Dölling / Büscher / Siggelkow | Du bist sowas von raus! | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Dölling / Büscher / Siggelkow Du bist sowas von raus!

Echte Geschichten aus der Arche

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

ISBN: 978-3-522-63041-2
Verlag: Gabriel in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Mit interessantem Zusatzmaterial: einem Interview mit der Autorin Beate Dölling zur Entstehung des Buches und Informationen über das Kinder- und Jugendwerk "Die Arche".
Dölling / Büscher / Siggelkow Du bist sowas von raus! jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


23:50 Uhr, der Mond scheint. Lilly steht vor der Haustür. Gut, dass sie nicht so eine Mutter hat wie Bille, die kontrolliert, wann man nach Hause kommt. Mama macht da keinen Stress. Lilly kann auch unter der Woche so lange wegbleiben, wie sie will. Das Klingelschild ist frisch übersprüht, diesmal in Rot. Sie steckt den Schlüssel ins Schloss, die Tür geht auf. Dauert mal wieder ewig, bis der Fahrstuhl kommt. Im Treppenhaus Fernsehstimmen, sonst ist es still, niemand brüllt herum, niemand knallt eine Tür, kein Kindergeschrei. Die letzten Meter stottert der Fahrstuhl. Das erinnert sie an Thorben, aus ihrer Klasse. Der stottert auch. Wenn sie den nachäfft, wird er ganz rot und kann gar nicht mehr sprechen. Voll witzig. Im Fahrstuhl riecht es nach Urin und Pommes. Kann auch Pizza sein. Fettig halt. Irgendwas aus dem Ofen. Letztens hat sie auch in den Fahrstuhl gepinkelt. Nicht aus Not, nur so aus Spaß, sie war das einzige Mädchen. Mief und Struzzi und noch zwei Kumpels waren dabei und haben sich schiefgelacht. Sie hat im Stehen gepinkelt, wie die Jungs, einfach ihre kurze Hose und die Unterhose ein bisschen zur Seite geschoben. Sogar einen Bogen hat sie hingekriegt, bis an die Tür. Da staunten die Jungs aber. Der Kumpel von Struzzi wollte dann bei ihr mal anfassen, da wo der Strahl rauskam, aber sie lässt sich doch nicht von dem befummeln! Was denkt der sich denn! Ist der blöd, oder was?   Schade, dass man die Fahrstuhltür nicht zuknallen kann. Das würde jetzt schön durchs Haus hallen. Sollen ruhig alle hören, dass sie kommt. Mama trifft sie schon im Flur. Nanu? »Hallo mein Schatz!« Mama ist total gestylt, hat glasige Augen und Besuch. Herrenbesuch, sonst würde sie nicht so strahlen, sondern längst auf dem Sofa liegen und ratzen, mit vollem Aschenbecher vor sich auf dem Boden. Morgens stolpert sie dann drüber und kickt die Kippen bis unters Sofa. Da liegen sie dann bis zum Sankt Nimmerleinstag. Das ganze Sofa riecht nach kalter Asche. »Dit is meine Große«, ruft Mama ins Wohnzimmer und bläst Rauch knapp an ihrem Gesicht vorbei. »Nu jeh ma hin und sach Hallo«, flüstert Mama ihr zu und fängt an zu husten. Sie muss meistens husten, wenn sie leise spricht. Rumbrüllen reinigt die Lunge. Meine Große! – Das hat sich ein bisschen stolz angehört, wie Mama das gesagt hat. Lilly rührt sich nicht. Möchte es noch mal hören: »Schatz« oder »Große«. Mama hat sich voll geschminkt. Blauer Lidschatten, Wimperntusche, roter Lippenstift, jede Menge Make-up, was ihr schon am weißen Kragen klebt. Wo hat sie überhaupt die weiße Bluse her, und dann noch gebügelt? Sie haben nicht mal ein Bügeleisen. Die Haare sehen auch ganz anders aus, hochgesteckt und lockig. Sowas kriegt sie nie allein hin. War sie etwa beim Frisör? »Nu jeh endlich ins Wohnzimmer und sach Hallo!« Warum ist sie denn so ungeduldig? Mama wischt ihr mit dem Daumen was von der Wange. Lilly zieht den Kopf weg. Mama checkt kurz, was sie anhat, und sagt, sie könne die Schuhe ruhig anlassen. Sie weiß ja, dass Lilly zwei verschiedene Socken trägt, mit Löchern. Lilly hat überhaupt keine Socken, die zusammenpassen. Stört Mama doch sonst auch nicht. »Wolfgang, bleib da, sie kommt gleich!«, ruft sie laut ins Wohnzimmer und kichert. Lilly schätzt, dass sie mindestens schon eine Flasche Sekt und vier Feiglinge intus hat. Kann auch noch Bier dazugekommen sein, aber Bier trinkt Mama meistens nur in der Kneipe, weil der Sekt da zu teuer ist. Die Asche fällt von der Zigarette. Mama trippelt in die Küche. Sie trägt schwarze High Heels. Die sind auch neu. Ihre Knie scheuern bei jedem Schritt aneinander. Mama hat X-Beine und mit Stöckelschuhen sieht man das erst richtig. Sie versenkt die Kippe in einer halb leeren Kaffeetasse. Es zischt. Dann streicht sie sich den Rock zurecht. Den hat Lilly auch noch nie gesehen.   Lilly geht ins Wohnzimmer, will sich den Spacko doch mal angucken. Er sitzt im Fernsehsessel, breitbeinig, Arme auf den Lehnen, Kopf im Nacken. Kurze, gegelte Haare, strahlend weiße Zähne. Wow, wo hat Mama den denn aufgegabelt? Sieht original aus wie Dieter Bohlen. »Das ist Lilly, meine Große.« – Ja, da schwingt tatsächlich ein bisschen Stolz mit. Lilly wird warm im Bauch. Am liebsten würde sie die Worte festhalten. »n’Abend«, sagt sie. So förmlich war sie schon lange nicht mehr. Dieter Bohlen strahlt sie mit hellblauen Augen an. Mann, was für Augen! Wie ein Husky. Sie hätte ja so gern einen Hund, aber Mama sagt, das kommt gar nicht inne Tüte. »Ick bin der Wolfgang«, sagt er. »Und du bist also die Lilly.« Sie beißt sich auf die Lippen, nickt. Das erste Mal, dass Mama sie offiziell »Lilly« nennt. Sie hatten vor ein paar Wochen ausgemacht, sie nicht mehr Amanda oder Mändi zu nennen, weil Mama diesen Scheiß-Namen einfach nicht mehr über die Lippen kriegte. War voll ausgerastet, von einer Minute auf die andere, hatte sie angeguckt, als sei sie ein Alien. »Ab jetzt heißt du Lilly.« – Lilly ist ihr zweiter Name. Von ihr aus konnte Mama sie nennen, wie sie wollte, Hauptsache, sie beruhigte sich wieder und guckte sie nicht mehr so hasserfüllt an. Bis auf ein paar Versprecher hatte es auch ganz gut geklappt. Mama war viel fröhlicher dabei. Warum sind sie bloß nicht früher auf die Idee gekommen, sie Lilly zu nennen, den Namen, den Mama für sie ausgesucht hatte.   Wolfgang hat einen Bauch, eine ziemliche Kugel sogar, die er geschickt unter der Anzugjacke versteckt. Aber sonst rank und schlank der Mann! Und dann dieser Anzug! Anthrazitfarben nennt man das. Obwohl, wenn man richtig hinguckt, glänzt der Stoff irgendwie speckig und am Jackett fehlt der untere Knopf. Das weiß-blau gestreifte Hemd spannt über seiner Wampe. Hinter ihr gackert Mama. Macht Scheibenwischerbewegungen vor dem Gesicht. Das sieht Lilly gerade noch, als sie sich umdreht. Der Mann gackert mit. Was soll das denn jetzt? Sind die schon so hacke, oder was? Besser, sie verzieht sich. Aus dem Kinderzimmer kommen keine Geräusche mehr. Die Kleinen schlafen. Gut. Dann kann sie gleich in ihre »Kajüte«. Die »Kajüte«. Das ist der Wandschrank im Flur. Den hat sie sich letzten Winter mit einem Kumpel ausgebaut, weil sie nicht länger bei ihren Geschwistern im Zimmer schlafen wollte auf einer Matratze, zwischen Stockbett und Gitterbettchen. Mama schläft auf dem Ausziehsofa im Wohnzimmer und hat das Gitterbettchen nur im ersten Jahr bei sich gehabt. »Irjendwann muss ick och ma Feierabend haben, schließlich halt ick hier den Laden am Loofen!«, hatte sie gesagt, und von da an war Lilly nachts für die Zwillinge zuständig. Als sie zwei wurden, hat sie sich den Wandschrank auf dem Flur ausgebaut. In Lillys Kajüte ist es eng, aber gemütlich, der einzige Platz, den sie ganz allein für sich hat und wo sie die Tür zumachen kann. Sie hat Bindfäden an den Türknauf geknotet und zieht sie von innen zu. Von der Schaumstoffmatratze musste sie ein Stück abschneiden, damit sie reinpasst. Sie liegt auf zurechtgesägten Palettenteilen, genau zwischen den Wänden eingepasst. Okay, sie kann neuerdings die Beine nicht mehr ausstrecken, wenn sie auf dem Rücken liegt, aber das muss sie auch nicht. Entweder stemmt sie die Beine schräg hoch, gegen die Wand, oder schläft auf der Seite, mit angewinkelten Knien. Oben in der Schranktür sind Luftschlitze. Hat sie selbst reingesägt. Da fallen jetzt Lichtstreifen durch. Vielleicht wird sie später mal Tischlerin.   Kurz nach halb zwei rummst es. Irgendwas ist im Wohnzimmer umgefallen. Wahrscheinlich die Stehlampe. Die fliegt immer als Erstes, später können Flaschen, Aschenbecher, Gläser folgen, je nach Temperament des Typs, den Mama anschleppt. Einer ihrer letzten Ex’, Tom, hatte die Stehlampe noch repariert, bevor er den Abgang gemacht hat. Hat sogar einen neuen Lampenschirm besorgt. Tom war ein richtiger Kontrollfreak. Wenn der einen Krümel entdeckt hat, wo er nicht hingehörte, rastete er gleich aus. Einmal hat er ihrem Bruder Micky eine gedröhnt, weil er seine Schuhe mitten im Flur stehen gelassen hatte und Tom drübergestolpert war. Aber sonst war er relativ friedlich. Nichts gegen den Vater der Zwillinge. Der hat Mama vermöbelt, wenn ihm gerade danach war. Gut, dass sie den endlich los sind, diesen Arsch! Hat ja lange genug gedauert, bis Mama den Absprung geschafft hat. Worüber Mamas Neuer wohl ausrastet? Im Durchschnitt dauert es zwei bis drei Wochen, bis sich die Männer eingelebt haben und hemmungslos werden.   So, wie sich das anhört, geht drüben im Wohnzimmer gerade was ganz anderes ab. Das Sofa quietscht, Mama kichert, hustet und stöhnt. Lilly hält sich die Ohren zu. Irgendwann schläft sie ein und dann klingelt auch schon ihr Wecker. Aus dem Wohnzimmer ist nichts zu hören, nur aus dem Kinderzimmer der Fernseher. Seitdem Mama den neuen Flachbildschirm hat, haben Micky, Ramona und die Zwillinge den alten gekriegt. Shaleen und Shirley sind also schon wach. Das ist nichts Neues, sie schlafen immer nur für ein paar Stunden und dann krabbeln sie vor die Glotze. Am liebsten würde Lilly einfach liegen bleiben, aber das gibt nur Ärger. Mama hält ihr dann wieder vor, dass sie zu nichts zu gebrauchen sei, wenn sie nicht mal ihre kleinen Geschwister morgens fertig machen könne. »In deinem Alter musste ich schon ganz andere Verantwortung übernehmen«, kriegt sie dann zu hören. Mama hatte sieben Geschwister, die sie versorgen musste, sie war die Älteste. Jetzt will sie auch mal was vom Leben haben, sie ist ja noch nicht mal dreißig! Lilly quält sich aus der Kajüte. Morgens ist sie immer so steif. Sie geht ins Bad, bisschen kaltes Wasser ins Gesicht lassen, dann ins Kinderzimmer. Sie kriegt kaum die Tür auf. Mein...


Büscher, Wolfgang
Wolfgang Büscher ist Journalist, Autor und Medienberater. Er schrieb jahrelang für verschiedene Zeitungen als Bonn-Berichterstatter, war als Radiomoderator tätig und arbeitete als Medienberater für zahlreiche große Unternehmen. Als politischer Journalist war er zudem Mitglied der Bundespressekonferenz. Seit 2002 lebt er in Berlin. Dort wurde er Pressesprecher des Kinder- und Jugendwerks „Die Arche“, mit deren Gründer und Leiter, Pastor Bernd Siggelkow, er bereits mehrere Bestseller über die Armut und Verwahrlosung von Kindern in Deutschland veröffentlichte.

Dölling, Beate
Beate Dölling, 1961 in Osnabrück geboren, sprudelt vor Ideen und macht immer fünf Dinge gleichzeitig. So ist es ganz normal, dass sie als Rundfunkjournalistin, als Rezensentin für Zeitungen und Zeitschriften und als Dozentin an der Volkshochschule tätig ist. Nebenher leitet sie Schreibwerkstätten, wurde mehrfach mit Literaturstipendien ausgezeichnet und schreibt Kinder- und Jugendbücher.
Ihre Themen sind aus dem Alltag gegriffen und zum Schreiben braucht sie Leben um sich: Ob zuhause mit ihrer Tochter, im Zug oder Café. „Wenn mich ein Text drängt, kann ich überall anfangen zu arbeiten und in jeder Atmosphäre“, erzählt sie.
Sie lebt und arbeitet in Berlin.

Siggelkow, Bernd
Bernd Siggelkow wuchs in Hamburg-St. Pauli auf und kam über die Hamburger Heilsarmee zum christlichen Glauben. Nach einer kaufmännischen Ausbildung studierte er Theologie an einem Theologischen Seminar der Heilsarmee. Nach seiner Ordination arbeitete er als Pastor.

Der Leiter und Gründer der „Arche“ wurde für sein Engagement mit dem „Verdienstorden des Landes Berlin“ sowie dem „Bundesverdienstkreuz“ ausgezeichnet.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.