E-Book, Deutsch, 480 Seiten
Döblin Schicksalsreise
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-10-403014-2
Verlag: S. Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Fischer Klassik PLUS
E-Book, Deutsch, 480 Seiten
ISBN: 978-3-10-403014-2
Verlag: S. Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Alfred Döblin, 1878 in Stettin geboren, arbeitete zunächst als Assistenzarzt und eröffnete 1911 in Berlin eine eigene Praxis. Döblins erster großer Roman erschien im Jahr 1915/16 bei S. Fischer. Sein größter Erfolg war der 1929 ebenfalls bei S. Fischer publizierte Roman ?Berlin Alexanderplatz?. 1933 emigrierte Döblin nach Frankreich und schließlich in die USA. Nach 1945 lebte er zunächst wieder in Deutschland, zog dann aber 1953 mit seiner Familie nach Paris. Alfred Döblin starb am 26. Juni 1957.
Weitere Infos & Material
Teil II Gestrandet
4. Kapitel Im Flüchtlingslager
Vornotiz über Beziehungswahn
Ehe ich meinen Bericht fortsetze, will ich mich über einen Punkt aussprechen. Diese Geschichte, ich sagte es im Beginn, ist kein bloßer Bericht von mehr oder weniger belangvollen Ereignissen aus dem Sommer 1940. Ich würde diese Vorkommnisse nicht erzählen, wenn sie nicht einen besonderen Charakter trügen, einen in gewisser Weise unheimlichen und aufwühlenden. Worin liegt er: Was soll an den Dingen unnormal sein?
Daß man sich im Krieg verfehlt? Aber man tut es schon im Frieden. Und es ist eigentlich wunderbarer, wenn man sich im Krieg trifft, als wenn man sich verfehlt. Man bedenke: Die Post funktioniert nicht, die Eisenbahn fährt nicht, oder wenn, dann ohne Fahrplan. Dazu hat jeder jetzt einen andern Wohnsitz. Also wie soll man sich treffen. Wieviel muß zusammenkommen, um das Wunder zu ermöglichen, daß sich im Krieg zwei Leute treffen, die sich von entfernten Punkten Frankreichs aufeinander zu bewegen. Aufeinander ist schon zu viel gesagt. Sie marschieren eigentlich ins Blaue, auf die bloße Vermutung hin. Natürlich laufen sie aneinander vorbei.
Der Autor – ich will von mir selbst als von einem andern sprechen – scheint darüber zu stolpern, daß seinem Lager gegenüber an der Chaussee ein Plakat hinge: »16. Mai. Cirkus ohne Bluff.« Und der 16. Mai war grade der Tag, an dem ihn die erste Schreckensnachricht erreichte und er die Feder zum Schreiben hinlegte. Nun, er muß sich nicht an dem Plakat stoßen. Möglicherweise hingen da noch andere Plakate, und er suchte sich, weil er sich unaufhörlich mit seinem Malheur beschäftigte, grade dieses aus, das »einschlägig« schien. Vielleicht hing nebenbei noch eins von einer Dampfwäscherei oder eins, das die Eröffnung einer neuen Schlächterei anzeigte. Die Schlächterei hätte er dann auch symbolisch genommen, als Hinweis auf den Krieg. Sogar die Wäscherei hätte er irgendwo untergebracht. Warum sollte schließlich an dem Zaun nicht ein Plakat vom 16. Mai hängen? Der Cirkus wird wirklich da gewesen sein. Oder glaubt der Autor, man habe das Plakat mit Rücksicht auf ihn hier hingehängt und hängen lassen, in Voraussicht seiner Ankunft und um ahnungsschwer auf seinen 16. Mai hinzuweisen, wenn er dann, der Autor, hier eines Tages auftauchen und sich im Lager vergraben wird? Welch verrückter, lächerlicher Gedanke. Wer soll nach dem 16. Mai planmäßig verhindert haben, daß das Plakat abgerissen oder vom Regen abgelöst werde, damit – es da Ende Juni hinge, um den Autor tief bedeutungsvoll anzuhauchen? Wer soll das ganze Arrangement getroffen und alles vorausgesehen haben?
Und übrigens: was ergibt sich für den Autor aus der ganzen weitläufigen Prozedur? Er gräbt sich in dem Lager ein und ist verstimmt. Das wäre er wahrscheinlich auch ohne das Plakat gewesen. Und man kann wirklich nach so vieler vergeblicher Anstrengung nicht bei guter Laune bleiben. Der Autor scheint böse auf die ganze Welt zu werden, und sein Lager sieht wie ein Schmollwinkel aus.
Es kommt viel Ärgerliches auf dieser Reise vor. Aber Reisen sind nie ein reines Vergnügen. Schlechte Verbindungen, Versäumen der Züge, gehören zum eisernen Bestand von Reisen. Der Autor aber, der das vergißt, verfällt darüber in Weltschmerz, übertreibt und sucht Ursachen in falscher Richtung. Man erlebt das von allen möglichen Bahnstationen, wo plötzlich einem Mitfahrer die Geduld reißt und er gegen den völlig unschuldigen Stationsvorsteher tobt, der den Zug nicht ankommen läßt. Nach einigen Invektiven hüben und drüben beruhigt sich alles wieder.
Hier, 1940, im Krieg, fällt das unvermeidliche Eisenbahnmißgeschick dem Autor in den Schoß, und er wäre nicht, der er ist, wenn er nicht eine Theorie daraus machte, in seiner Griesgrämigkeit geradezu eine Dämonenlehre. Er legt faktisch allen Dingen, die ihm passieren – pardon, mit Auswahl, nur den schlechten – einen tieferen Sinn bei. Er unterschiebt ihnen eine Absicht – in Bezug auf sich, den Autor. Es grenzt an den Beziehungswahn der Paranoia.
Wie setze ich mich zur Wehr ein? Was meine ich? Ich kann wirklich nicht, ohne für verrückt erklärt zu werden, behaupten, daß der Polizeikommissar extra eine Stunde vorher von Mende abgefahren sei, damit ich auf der Chaussee an ihm vorbeifahre und nachher auf der Präfektur über die Tücke des Objekts verblüfft bin. Der Chauffeur, der mich von Le Puy herunterbringt, prellt mich. Gegenfrage: warum soll er mich nicht prellen? Der Mann nützt meine Notlage aus. Schließlich ist nicht alle Tage Krieg.
Ich gebe alles zu. Es ist alles richtig und natürlich. Nur bitte ich, mir zugute zu halten, daß die besonderen Umstände einem schon solche, wenn man will, verrückten Gedanken aufdrängen können. Man wird zugeben, es waren wirklich viel Zufälle für einen einzelnen Mann. Und wenn ich das Ganze als Novelle vortrüge, mit nur halb so viel Zufällen, so würde man mein Produkt als unglaubwürdig ablehnen. Ich konnte schon zu dem Eindruck gelangen: Man treibt mit mir Schindluder, man führt mit mir ein wahres Affentheater auf.
Krieg, Rückzug, Desorganisation, alles in Ehren. Aber schließlich fiel das alles gewiß »nicht nur« auf mich, aber »auch« auf mich. Und ich kann mich wohl auch dazu äußern. Ja, ich möchte in aller Bescheidenheit neben die anerkannt großartigen Dinge, also den Krieg, die Desorganisation, den Rückzug, einen neuen Faktor einführen und bitte, ihm einen Platz einzuräumen. Dieser Faktor bin ich. Wenn ich schon mit den Zügen nicht fahren kann, so möchte ich wenigstens hier nicht den Anschluß versäumen.
Ich soll bei dem allgemeinen Eisenbahnunwesen und Benzinmangel unter die Räder gekommen sein und mich damit abfinden. Nein, so im Ramsch verfährt man nicht mit mir, so souverän und großartig ist das Eisenbahnunwesen und der Krieg nun doch nicht.
Es gehört zur Welt, zu den gewaltigen Eisenbahnen, die mit ihren dicken Lokomotiven nicht fahren, und zu den herrlichen Viehwagen, noch allemal ein Jemand, der sie erlebt und erleidet (denn ein Vergnügen sind sie meist nicht), ein Ich, ein Bewußtsein, und dessen Vorhandensein macht sich auf bestimmten Stufen, in gewissen Augenblicken bemerkbar.
Es macht sich schon bemerkbar, wenn das Ich in Gestalt einer Person im Wagen sitzt und feststellt, daß es nicht fährt. Da kommt es zu einer Gemütsbewegung, und die Größe der Eisenbahn schrumpft zusammen.
Es macht sich aber noch mehr bemerkbar, wenn das Leben von allen Zügen und Bahnhöfen zurücktritt, diese monumentale Größe sich selbst überläßt und sich fragt, was ihm mit ihrer Existenz geholfen ist und wieweit es sie angeht.
Und wenn der Jemand, das Ich, die Person, dann noch weiter zurücktritt, dann findet sie sich plötzlich in Gesellschaft sehr ernster, alter, ja uralter Männer, zum Teil mit Perücken, aus allen Jahrhunderten, Männer, die gar nicht verrückt aussehen und sich als Philosophen und Weise zu erkennen geben. Sie meinen: es sei in der Tat so. Diese sichtbare Welt sei verwöhnt und spiele sich seit langem sehr selbständig auf. Man solle sich aber dadurch nicht irre machen lassen und nicht darauf hineinfallen. Man täte sogar der Welt selber keinen Gefallen. Denn sie könne es bei sich allein gar nicht aushalten, so wenig wie ein Eisenbahnzug es ohne Passagiere aushält. Die Welt und das Ich gehören, wie sie es auch anstellen und wie sehr sie sich verzanken und verkrachen, zusammen. Die Welt sei nicht vom Ich abzutrennen und abzulösen. Sie trete überhaupt nur unter der treuen Hut eines Ichs, einer Person auf. Von einer absoluten und bloß »objektiven« Welt sei nirgendwo etwas zu merken. Man könne sicher sein: die Welt ist auch unsere Welt.
Dieser gelehrte Zuspruch stützt natürlich angenehm meine Position. Ich kann nur nicht recht finden, daß die alten Weisen, die mir so wohlwollend beistehen, es wirklich ernst mit ihrer Erkenntnis meinen. Sie gehen mir nicht aktiv genug gegen den täglich neu bewiesenen Hochmut der Lokomotiven, Kriege und Viehwagen vor, gegen den Irrsinn einer »objektiven« und von uns unabhängigen Welt. Sie führen ihre Gedanken nicht zu Ende, sie lassen sie nicht fruchtbar werden. Sie zeigen nicht, wie weit, wie kräftig und tief das Ich seine Wurzeln in diese Welt hineinsenkt, – wie diese Welt dadurch bis in ihre Substanz hinein, in die Art und den Charakter ihrer Erscheinungen hinein von dem Ich abhängig und durchdrungen wird.
Mögen kluge Physiker und Naturforscher zeigen, wie sehr ich »Natur« bin, Physiologie, Fleisch, Materie, ein dürftiger und rasch welkender Grashalm (auch das soll man nicht so roh hinsagen, auch das will erlebt und erfaßt sein). Wir wollen festhalten, mit und ohne Hilfe der alten Weisen, daß das Ich tief und noch tiefer in die Welt hineinragt.
Mehr als man ahnt, sind die Vorgänge der Welt, der Natur und Geschichte unsere Vorgänge. Sie sind, mehr als man ahnt, persönlich. Man erklärt die Dinge »kausal«, und ist stolz darauf, festzustellen, daß in der Natur eine »eherne Notwendigkeit« herrscht, wo alles aus dem andern folge, eins das andere begründe, und da gäbe es nichts weiter zu fragen. Ziele, Zwecke, Absichten, Gefühle, Gedanken sind von der Szene verbannt und haben sich als unreine Tiere unter die niedrigen Völker zu verkriechen.
Ich denke: die Paranoiker leiden an Beziehungswahn – der Normale am Wahn der Beziehungslosigkeit.