihr Kind, eine ältere spritzte einem Äffchen, das sich wehrte, aus ihrer Brust Milch in den Mund, eine ölte einem Kind das Haar. Die Frauen sagten: »Warum kehren die Männer nicht wieder. Wir haben nichts getan, um sie zu vertreiben. Wir müssen tanzen, damit sie wiederkommen.« Die das Kind säugte, ließ ihre Tränen auf sein kleines Gesicht fallen. Sie schlugen sie: »Warum weinst du? Haben wir in der Nacht nicht genug geschrien? Wir quälen die Männer.« Da lachte die Frau.

Am Wasserlauf stand ein Boot, das die Männer im Bau hinterlassen hatten. Es stand auf zwei Hebelpfosten, sie holten Palmblätter, brannten es am Nachmittag von innen aus, ließen Palmblätter lohen, brannten es außen ab. Das taten sie, damit die Männer fahren konnten. Am Abend ging ein Gewitterregen nieder. Die alten Frauen warteten mit dem Maniocabrei, bis alle vom Fischen herein waren, brieten die Fische. Dann gab es ein lautes Lachen, die Kinder blieben am Feuer vor dem Sippenhaus zurück, die jungen Frauen und die reifen Mädchen verschwanden in den Wohnungen. Sie malten sich schön schwarz mit Ruß und rot mit Urucu an, sie ölten ihre Haare, lustig blitzten die mandelförmigen Augen der Jungen, um den Hals legten sie sich Ketten aus schwarzen Kernen, Arm- und Wadenbänder trugen sie aus roter Baumwolle. Dann sprang eine aus ihrer Hütte, sie war die erste, sie schwang die Tanzrassel und schrie, sie trug ihre Netzdecke auf der Schulter, auf ihrem Kopf saß ein kleiner roter Papagei. Die andern liefen aus den Hütten, schön und glücklich sahen sie aus. Sie reihten sich hintereinander, die Arme vor der Brust verschränkt, wackelten links, wackelten rechts, sie sangen ein Tanzlied, zogen vor das Sippenhaus. Die Kinder und alten Frauen stellten sich auf.

Am Boden zwei Linien, das war ein Fluß, die jungen Frauen sprangen am Ufer entlang, sie wollten herüber, sie waren die Männer. Im Fluß ruderte einer, hatte Palmblätter auf dem Rücken, der Flußgeist. Sie verneigten sich vor ihm, er ließ sie herüber. Sie begrüßten die alten und die andern Frauen. Dann stellten sie sich zu zweit gegenüber, die Köpfe gesenkt, die Hände vor den Augen, Mann und Frau, und weinten Wiedersehen.

Der Tanz war zu Ende, das Dunkel brach herein. Sie lachten und aßen strahlend am Feuer.

Das Sumpfhuhn hämmerte im Wald, die Zikaden zirpten, das Geschrei der Affen hörte auf, langsam begann das Unken der Kröten. Es war Nacht, Sternlicht hing über den Wäldern, Ebenen, Flüssen.

Im Finstern flog ein Pfeil in die Nähe der Feuerstelle. Er bohrte sich in den Boden, zitterte hin und her. Nichts bewegte sich im Dorf. Zwei lange Boote lagen im Schilf, die Leute zogen sich geduckt den Hügel hinauf, sie ahmten das Unken der Kröten nach, warteten bis zur Dämmerung. Jetzt losch ein Stern nach dem andern aus. Sie rannten, stießen ihren Kriegsruf aus, der wie das Toben des Brüllaffen klang. Während die Frauen und die Kinder gell schrien und zu flüchten suchten, zündeten die Räuber das Sippenhaus an. Bei dem Flammenschein sonderten sie die alten von den jungen Frauen und Kindern. Hinter die alten warfen sie Lanzen. Die jungen Frauen und die Kinder trieben sie zusammen.

Das Dorf lohte, aus dem Nachbardorf hörte man trommeln, man hatte das Feuer bemerkt. Die Räuber, Makus, schwarz bemalt, rote Streifen von Ohr zu Ohr, bewaffnet mit Beilen, Lanzen, Pfeil und Bogen, schlugen auf ihre Beute, trieben sie in die Boote. In die Boote stiegen alle jungen Frauen und Mädchen, die noch die Festzeichen von gestern trugen. Das Boot, das sie für die Männer ausgebrannt hatten, ruderte mit ihnen. Oben qualmte ihr Dorf. Es ging in die nassen Wälder.

Bei den Entenleuten, nicht weit, am Uaupesfluß, war Toeza die Frau des Häuptlings. Es war ein großes Dorf, dicht am Wasser. In diesem Dorf waren die Frauen stark. Sie warteten nicht auf die Männer. Es gab Frauen, die konnten Lanzen werfen und Bogen schießen. Aber man nahm keine Frau zur Beratung und keine auf den Zug. Die Männer ließen ihnen gerade ein altes Boot zum Fischen. Die Frauen verstanden aber Einbäume zu machen, damit fuhren sie auf dem Wasser zu den Inseln und Seen. Toeza trug viele Schnüre an Hals, Arm und Beinen. Ihr Mann hatte noch zwei Frauen, sie beherrschte alle. Sie ging in den Wald auf die Jagd. Am Feuer zerlegte sie den Hirsch, den sie geschossen hatte, tat die Stücke auf den Bratrost und sagte: »Wir fangen uns, was wir mögen. Wir essen, was uns schmeckt. Die Arbeit ist schwer, aber leichter, als wenn die Männer da sind. Wir können aufhören, wann wir wollen. Die Kinder gedeihen auch so.« Eine ältere Frau kam, nahm ihr Kind von der Hüfte aus der Tragbinde und setzte sich ans Feuer: »Wir müssen uns in der Pflanzung bücken. Es hat uns noch kein Mann geholfen. Wenn wir jung sind, geht es leicht. Aber wir Alten.« Die Jungen am Feuer...


Honold, Alexander
Alexander Honold, geb. 1962 in Valdivia/Chile, ist Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Lehr- und Forschungsaufenthalte führten ihn u. a. nach New York, Stanford, Santa Barbara, Hamburg, München und Wien. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Kulturtheorie der Moderne, Erzählforschung, Landschafts- und Reisetexte, Literatur und Musik. Publikationen u. a.: »Poetik der Infektion. Zur Stilistik der Ansteckung bei Thomas Mann«, Berlin 2021; »Der Erd-Erzähler. Peter Handkes Prosa der Orte, Räume und Landschaften«, Stuttgart 2017.

Döblin, Alfred
Alfred Döblin, 1878 in Stettin geboren, arbeitete zunächst als Assistenzarzt und eröffnete 1911 in Berlin eine eigene Praxis. Döblins erster großer Roman erschien im Jahr 1915/16 bei S. Fischer. Sein größter Erfolg war der 1929 ebenfalls bei S. Fischer publizierte Roman ›Berlin Alexanderplatz‹. 1933 emigrierte Döblin nach Frankreich und schließlich in die USA. Nach 1945 lebte er zunächst wieder in Deutschland, zog dann aber 1953 mit seiner Familie nach Paris. Alfred Döblin starb am 26. Juni 1957.

Alfred DöblinAlfred Döblin, 1878 in Stettin geboren, arbeitete zunächst als Assistenzarzt und eröffnete 1911 in Berlin eine eigene Praxis. Döblins erster großer Roman erschien im Jahr 1915/16 bei S. Fischer. Sein größter Erfolg war der 1929 ebenfalls bei S. Fischer publizierte Roman ›Berlin Alexanderplatz‹. 1933 emigrierte Döblin nach Frankreich und schließlich in die USA. Nach 1945 lebte er zunächst wieder in Deutschland, zog dann aber 1953 mit seiner Familie nach Paris. Alfred Döblin starb am 26. Juni 1957.



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