E-Book, Deutsch, 267 Seiten
Doerr Die Tiefe
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-406-69252-9
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stories
E-Book, Deutsch, 267 Seiten
ISBN: 978-3-406-69252-9
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die sechs Stories dieses Bandes, angesiedelt auf drei verschiedenen Kontinenten, handeln von Erinnerung und Liebe. In jedem Augenblick, sagt Anthony Doerr, verschwinden überall auf der Welt unzählige Erinnerungen, dabei sind sie es, die unserem Leben Sinn und Zusammenhang verleihen. Gleichzeitig erforschen Kinder neues, unbekanntes Terrain, formen frische Erinnerungen, erfinden die Welt neu.
In „Die Memel“ zieht ein verwaistes Mädchen zu ihrem Großvater nach Litauen und entdeckt eine Welt, in der Mythen real werden. In „Dorf 113“ geht es um den Bau des Drei-Schluchten-Damms und um die Samenhüterin, die auch die Geschichte des Dorfes bewahrt, das bald überflutet werden wird. In „Nachwelt“, einer erschütternden, unvergesslichen Geschichte, wird eine Frau, als einzige Überlebende aus einem jüdischen Waisenhaus in Hamburg dem Holocaust entronnen, von Visionen ihrer Kindheitsfreundinnen heimgesucht, findet aber Trost in der zärtlichen Fürsorge ihres Enkelsohns. „Die Tiefe“, angesiedelt im Detroit der dreißiger Jahre, erzählt die melancholische Liebesgeschichte von Tom und Ruby, die Tom wegen seiner Herzschwäche in Lebensgefahr bringt. Doerr erzählt von fast mystischen Momenten, in denen die Zeit aufgehoben scheint und die Toten anwesend sind. Die Welt wird transparent, wenn dieser große Erzähler sie und ihre Bewohner beschreibt.
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Die Tiefe
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Tom wird 1914 in Detroit geboren, kaum einen halben Kilometer von International Salt entfernt. Sein Vater ist verschwunden, keiner weiß, wohin. Seine Mutter betreibt eine zugige Pension mit sechs Zimmern, hinter deren verschlossenen Türen die mageren Besitztümer von Wanderarbeitern aus dem Salzbergwerk schlummern: mausgraue Mäntel, ramponierte Arbeitsstiefel, Kupferstiche entkleideter Frauen mit bleich orangenfarbenen Brüsten. Alle halbe Jahre wird ein Bergarbeiter entlassen, muss zur Armee oder stirbt und ein neuer ersetzt ihn, sodass Tom schon sehr früh sieht, wie die Welt ihre jungen Männer verliert, von denen nur wenig zurückbleibt: leere Tabaksbeutel, Klappmesser mit abgebrochenen Klingen, salzverkrustete Hosen, stumm, ohne Gedächtnis.
Tom ist vier, als er das erste Mal ohnmächtig wird. Er biegt um eine Ecke, atmet schwer, und die Lichter gehen aus. Die Mutter trägt ihn nach drinnen, setzt ihn in einen Sessel und schickt jemanden los, um den Arzt zu holen.
Ein Atriumseptumdefekt. Ein Loch im Herz. Der Arzt sagt, Blut schwappt von der linken auf die rechte Seite. Das Herz muss dreimal so hart arbeiten. Toms Lebenserwartung liegt etwa bei sechzehn Jahren. Achtzehn, wenn er Glück hat. Das Beste wäre, wenn er sich möglichst nicht aufregt.
Die Mutter übt sich im Flüstern. Komm her, sieh mal, mein süßer kleiner Tommi-Schatz. Sie stellt Toms Kinderbett in eine Kammer oben im Haus. Kein helles Licht, kein Lärm. Morgens bekommt er ein Glas Buttermilch, dann gibt sie ihm einen Besen oder einen Bausch Putzwolle. Ganz langsam, murmelt sie. Er putzt den Kohleofen und fegt die Marmorstufen. Zwischendurch blickt er von der Arbeit auf und betrachtet das Gesicht ihres ältesten Gastes, Mr Weems, wie er die Treppe herunterkommt. Mr Weems ist fünfzig, hat sich gegen die Kälte eine Kapuze über den Kopf gezogen und wird gleich mit einem Aufzug dreihundert Meter in die Tiefe fahren. Tom stellt sich die Fahrt vor, düstere Lichter, die hin und wieder vorbeiziehen und verschwinden, Drahtseile, die zittern und schlagen, ein halbes Dutzend weiterer Männer neben ihm in den Korb gepfercht, jeder seine eigenen Gedanken denkend, Männergedanken, während sie in diese Stadt unter der Stadt sinken, wo Maultiere warten, Öllampen an den Wänden brennen und sich glitzernde Salzgewölbe in mächtigen Säulengängen bis hinter die letzten Lichter erstrecken.
Sechzehn, denkt Tom. Achtzehn, wenn ich Glück habe.
Die Schule hat drei Räume für den Nachwuchs von Hüttenarbeitern und Männern aus den Salz- und Kohlebergwerken, irische, polnische und armenische Kinder. Für Mutter erscheint der Schulhof als ein tausend Morgen großes brodelndes Pandämonium. Renne nicht und streite nicht, flüstert sie. Keine Spiele. Am ersten Tag holt sie ihn nach einer Stunde aus der Klasse. Schschsch, sagte sie und legt ihre Arme um seine.
Während der ersten Jahre geht Tom mal in die Schule, mal nicht. Manchmal behält sie ihn wochenlang zu Hause. Mit zehn hängt er in allem hinterher. Ich versuche es, stammelt er, doch die Buchstaben fliegen von den Seiten und prallen gegen die Fensterscheiben. Hohlkopf, sagen die anderen Jungen, und Tom denkt, sie haben Recht.
Tom fegt, schrubbt und scheuert die Stufen mit einem Bimsstein sauber, Zentimeter für Zentimeter. Transusiger geht’s kaum, sagte Mr Weems, aber er zwinkert Tom dabei zu.
Jeden Tag, von morgens bis abends, findet das Salz seinen Weg ins Haus. Es verkrustet die Waschbecken und setzt sich auf den Rändern der Fußleisten fest. Es rieselt auch aus den Pensionsgästen: aus Ohren, Stiefeln, Taschentüchern. Mit täglich neuer Heimtücke bilden sich glitzernde Furchen in den Bettlaken.
Fang am Rand an und arbeite dich bis zur Mitte vor. Wäsche am Donnerstag, die Toiletten am Freitag.
Er ist zwölf, als Ms Fredericks die Kinder bittet, etwas aufzuschreiben. Ruby Hornaday kommt als Sechste an die Reihe. Ruby hat Flammenhaare, an Weihnachten Geburtstag und einen Säufer zum Vater. Sie ist eines von zwei Mädchen, das es in die vierte Klasse geschafft hat.
Sie liest mit zitternder Stimme. Wenn du denkst, der See ist groß, solltest du das Meer sehen. Drei Viertel der Erde sind Meer, und das ist nur die Oberfläche. Jemand wirft einen Bleistift nach ihr. Die Runzeln auf Rubys Stirn werden tiefer. Landtiere leben auf der Erde oder in Bäumen, Ratten und Würmer und Möwen und so. Aber Meerestiere leben überall, sie leben in den Wellen und sie leben mittendrin und sie leben in zehn Kilometer tiefen Schluchten.
Sie lässt ein rotes Buch mit Textblöcken und vierfarbigen Abbildungen herumgehen, die dafür sorgen, dass Tom das Blut in den Ohren rauschen hört. Eine Flut winziger Fische mit noch winzigeren Zähnen. Eine rotblaue Korallenwelt. Fünf auf einen Felsen zementierte orangefarbene Seesterne.
Ruby sagt: In Detroit gab’s mal Palmen und Korallen und Muscheln. Detroit war mal fünf Kilometer tief im Meer.
Ms Fredericks fragt: Ruby, wo hast du das Buch her? Tom atmet kaum noch. Durchsichtige Blumen mit giftigen Fangarmen, Muschelfelder und rosa Kugeln mit tausend Nadeln auf dem Rücken. Er versucht zu fragen: Gibt’s die wirklich?, aber Quecksilberblasen steigen aus seinem Mund und treiben zur Decke hinauf. Als er umfällt, kippt der Tisch mit ihm um.
Der Arzt sagt, am besten geht Tom nicht mehr zur Schule, und seine Mutter stimmt ihm zu. Bleib drinnen, sagt der Arzt. Und wenn du dich aufregst, denke an etwas Blaues. Die Mutter lässt ihn nur zum Essen nach unten kommen, und wenn es etwas zu tun gibt. Im Übrigen soll er in seiner Kammer bleiben. Wir müssen vorsichtig sein, Tommi-Schatz, flüstert sie und legt ihm die Hand auf die Stirn.
Tom verbringt viele Stunden auf dem Boden neben seinem Bett und setzt immer wieder dasselbe Puzzle zusammen: ein Schweizer Dorf. Fünfhundert Teile, von denen neun fehlen. Manchmal liest Mr Weems Tom etwas aus einem Abenteuerroman vor. Tief unten im Bergwerk sprengen sie eine neue Ader in den Stein, und in den Pausen zwischen Mr Weems’ Worten kann Tom spüren, wie die Explosionen durch Hunderte Meter Fels die empfindliche Pumpe in seiner Brust erschüttern.
Er vermisst die Schule. Er vermisst den Himmel. Er vermisst alles. Wenn Mr Weems im Bergwerk und Toms Mutter unten im Haus ist, schleicht Tom oft ans Ende des Flurs, schiebt den Vorhang zur Seite und drückt die Stirn gegen das Glas. Kinder rennen über die verschneiten Straßen, hinter den Fenstern der Gießerei glühen Lichter, Zugwaggons rollen unter Rohren und Leitungen dahin. Die Arbeiter der ersten Schicht kommen in Sechsergruppen aus dem Maul des Aufzugs, holen Zigarettenpäckchen aus ihren Overalls, reißen Streichhölzer an und verschwinden wie salzbestäubte kleine Insekten in die Nacht, während die dunkleren Gestalten, die Männer der zweiten Schicht, in der Kälte von einem Fuß auf den anderen treten und darauf warten, dass sie in den Käfig steigen und in die Grube einfahren können.
In seinen Träumen sieht er schwankende Hornkorallen, umherschwirrende Zackenbarsch-Schwärme und Lichtstrahlen unter Wasser. Er sieht, wie Ruby Hornaday die Tür zu seiner Kammer aufstößt. Sie trägt einen kupfernen Taucherhelm, beugt sich über sein Bett und bringt ihr Helmglas dicht an sein Gesicht.
Erschrocken wacht er auf. Hitze sammelt sich in seiner Leiste, und er denkt: blau, blau, blau.
An einem nieseligen Samstag klingelt es an der Tür. Als Tom aufmacht, steht Ruby Hornaday auf der Treppe.
Hallo. Tom blinzelt ein Dutzend Mal. Regentropfen überziehen die Pfützen mit Tausenden sich überschneidenden Ringen. Ruby hält ein Glas in die Höhe: Sechs Kaulquappen winden sich durch ein paar Zentimeter Wasser.
Es sah so aus, als würdest du Wassertiere mögen.
Tom versucht zu antworten, aber der gesamte Himmel weht ihm durch die offene Tür in den Mund.
Du wirst doch nicht wieder ohnmächtig?
Mr Weems kommt in die Diele gestapft. Himmel, Junge, der Dame ist so nasskalt wie in einer Kirche. Du musst sie hereinbitten.
Ruby steht auf den Fliesen und tropft. Mr Weems grinst. Tom murmelt: Mein Herz.
Ruby hält ihm das Glas hin. Du kannst sie behalten. Es dauert nicht lange, und sie werden zu Fröschen. Tropfen leuchten auf ihren Wimpern. Das Hemd klebt an ihrem...