Döblin Schriften zur Politik und Gesellschaft
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-10-403300-6
Verlag: S. Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Fischer Klassik PLUS
E-Book, Deutsch, 512 Seiten
ISBN: 978-3-10-403300-6
Verlag: S. Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Alfred Döblin, 1878 in Stettin geboren, arbeitete zunächst als Assistenzarzt und eröffnete 1911 in Berlin eine eigene Praxis. Döblins erster großer Roman erschien im Jahr 1915/16 bei S. Fischer. Sein größter Erfolg war der 1929 ebenfalls bei S. Fischer publizierte Roman ?Berlin Alexanderplatz?. 1933 emigrierte Döblin nach Frankreich und schließlich in die USA. Nach 1945 lebte er zunächst wieder in Deutschland, zog dann aber 1953 mit seiner Familie nach Paris. Alfred Döblin starb am 26. Juni 1957.
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[Die Frau in der Klassengesellschaft]
[…]
Die erste Frau war die erste Sklavin des Mannes, ein Dienstbote, ein Lustwerkzeug unter andrem Titel. Doch wir wollen in Ordnung die jetzige Stellung der Frau betrachten.
Unsere Gesellschaftsform hat drei Klassen gezeitigt, die haarscharf sich trennen: Die oberen Zehntausend, besser die Aristokratie, der wohlhabende Bürgerstand, das Proletariat.
Von der ersten Klasse habe ich schon oben gesprochen. In dieser Klasse ist die Frau ungefesselter, man kann fast sagen frei. Größtenteils sind die Ehen durch eine Geldheirat geschlossen; die Tochter hat sich dem Willen des hohen Vaters zu fügen, unweigerlich. Die Ehe, welche Ehe führen sie aber auch! Die Ehe ist zersetzt, moralisch, zersetzt durch den Besitz: das Familienleben zerfließt und zerflattert in alle Winde. Es lebt der Mann, es lebt die Frau, charme à son goût, in der Familie gilt die Frau aber fast stets als Luxusmöbel, Repräsentantin und Dekorationsstück. Auch die Erziehung der Kinder liegt in fremden Händen; die Frau hat wenig Einfluß auf die Art und Weise des Erziehens, stets hat der Mann das Wort. Sonst aber ist die Frau ungebunden, im Leben, im Verkehr. Oft lebt man auch um des lieben Friedens willen getrennt wie Kaiser Wilhelm I und Kaiserin Augusta, doch nach aussen darf nichts, absolut nichts dringen von dem Familienleben. Ja, so etwas ist modern!
[…]
Ganz anders, familiär, steht es mit dem Bürger, dem gebildeten Manne des »Volkes«. Das ist der Stand, dem bekanntlich die Religion erhalten werden muß. Man sagt, die Religion ist die transscendentale Widerspiegelung des jeweiligen Gesellschaftszustandes. Wollen also die »Großen« des Staats, dem soll Religion erhalten werden –, ich glaube, jeder kann weiterschließen.
Doch ich will ja von der Frau reden, nicht von der leidigen Religion.
Von dieser Bürgerkaste ist wohl zuerst der Ruf erschollen von dem »Naturberuf der Frau«, denn hier allein ist Raum für solche Gebilde. In diesem Kreise hat fast jede Familie einen gewissen Wohlstand, dann ist »natürlich« die Frau Hausfrau, Mutter, glücklichenfalls auch Schwiegermutter. Denn es ist hergebracht, wie gesagt, daß die Frau im Hause bleibt; – daß man sich in dem Volke der Denker wohl langsam erinnern wird, es giebt um zu essen, noch Restaurants etc. Speiseanstalten, hat große Aussicht. Es würde damit die »Hausfrau« stürzen. Und wegen des Wohlstandes, wegen einer gewissen Zufriedenheit mit dem sichern Alten (es giebt, bei Gott, nichts Kulturwidrigeres als die Zufriedenheit), darum ist hier auch solch Ideal einer Mutter und Hausfrau häufig.
Doch wie überall, so auch hier: der Ehevertrag ist ein Kaufvertrag. Die Bildung der Frau ist entsetzlich einseitig beschränkt, meistens die berühmte Bildung der »höheren Töchter«: Perfekt französisch, Schlachtengeschlage, und andere Spielereien. Doch keine Idee von dem furchtbaren Kampfe der Menschen um Erwerb, um Sein und Nichtsein, dem Kampfe der sich selten offen zeigt, wie bei dem neulichen Streik der Konfektion. Allerdings besteht zwischen ihnen und den Gymnasiasten kein großer Unterschied, die in den seltensten Fällen zu sehen verstehen oder sich um »solchen Unsinn« garnicht kümmern. Haben sie doch noch soviel Zeit! Und unter diesen gebildeten Töchtern diese Unkenntnis von der Wichtigkeit, der Bedeutung der geschäftlichen Funktionen. Treten doch oft »Fräulein« in die Ehe, ohne eine Ahnung von den Anforderungen zu haben, die an sie gestellt werden, von ihren Pflichten.
Ja, die ganze Pflicht ist es wohl, den Mann zu lieben, nicht wahr? Welche Art diese »Liebe« ist, darauf will ich nicht näher eingehen, diese Tierchen lieben an ihrem Manne eben nur den Mann. Doch das ist natürlich. Hier ist das Wort natürlich in seiner vollen Bedeutung aufzufassen: von der Natur veranlaßt.
Der Mensch ist zuerst Mensch und erst darauf Alles andre. Sein Körper verlangt seine Rechte.
Es darf kein Glied des Körpers vernachlässigt werden, bei Strafe der furchtbarsten Krankheiten. Und wer es wagt, der Natur zu trotzen, seine »tierischen Triebe« zu unterdrücken, er wird in diesem Kampfe gebrochen unterliegen.
Tierische Triebe!
Was ihr tierisch nennt, ist das einzige natürliche bei unserer Gesellschaft.
[…]
Der Kapitalismus treibt die Frauen in dieser Mittelklasse zu dem Kampfe um die Universität.
Deutschland muß sich das erst überlegen. Es überhastet sich nicht gerne.
In diesen »Kern« des Volkes haben unsere Dichter das Frauenideal hineingedichtet, das Ideal eines Geibel, Chamisso, Heyse etc. Ihre Frauen sind ganz famos. Ihre Gedanken, all ihr Sein ist eine einzige unermeßliche Traum-Schlafseligkeit, und wir besitzen eine gewaltige Galerie flacher unbedeutender Frauengestalten aus dieser Zeit. Unsre Modernen suchen noch die Frau, die neue Frau. Ich glaube, sie wird in der Wirklichkeit eher vorhanden sein, als sie sie finden. Doch – genug von dem Bürgerstand, den Bourgeois. Dies alles ist die Damenfrage gewesen.
Wir kommen nun zur Frauenfrage, die ernster, viel ernster ist. Denn hier handelt es sich nicht um Universität etc., das Leben will man sich erobern! In frühester Jugend wird das Mädchen angehalten, zu verdienen, möglichst an Selbständigkeit zu denken. Bald soll sie sich selbst ernähren, denn die Eltern haben für sie nichts übrig. Gelernt wird auf der Gemeindeschule das Allernotwendigste. Für bessere Bildung fehlt Zeit – Geld.
Bei dem riesigen Angebot von Arbeitskräften ist man froh, überhaupt ein Unterkommen zu finden. Auf große Ansprüche verfällt das Mädchen garnicht erst.
So übernimmt sie für einen Hungerlohn jede, jede Arbeit, schwieriger als die des Mannes, selbstredend viel weniger bezahlt, ist sie doch nur eine – Frau!
Verheiratet, kann sie nicht den Tag über daheim bleiben. Es heißt verdienen, den Mann unterstützen, die Familie ernähren, Kinder auffüttern, von Mutter und Hausfrau nicht die Rede, aber sie ist eine Frau, die gleichverpflichtete des Mannes.
Unverheiratet ist die Frau den größten Gefahren ausgesetzt. Um nur einigermaßen einen Begriff von dem Lohn eines Mädchens zu machen, will ich einige Zahlen anführen. Die Arbeiterinnen der Papierindustrie treten in Ausstand, um einen Lohn von 13,50 M pro Woche zu erzielen. Wie müssen die Löhne also bis jetzt gewesen sein! In der Bekleidungsindustrie ein Durchschnittslohn von 6–9 M wöchentlich, in der Perlindustrie 5–6 M, und die Schürzenarbeiterinnen erhalten kaum 3–4 M!!
Pfui!!
Elende Ausbeutung!
Und diese armen Wesen haben noch furchtbare Konkurrenten, die ihnen selbst dies wenige nehmen.
Und wer sind die?
Es sind die Frauen der kleinen Beamten, die sich für ihr »standesgemässes« Auftreten ein verdienen wollen!
Mit diesem Lohne vergleiche man die Ausgaben eines Mädchens, Ausgaben, um nur das Leben zu fristen. Und das ist das Entsetzliche, – – aus diesem jammervollen Leben sie sich retten; es giebt eine Rettung – eine Rettung – – die Prostitution! – – – – – – – Und wieder und immer wieder der Satz: Der Mensch ist ein Mensch!
Ein unerbittliches Naturgesetz sagt, du mußt deinem Geschlechtstriebe folgen!
Und unsre Gesellschaft sagt, du mußt heiraten! Und heiraten können heißt, Geld zur Ernährung einer Familie besitzen. Besitzst du kein Geld, und willst du »lieben« – so giebt es eine Prostitution. Und du kannst auskömmlich leben und brauchst dich nicht zu schinden. So ist unsere Sitte beschaffen.
Sitte ist, was einem Gesellschaftszustande Bedürfnis ist. Möge jeder selbst folgern.
In Berlin sollen allein 20000 Prostituierte sein, eine Zahl, die sicher viel zu niedrig gegriffen ist.
Daß gerade Berlin so stark mit Prostituierten bevölkert ist, – denn ich darf sagen, bevölkert –, erklärt sich leicht aus dem Aufschwung seiner Maschinen etc. etc. Industrie, deren größere Verbesserung jedesmal eine Menge Arbeiter überflüssig macht und so seine Arbeiterinnen prostituiert.
Herrliche Zustände wahrlich! Jede Vervollkommnung ist mit dem Zugrundegehen von 1000den Menschen zu bezahlen!!! Die Choristinnen der Theater sind mit seltenen Ausnahmen fast sämtlich Prostituierte. Um so eher, so mehr sie das Unglück haben, schön zu sein. Für einen entsetzlichen Lohn müssen sich diese Mädchen ernähren, weiterfortbilden, und noch die allerteuerste Toilette selbst stellen! Die Polizei meint es mit den Leuten, welche die Mädchen prostituieren, sehr gut. Wöchentlich muß sich die Arme untersuchen lassen, ob sie nicht ansteckend krank ist, damit der Betreffende ja keinen Schaden nähme!
Der Staat erklärt mit diesem Organisieren die Zivilehe für nicht ausreichend.
Dieses Entkleiden vor den Polizeiärzten, dieses Betasten en masse, es muß auch die letzte Scham in den Unglücklichen töten. Oft sind es gar nicht schlechte Mädchen, die sich so entwürdigen. Ein Beispiel, das charakteristisch ist, will ich anführen.
Ein Schreiber Namen X verdiente monatlich – 40 M, woraus er die Frau und zwei Kinder zu ernähren hatte. Die Gattin unterstützte ihn nach Kräften. Der Mann wurde entlassen. Mit Einwilligung des Mannes prostituierte sich die Frau. Die Sache wurde der Polizei bekannt. Eines Tages brachte ein Schutzmann die Aufforderung an Frau X, sich um...