Doerr Winklers Traum vom Wasser
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-406-67107-4
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 487 Seiten
ISBN: 978-3-406-67107-4
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
David Winkler wächst in Anchorage, Alaska, auf, ein stiller Junge mit einer Vorliebe für Schnee und die Schönheit der Eiskristalle. Manchmal kann er Ereignisse sehen, bevor sie eintreten werden - ein Mann mit einer Hutschachtel wird von einem Bus angefahren werden, er wird sich in eine Frau in einem Supermarkt verlieben. Als David davon träumt, daß seine neugeborene Tochter in einer Flut ums Leben kommt, während er versucht sie zu retten, flieht er panisch aus Cleveland, wo die Familie inzwischen lebt. Kann er so den Lauf der Dinge ändern?
Mittellos, allein und ohne Gewißheit, ob seine Tochter überlebt hat - der Ohio ist tatsächlich in Cleveland über die Ufer getreten -, wohnt Winkler auf einer karibischen Insel bei einem Ehepaar mit einer Tochter, die sich um ihn kümmern. Schließlich ist es die Tochter, die ihn in die Welt zurückholt, um nach den Menschen zu suchen, die er verlassen hat. 25 Jahre nach seiner Flucht kehrt Winkler zurück nach Amerika.
Anthony Doerr ist nicht nur ein Autor mit einer meisterhaften Beobachtungsgabe für Menschen und ihre Empfindungen und mit einem ungewöhnlichen Mitgefühl für die menschliche Verletzlichkeit. Seine Beschreibungen der Natur, der Landschaft, des Wassers, der Gerüche und Farben sind von einer großen Magie und überwältigenden Schönheit. Nach dem preisgekrönten Erzählungsband "The Shell Collector" beweist Anthony Doerr mit seinem ersten Roman, daß er ein herausragendes literarisches Talent besitzt.
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Ein Rahmen aus Reif, von der Sonne beschienen, umgab den unteren Rand des Flugzeugfensters wie ein winziger weißer Wald. Dendriten, kristalline Aggregate, Federn aus Eis – eine unendliche Vielfalt. Es war ein seltsamer Gedanke, daß es sich bei den paar Millionen Wassermolekülen, die in diesem Moment am Rumpf einer Boeing 757 auf dem Weg nach Miami festfroren, durchaus um dieselben Moleküle handeln konnte wie diejenigen, die durch das Fundament seines Hauses gesickert waren, Moleküle, die Sandy vielleicht mit einem Lappen aufgenommen und draußen im Hof ausgedrückt hatte, Moleküle, die dann verdunsteten, zu Wolken und schließlich zu Niederschlag wurden und noch einmal zur Erde herabfielen.
schrieb er auf seinen Notizblock.
Eine Stewardeß kam vorbei und bat ihn, die kleine Jalousie zuzuziehen. Der Film begann. Die Frau auf dem mittleren Platz zog Kopfhörer aus einer Plastikhülle und stülpte sie sich über die Ohren. Winkler nahm die Brille ab und wischte sie sauber.
Vor Darwin, vor Paracelsus, sogar vor Ptolemäus, so lange eben Erinnerung existierte, hatten die Menschen diese Erkenntnis in einem Winkel ihres Herzens mit sich herumgetragen: Wir leben am Grund alter Ozeane. Eine Erkenntnis, die immer noch in unserer Angst vor dem Ertrinken steckt, den Geschichten, die uns unsere Vorfahren von Flutkatastrophen übermittelt haben: Und auch das Ende der Welt würde eine wäßrige Angelegenheit sein: ein letzter Sturm; eine reinigende Flut; Gletscher, die alles unter sich begruben.
Überschneidung, Aufeinanderfolge, Gleichzeitigkeit – wie sehr mußte Noah geschwitzt haben, als er sein Floß zusammenzimmerte, während die ersten Regentropfen auf die Dächer seiner Nachbarn fielen.
Das Geräusch des Antriebs, das sich auf dem Flügel vor seinem Fenster sammelte, verursachte ein konstantes, einschläferndes Rauschen. Blaßblau und scheinbar endlos zog der Himmel an ihnen vorbei.
Ein Vierteljahrhundert zuvor durchquerte die das aufgewühlte Grau des Atlantiks in entgegengesetzter Richtung. Nach sechs Stunden Fahrt schob sich die Sonne langsam über den Horizont. Winkler ging an Deck und beobachtete die letzten Möwen, die über den Lastenauslegern schwebten.
Das stählerne Grün des Blake Ridge, das treibende Seegras des Golfstroms. Niemals zuvor hatte er so viel Himmel gesehen, so viel Wasser. In der Nähe der Bahamas peitschte ein Orkan ihnen eine Reihe von fauchenden Wellenbergen vor den Bug, und er klammerte sich an die Reling, gelb im Gesicht, ihm war speiübel, und unter ihm wälzte sich das Schiff durch die Fluten. Erinnerungsfetzen trieben an die Oberfläche: Sandy, wie sie aus der First Federal in die Kälte hinaustrat und sich den Kragen ihrer Kapuze fester ums Gesicht zog; Grace, wie sie begann aufzuschauen, wenn er den Raum betrat; Herman Sheeler, über seinen Schreibtisch gebeugt, wie er einen Termin in seinen Kalender eintrug –
Sandy war mittlerweile vermutlich am Rande ihrer Kräfte. Er stellte sie sich vor, wie sie wieder ins Haus zurückkehrte und die erste Nacht dort verbrachte; wie sie Kissen zum Trocknen auf die Veranda brachte und Vorhänge über den Zaun im Hinterhof hängte. Wieviel Erde und Schlamm wohl aus ihrer Kellerwerkstatt gepumpt werden mußten?
Sie würde bei der Polizei und bei Channel 3 anrufen; sie würde eine Liste mit den notwendigen Reparaturen aufstellen; und sie würde in der Tür stehen und auf die Stelle vor der Hecke schauen, wo eigentlich der Newport stehen müßte. Vielleicht würde sie auch die Kellertür zunageln und ihren Paradiesbaum dort unten im Wasser lassen, ein Atlantis im Keller.
Man würde ihr das Telegramm bringen; vielleicht würde sie es zerreißen, oder sie würde es lange anstarren, den Kopf schütteln oder nicken. Irgendwann würde sie schwierige und unangenehme Fragen beantworten müssen: von den Nachbarn, von einem Versicherungsvertreter. ist er? Mittlerweile hatte sie womöglich Winklers Sachen bereits in Kisten verpackt und diese zugeklebt.
Vielleicht machte sie Pläne für eine Beerdigung. Oder das Haus war unbewohnbar geworden, und sie und Grace waren auf dem Weg nach Columbus, nach Kalifornien oder Alaska. Oder sie war tot, steckte irgendwo unter Wasser fest, hing neben Grace in den Ästen eines Baumes, aus denen sie sich nicht mehr hatte befreien können, Mutter und Tochter, und ihr Haar trieb in der Strömung wie Tinte.
All die Grausamkeiten des Vermutens. War er einfach zu schwach? Zu ängstlich? Hatte er fliehen ? Vielleicht war ja auch sie geflohen. Vielleicht war sie froh, daß Winkler weg war: niemand mehr, der sich nachts neben ihr im Bett herumwälzte, keiner, der schlafwandelte oder mit leerem Blick am Fenster saß, wenn sie mitten in der Nacht aufwachte. Vielleicht hatten Herman und sie auch die ganze Zeit über in Kontakt miteinander gestanden, während Winkler bei der Arbeit war, während er schlief. Vielleicht, vielleicht, vielleicht.
Auch nur an Grace zu denken versetzte ihm kleine Stromschläge im Gehirn. Selbst in diesem Moment, zwölf Nächte nachdem er sie zuletzt gesehen hatte, während der Kontinent langsam und unvermeidlich hinter ihm zurückwich, verstand ein kleiner Teil von ihm, daß er vielleicht nie mehr wieder zurückkehren könnte. Nach einer gewissen Zeit – einem Monat, sechs Monaten, möglicherweise einem Jahr – würde Sandy darüber hinweg sein und mit ihm abschließen, und dann würde sie vielleicht fertig mit ihm sein, wirklich fertig, würde wieder in der Gegenwart leben, sich bei einer Kreditanstalt bewerben, abends an ihren Skulpturen arbeiten. Er würde dann einer Vergangenheit angehören, die man am besten wie ein Paket verschnürte und begrub, so wie den Paradiesbaum im Keller oder einen menschlichen Körper, der am Grunde eines Sees lag. Grace – wenn sie überlebt hatte – würde nach ihm fragen, und Sandy würde sagen, er sei ein Versager gewesen, ein Niemand.
Er schleppte sich durch die Stunden. Bei Nacht breiteten sich in unfaßbarer Zahl die Sterne am Himmel aus und zogen ihre Bahnen am Firmament, um schließlich, einer nach dem anderen, hinter dem Horizont zu verschwinden, während auf der anderen Seite der Erdkugel, am gegenüberliegenden Horizont, neue erschienen.
Die Crew bestand zum größten Teil aus Brasilianern; der Maat war Brite. Die einzigen anderen zahlenden Passagiere waren drei malaysische Pfefferhändler, die meistens auf dem Vorderdeck standen und verstohlen miteinander flüsterten, als wären sie Verschwörer, die eine Entführung planten. Er ging allen aus dem Weg – was, wenn jemand versuchen sollte, ein Gespräch anzufangen? Beides waren Fragen, auf die er keine Antwort gewußt hätte. Bei den Mahlzeiten wählte er zwischen den täglichen Angeboten der Bordküche: gegrilltem Käse, Kochwürsten oder einem unansehnlichen Pudding, der in seinem Wackeln auf groteske Weise die Vibrationen des Schiffes wiedergab. Sein Schlaf war nicht tief, wenn er überhaupt kam; immer schien es Winkler, als träte er beim Einschlafen in einen flachen,kalten Graben, und beim Aufwachen fühlte er sich dann erschöpfter als zuvor. Um ihn herum schnarchten die Männer in ihren Kojen. Wasser rauschte durch die Leitungen des Schiffes.
Die weiten blauen Flächen der Sargasso-See. Die Windward-Passage. Die Antillen. Die Karibik. Vögel tauchten auf: zuerst ein Paar Fregattvögel, die über den Bug schaukelten; dann Raubmöwen; schließlich eine Schwadron Silbermöwen, die über das Vordeck flatterten. Am siebten Tag kam Land in Sicht: eine Dreiergruppe von Inseln, die fast dreißig Meilen ostwärts im Dunst schwebten.
In einem halben Dutzend Häfen ging die vor Anker. In jedem kamen Zollbeamte an Bord, schwärmten in den Frachträumen aus und verließen das Schiff mit vollen Händen: mit Kisten voll Malt-Whisky, einem Rasenmäher, einem Trikot der New York Yankees. Das Schiff lud Getreide in Santo Domingo und Zucker in Ponce; es lieferte Matratzen nach St. Croix, einen Bulldozer nach Montserrat und dreihundert Porzellantoiletten nach Antigua.
Eines Nachmittags, als das Schiff wieder einmal aus offenen Gewässern in einen Hafen gelotst wurde, ging er an Deck und stand an der Reling. Sie fuhren auf eine steile Insel mit den breiten grünen Flanken eines Vulkans an ihrem nördlichen Ende zu. Die See war ungewöhnlich ruhig, und in der Bugwelle spiegelte sich ein zittriges Bild: der hohe, graue Bug, der nur durch das Ankerkettenloch steuerbord durchbrochen wurde; dann die Reihe der Speigatte und die dünnen Holme der Reling; und schließlich...