Dörre / Jürgens / Matuschek | Arbeit in Europa | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 399 Seiten

Dörre / Jürgens / Matuschek Arbeit in Europa

Marktfundamentalismus als Zerreißprobe

E-Book, Deutsch, 399 Seiten

ISBN: 978-3-593-42500-9
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Auf den europäischen und globalen Arbeitsmärkten ist im Zuge der Finanzkrise eine zunehmende Prekarisierung zu beobachten. Ausgehend von diesem Befund lenken die Autorinnen und Autoren den Blick auf neue soziale Ungleichheiten in Europa und dabei auf die Folgen einer – am deutschen Modell ausgerichteten – aktivierenden, marktkonformen Regulierung von Arbeit: Die Rezepte des »deutschen Jobwunders« verhindern Wachstum geradezu, tragen wenig zur Lösung der Schuldenproblematik bei und verstärken die Gefahr sozialer, ja gewalttätiger Konflikte. Das Buch liefert eine Bestandsaufnahme der aktuellen Arbeitsmarktsituation in Europa, diskutiert kritisch die Übertragbarkeit des deutschen Modells und skizziert darüber hinaus alternative Ansätze einer nachhaltigeren Arbeitspolitik und Wirtschaftsdemokratie. Mit Beiträgen von Brigitte Aulenbacher, Martin Baethge, Martin Beckmann, Adelheid Biesecker, Kristina Binner, Gerhard Bosch, Maria Dammayr, Klaus Dörre, Nico Dragano, François Dubet, Kerstin Jürgens, Steffen Lehndorff, Steffen Liebig, Josep Banyuls Llopis, Maria Markantonatou, Albert Recio, Stefan Schmalz, Olaf Struck, Hans-Jürgen Urban, Edward Webster, James Wickham und Erik Olin Wright.
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Inhalt
Vorwort9
Ein Europa der Spaltungen und Polarisierungen? Arbeit im Sog des Marktfundamentalismus 11
Klaus Dörre, Kerstin Jürgens, Ingo Matuschek
1.Europa und die globale Krise der Arbeit
Sozialkapitalismus und Krise: Von der inneren Landnahme zu äußerer Dominanz 25
Klaus Dörre
Wandlungen des Kapitalismus und Konzeptionen sozialer Gerechtigkeit 51
François Dubet
Dilemmata der Arbeitswelt im 21. Jahrhundert: Warum ein kapitalistisches System zur Verteilung von Arbeit und Einkommen mit sozialer Gerechtigkeit und mit einer Politik ökologischer Nachhaltigkeit unvereinbar ist 71
Erik Olin Wright
2.Neue Ordnung für den Arbeitsmarkt: Regulierung, Qualifizierung und "Gute Arbeit"
Neuordnung des deutschen Arbeitsmarkts 91
Gerhard Bosch
Das deutsche Qualifizierungsmodell - Blaupause für Europa im Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit? 107
Martin Baethge
Europäische Arbeitsmärkte - Arbeitsmarkt Europa 125
Olaf Struck
Gruppenarbeit revisited: Pyrrhussieg oder (erstarrter) demokratischer Erfolg? 145
Ingo Matuschek, Madeleine Holzschuh
3.Soziale Konflikte in Europa: Alte und neue Akteure
Die Agenda-Legende: Die neue Karriere des "Modells Deutschland" in Europa 165
Steffen Lehndorff
Das irische Beschäftigungsmodell, die Krise und das eigenartige Überleben des Sozialstaats 181
James Wickham
Spanien: Eine Krise in der Krise 197
Josep Banyuls Llopis und Albert Recio
Die Entwertung der Arbeit, die Automatik der Sparpolitik und die Krise in Griechenland 217
Maria Markantonatou
Ein neuer Protestzyklus? Zum Wandel des sozialen Konflikts in Westeuropa 229
Stefan Schmalz und Steffen Liebig
4.Neue Belastungen in der Arbeitswelt
Arbeitsbelastungen und Gesundheit in Europa: Verteilungsmuster und Trends 249
Nico Dragano und Thorsten Lunau
Gesundheitliche Belastungen neu justieren: Die Position der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) 265
Norbert Breutmann
Zeit für eine Modernisierung des Arbeitsschutzes: Zur Anti-Stress-Initiative der IG Metall 277
Andrea Fergen
Die Schattenseite des Erfolgs: Erfahrungsbericht aus der globalen SAP-Welt 293
Ralf Kronig
Die Grenzen des leistungsfähigen Selbst - Anmerkungen zur Debatte um Erschöpfung durch Arbeit 309
Stefanie Graefe
5."Sinnvolle Arbeit"
"Sinnvolle Arbeit": der Maßstab "Guter Arbeit" 325
Kerstin Jürgens
Gute Arbeit und soziale Teilhabe: Wie marktgerecht darf es denn sein? Leitbilder in Wissenschaft und Pflege in Großbritannien, Österreich und Schweden 339
Brigitte Aulenbacher, Kristina Binner, Maria Dammayr
Sinnvolle Arbeit aus sozialökologischer Perspektive 353
Adelheid Biesecker
Perspektiven für gute Dienstleistungsarbeit und hochwertige Dienstleistungen in Europa 367
Martin Beckmann
Wirtschaftsdemokratie - ein Ausweg aus dem postdemokratischen Europa? 381
Hans-Jürgen Urban
Autorinnen und Autoren397


Der Zusammenschluss der europäischen Nationalstaaten zur Wirtschafts- und Währungsunion war von Beginn an mit Ungleichzeitigkeiten und sozialen Schieflagen verknüpft. Es gab Länder, die als Promotoren und Vorbilder galten, während sich andere als rückständig und reformbedürftig deklariert fanden. Im direkten Vergleich der Volkswirtschaften und in Anbetracht wechselseitiger Abhängigkeiten stieg der Druck, den Wachstumskriterien und -zielen der neuen Gemeinschaft zu entsprechen, auch wenn die nationalen Ökonomien hierfür denkbar unterschiedliche Voraussetzungen boten. Spaltungen und Polarisierungen auch innerhalb der Nationalstaaten sind daher kein neues Phänomen, haben sich jedoch in Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 verschärft: In der Debatte über die Ursachen der gegenwärtigen Instabilität der Europäischen Union kommen alte Spaltungslinien zum Ausdruck, wenn Vorwürfe einer selbst produzierten Überschuldung lanciert werden oder vom ökonomischen und politischen Übergewicht einzelner Mitgliedstaaten die Rede ist. Gelten prosperierende Länder des europäischen Nordens heute als stabilisierende Zentren oder gar als "Gewinner" der Krise, sind andere so tief verschuldet, dass von staatlicher Handlungsfähigkeit kaum noch die Rede sein kann. Bezeichnend ist, dass den "Verlierenden" seitens der "Gewinnenden" ein großes Maß an Mitverantwortung zugeschrieben wird. Marktanpassungen - so eine weithin hörbare Behauptung - hätten hier nicht frühzeitig und umfassend genug stattgefunden. Angesichts solcher Schuldzuschreibungen verwundert es nicht, wenn alte Sensibilitäten aufbrechen und die in vielen politischen Dimensionen ohnehin zögerliche Annäherung ins Stocken gerät. Die jüngste Europawahl, in der erstmals Spitzenkandidat/innen für die Kommissionspräsidentschaft antraten, offenbarte die noch immer virulente Frage nach dem Verhältnis von Kommission und Rat, von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten. Wiederholt wurde Skepsis laut, "wieviel Europa" die Mitgliedstaaten ertragen können und wollen. Steht also die Europäische Union nicht nur vor einer Bewährungs-, sondern gar vor einer Zerreißprobe?
Die Europäische Union ist durch ein ausgeprägtes Gefälle in materiellem Wohlstand und Produktivität geprägt, und viele Länder sind (ökonomisch ebenso wie politisch) überfordert, dieses aus eigener Kraft auszugleichen. Hilfestellung seitens der Gemeinschaft wird erforderlich, ist jedoch nicht gratis zu haben. Die Geberländer knüpfen ihre Unterstützung an Zugeständnisse der Betroffenen, so z.B. in Form des Rückbaus des öffentlichen Arbeitssektors oder der sozialen Sicherungssysteme. Kürzungen der Renten, Lohneinschnitte und Entlassungen zählen hier ebenso zu den favorisierten und angeratenen Instrumenten von Krisenbewältigung wie reduzierte Investitionen, wovon dann jedoch zumeist auch Schlüsselbereiche wie z.B. Bildung, Forschung und Entwicklung, Integration oder Gesundheit berührt sind. Bemüht man in den ökonomisch stärkeren Nationen das Bild vom "Fass ohne Boden", um die Kopplung der Zusage der Finanzströme an eine Einflussnahme auf die nationale Gestaltung von Arbeits- und Sozialpolitik zu legitimieren, wird dies in den betroffenen Ländern nicht nur als "Übergriff" gedeutet, sondern auch als Vertrauensbruch seitens anderer Mitgliedstaaten sowie der Gremien der EU erlebt. Man muss nicht erst die Plausibilität der einen oder anderen Sichtweise prüfen, um bereits in der Konfrontation der Positionen das zentrale Problem zu erkennen: Es entstehen legitimatorische Brüche und neuartige Instabilitäten, die sich von einer latent krisenhaften Entwicklung zur manifesten Zerreißprobe für den politischen und sozialen Zusammenhalt Europas entwickeln können - oder bereits entwickelt haben. Längst ist nicht nur der Euro in Gefahr, sondern es droht in Folge der Krise von 2008/09 auch die Idee eines geeinten Europas verschüttet zu werden.
In den Mitgliedstaaten, die derzeit als "Krisenkandidaten" firmieren, werden große Teile der Bevölkerungen nicht nur in ihrer Lebensgestaltung, sondern auch in ihrer Lebensplanung massiv beeinträchtigt. Neuere Studien verweisen bereits auf klare Tendenzen einer Entsolidarisierung (Paritätischer Gesamtverband 2014), und auch die Revitalisierung rechtsextremer oder offen faschistischer Bewegungen versteht sich erst mit Blick auf die Nebenfolgen von Krisenbewältigung. Die Ergebnisse der Europawahl 2014 sind hier aufschlussreich: In Frankreich ging die rechtsextreme Partei "Front National" als Gewinner aus der Wahl hervor, in anderen Ländern konnten rechtspopulistische Parteien große Zuwächse verbuchen, so z.B. die UKIP-Partei in Großbritannien, die mit einer Anti-Europa-Kampagne ins Rennen gegangen war, oder die FPÖ in Österreich, die für eine "Denkzettelwahl" warb und gegenüber 2009 deutlich zulegte. Auch wenn das Wahlrecht kleinen Parteien entgegenkommt und europäische Fragen bei den nationalen Wahlen häufig in den Hintergrund treten, liegt es nahe, in den Ergebnissen der Wahl eine Reaktion auf die Art und Weise der Krisenbewältigung zu sehen.
Betrachtet man die aktuellen Daten zur wirtschaftlichen Entwicklung und Beschäftigtenquote beziehungsweise Erwerbslosenanteile in einzelnen Euro-Ländern, dann werden Ursachen der Europa-Skepsis sichtbar. Im Frühjahr 2014 vermelden die Medien die Rückkehr Griechenlands an die internationalen Finanzmärkte: Ausgeschriebene Staatsanleihen sind mehrfach überzeichnet, das Land reiht sich scheinbar wieder in die Phalanx kreditwürdiger Staaten ein. Die auf Druck der Troika aus Internationalem Währungsfond (IWF), Europäischer Zentralbank (EZB) und EU-Kommission gegen breiten Widerstand aus der Bevölkerung durchgesetzten Reformen werden als erfolgreich bilanziert und versprechen für die Zukunft ruhigeres Fahrwasser. Ganz ähnlich ist die Situation in Spanien: Die Volkswirtschaft hat die Rezession im dritten Quartal 2013 mit 0,1 Prozent Wachstum stoppen können und ist im vierten Quartal 2013 um 0,2 gewachsen (Auswärtiges Amt 2014); der spanische Ministerpräsident verkündet, damit sei das Schlimmste überstanden, sein Land befinde sich auf dem Weg der Gesundung (Dahms 2014). Das durch die Finanz- und Wirtschaftskrise gebeutelte Irland verließ Ende 2013 den Rettungsschirm und die nationale Wirtschaft wächst. Der konjunkturelle Einbruch im ersten Quartal 2014 und ein fragiler Finanzsektor (Theurer 2014) kennzeichnen einen immer noch mit erheblichen Gefahren belasteten Weg der Krisenbewältigung. Portugal strebt an, den Euro-Rettungsschirm zu verlassen. Mit einem harten Spar-Etat hat das Land eine abnehmende Verschuldung erreicht (Spiegel 2014).
Es wird bereits das Ende der Krise postuliert: "Aus Sicht der Investoren ist die Euro-Krise vorüber." (Münchau 2014) Die Entwicklung der Beschäftigungsquoten trägt zu solch positiven Einschätzungen bei: Im vierten Quartal 2013 ist die Zahl der Erwerbstätigen - nach Jahren des Rückgangs bzw. der Stagnation - gegenüber dem Vorquartal saisonbereinigt um 0,1 Prozent gestiegen (ESTAT 2014). Die Zuwächse sind branchenspezifisch und auf den Ausbau in den Informations- und Kommunikationsdienstleistungen sowie in Handel und Gastgewerbe zurückzuführen - und sie sind in den sogenannten Krisenländern ungleich verteilt; die Spanne reicht von 0,2 Prozent in Griechenland bis zu 0,7 Prozent in Portugal und Irland.
Verfolgt man die Entwicklung auf den Arbeitsmärkten jedoch genauer, so zeigt sich indes die Kehrseite der Entwicklung: Die absoluten ebenso wie die relativen Zahlen zur Arbeitslosigkeit sind nach wie vor häufig erschreckend hoch (ebd.): Trotz eines Abbaus der Erwerbslosigkeit um fast zwölf Prozent im Jahresvergleich waren im Februar 2014 noch immer zwölf Prozent der Iren arbeitslos; in Griechenland stieg die Arbeitslosigkeit in diesem Zeitraum weiter an und erreicht nun 27,5 Prozent. Spanien vermeldet trotz eines Rückgangs um 5,2 Prozent noch immer mehr als 5,7 Millionen Arbeitslose und damit eine Erwerbslosenquote von 25,6 Prozent. Portugal verzeichnete im Jahresvergleich einen relativ starken Rückgang, meldet im Februar 2014 aber noch immer über 15 Prozent Erwerbslose. Italien weist nach relativ starkem Anstieg 13 Prozent Erwerbslose aus, in Frankreich sind es 10,4 Prozent. Für die hinter diesen Zahlen stehenden Menschen und ihre Angehörigen ist die Krise also keineswegs überstanden. Sie sind zudem nicht mehr nur mit dem Verlust eines Arbeitsplatzes konfrontiert, sondern erfahren darüber hinaus tiefe Einschnitte in ihr Alltagseben. Das europäische Austeritätsregime verlangt, dass soziale Sicherungssysteme zurückgefahren werden. Erwerbslosigkeit zieht daher weit schärfere Einschnitte und Zumutungen nach sich, als dies zuvor der Fall war. Zudem können Krisenfolgen kaum noch durch private Unterstützungsleistungen aufgefangen werden, da es zu einer Entwertung von Renten und Sparvermögen kommt und die Erwerbsbevölkerung in der Breite von Einbußen und Einschnitten betroffen ist (Regiodata 2013).
Der bitteren Realität in den Krisenstaaten stehen auf den ersten Blick prosperierende Länder des europäischen Nordens gegenüber. Vor allem das "deutsche Beschäftigungswunder" gilt inzwischen als vorbildlich für Europa. So ist die Erwerbslosenquote in Deutschland im Februar 2014 (gemäß Eurostat-Definition) auf 5,1 Prozent gesunken (2,2 Millionen Menschen). Die Polarisierung in Europa wird besonders deutlich, wenn man Regionen betrachtet. Im Vergleich von Oberbayern und Andalusien stehen sich Erwerbslosenquoten von 2,6 Prozent und 36 Prozent gegenüber. Im Bereich der Jugendarbeitslosigkeit ist die Lage noch dramatischer. Hier kommen etliche deutsche Regionen auf knapp 4,5 Prozent, während in einzelnen Regionen Griechenlands und Spaniens über 70 Prozent arbeitssuchend sind (ESTAT 2014). Deutschland erlebte zwar eine Bankenkrise, konnte aber die Staatsverschuldung mit rund 78 Prozent des Bruttoinlandprodukts im Vergleich zu anderen europäischen Ländern niedrig halten. Die exportorientierte deutsche Wirtschaft ist auf Wachstumskurs - und sie kann anderen (auch europäischen) Ländern Marktanteile abringen. In Anbetracht solcher Daten gilt Deutschland weithin als jener "Gewinner", der die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrisen am besten bewältigt hat: innerhalb einer Dekade vom "Sorgenkind Europas" zur strahlenden "Vorzeigenation" - so zeichnen viele Darstellungen das Bild eines erfolgreichen Wandels. Doch ist das "German Jobwunder" tatsächlich ein Vorbild, an dem sich Europa orientieren kann?
Ein etwas präziserer Blick zeigt: Selbst im prosperierenden Deutschland ist die Lage ambivalent. Langzeitarbeitslose haben es nach wie vor schwer, Arbeit zu finden; die ungleiche Entlohnung von Männern und Frauen ist ein ungelöstes Problem und die soziale Spaltung erreicht neue Dimensionen. Der Paritätische Gesamtverband bringt in seinem Jahresgutachten 2014 die Problematik auf den Punkt und zeichnet, wie viele andere Studien, das Gegenbild zur allseits gefeierten Wirtschaftsbilanz: Die Armutsquote habe mit 15,2 Prozent einen Höchststand erreicht, insbesondere Erwerbslose (59,3 Prozent) und Alleinerziehende (41 Prozent) seien dem Armutsrisiko ausgesetzt. Wachsendes Privatvermögen stehe zunehmender privater Überschuldung gegenüber, insgesamt öffne sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter. Der deutsche Arbeitsmarkt biete immer weniger sozialversicherungspflichtige Vollzeit-Jobs im Normalarbeits-Verhältnis an und "Gute Arbeit" werde in diesem Sinne immer seltener (Paritätischer Gesamtverband 2014). Wirtschaftliche Parameter allein könnten den Zustand einer Gesellschaft eben nicht erklären, so das Fazit des Verbandes, der mit seiner Problematisierung exemplarisch für eine reiche Bandbreite warnender Stimmen steht.
Solche Daten lassen erahnen, dass Arbeitsmarkt und Arbeitsbedingungen in Deutschland nicht nur einem deutlichen Wandel unterworfen sind, sondern für viele Erwerbspersonen Verschlechterungen mit sich bringen. Derartiges wird von Analysten und Finanzmarktunternehmen indessen kaum beachtet. Schon mit der Bilanzierung der überwundenen Euro-Krise oder der Titelvergabe des "Krisengewinners" werden die Schattenseiten des Erfolgs ausgeblendet. Weitreichende Eingriffe in die Arbeits- und Lebensbedingungen spielen im forcierten Wettlauf um ökonomischen Einfluss, investitionsfreundliche Rahmenbedingungen und die Gunst der Finanzmärkte allenfalls eine untergeordnete Rolle - zumindest sofern sie nicht das Qualifikationsniveau bzw. Humankapitalressourcen und damit den Produktionsstandort nachhaltig gefährden. Die Gewinnermedaille hat also, um im Bild zu bleiben, die glänzende Vorderseite des wirtschaftlichen Musterschülers; sie besitzt aber mit prekarisierten Arbeits- und Lebensverhältnissen sowie sozialen Polarisierungen eine hässliche Rückseite, zu der neben einer Ausweitung der Minijobs, niedrigerer Einstiegslöhne, der Arbeitnehmerüberlassung etc. auch veränderte Zumutbarkeitsregeln für Arbeitslose gehören.
Wohin treibt Europa? Wie organisieren die nationalen Volkswirtschaften ihre Arbeitsbedingungen und welche arbeitspolitischen Ziele verfolgen sie? Im Wahlkampf für das EU-Parlament konnten wir wiederholt verfolgen, dass der Europäischen Union die Etikettierung und Zielsetzung als Sozialunion verweigert wird (Angela Merkel, 22.05.2014). Die seit der Gründung der Union schwelende Frage, inwiefern es sich bei diesem Projekt um eine Wirtschafts- und Sozialunion handelt oder handeln sollte, bleibt somit virulent. Gegenwärtig scheint man auf der Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu sein, um nationale wie supranationalen Rezepte und Prinzipien der Arbeits- und Sozialpolitik zu verabreden: Erkennbar werden Mindeststandards unterhalb einstmals erstrittener Rechte, Mobilisierungen zur umfassenden Selbstverantwortung und Rückbauten bei Alterssicherung oder Erwerbslosenbezug. Die Lebensbedingungen der Menschen werden dadurch sukzessive rekommodifiziert. Im Standortwettbewerb zwischen den europäischen Ländern gelingt es offenkundig nicht, dem wirtschaftlich erfolgreichen Europa als Ziel auch ein soziales Europa an die Seite zu stellen. Die tonangebenden Institutionen und Regierungen propagieren den globalen Standortwettbewerb als Begründung für immer tiefere soziale Einschnitte in den Krisenländern. Die Mischung aus Austeritätspolitik, Liberalisierung der Arbeitsmärkte und aktivierendem Sozialstaat wird durch einen Marktfundamentalismus legitimiert, der politische Gestaltungsmacht auf Ziele wie erhöhte Effizienz und Kostenreduktion, auf Wirtschaftsförderung ohne soziale Leitplanken, auf ein ökonomisches Elitenprojekt für Global Player und für als förderungswürdig erachtete wirtschaftlich starke Milieus reduziert. Das neoliberale Paradigma hat es im Verlaufe der letzten Jahrzehnte vermocht, in subsidiär-konservative, sozialdemokratische ebenso wie libertär-zivilgesellschaftliche Kreise vorzudringen. Das staatliche Gemeinwesen bleibt nicht verschont und wird nach Kriterien wirtschaftlicher Effizienz reformiert. Zwar wird das Prinzip der Sozialstaatlichkeit offiziell nicht grundsätzlich in Frage gestellt, doch scheint es dabei nur noch um die Gestaltung des Rückbaus zu gehen. Eine solche Zielsetzung produziert jedoch nicht nur Verlierer/innen in den unteren Schichten, sondern sie greift die Mitten der Gesellschaften an und gefährdet den sozialen Zusammenhalt. Der so häufig geforderten kulturellen und sozialen Annäherung der Mitgliedstaaten leistet man auf diese Weise einen Bärendienst.
Es sind einflussreiche Akteure einzelner EU-Staaten, der EZB oder des IWF, die die Regie in einem neuartigen Kriseninterventionismus übernehmen und einzelne Länder quasi aus ihrer Souveränität entlassen. Die favorisierten Instrumente wie Rückbau des Sozialstaates, strikte Austeritätspolitik und Liberalisierung des Arbeitsmarktes zeitigen jedoch nicht automatisch positive Folgen: Die Binnennachfrage wird häufig gebremst, die einseitigen Sparzwänge und die verordneten Strukturreformen verhindern Wachstum und tragen somit nicht zum Schuldenabbau bei. Vermehrt verschaffen sich daher Stimmen Gehör, die vor einem neuen Ungleichgewicht innerhalb Europas warnen: Den gestaltenden "Playern" stehen gelähmte Nachbarn gegenüber. Ewig gleiche Rezepte setzen eine Wettbewerbsspirale, ein social downsizing, in Gang, das die Substanz der Wohlfahrtsstaaten aufzuzehren droht. In Deutschland ebenso wie in anderen Mitgliedsländern stehen die soziale und ökonomische Teilhabe und gesellschaftliche Integration der Staaten wie der Menschen zur Disposition. Soziale Unsicherheit und Prekarisierung bilden eine explosive Mischung und führen zu einer Zunahme an sozialen, oft auch gewalttätigen Konflikten. Die Proteste richten sich gegen die Verschlechterung der Lebensverhältnisse, gegen Ungerechtigkeit, gegen Entwürdigung und gegen den Autoritarismus der Mächtigen gleichermaßen. Die Krise der Eurozone entwickelt sich somit nicht nur zu einer ernsten Bedrohung für den europäischen Integrationsprozess auf staatlicher Ebene - sie ist längst zu einer Herausforderung für Wohlfahrtsstaat und Demokratie in den einzelnen Mitgliedstaaten geworden, wenn die Krisenintervention vielerorts nicht als Hilfe, sondern als Angriff auf die nationale Souveränität interpretiert wird und sich die Menschen mit Entlassungen, Lohneinbußen oder Umsiedlung konfrontiert sehen und sich als ohnmächtig erfahren.
Angesichts der skizzierten Entwicklungen und drohenden Gefahren für den sozialen Zusammenhalt Europas wollen wir der Frage nachgehen, wie es um die Integrationsstärke von Arbeit und Arbeitsbedingungen in Europa bestellt ist. Der vorliegende Band versammelt Beiträge von Autorinnen und Autoren, die zum Thema forschen, Einblick in die je nationalen Dynamiken geben und aktuelle Bewertungen vornehmen können. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Analyse des "deutschen Jobwunders", das gegenwärtig offensiv als Vorbild für Europa postuliert wird. Indem die Expertinnen und Experten ihre Ergebnisse zur Diskussion stellen, geben sie nicht nur Hinweise auf die gegenwärtige Konstitution der Europäischen Union als Arbeitsgesellschaft, sondern sie liefern Impulse für alternative Denkweisen dieses Projekts und transportieren Ideen für eine Arbeitspolitik, die den aktuelle Herausforderungen gerechter werden könnte als die bislang favorisierten Lösungsansätze.
Kapitel 1 konturiert zunächst die These einer krisenhaften Verfasstheit von Arbeit und fragt nach den Folgen der Entwicklungsdynamik des Kapitalismus für die Integrationsfähigkeit innerhalb der Nationalstaaten und der Europäischen Gemeinschaft. François Dubet (Université de Bordeaux), Erik Olin Wright (University of Wisconsin) und Klaus Dörre (Universität Jena) spüren den aktuell wirksamen Vorstellungen von Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit nach, kontrastieren diese mit den vorzufindenden Realitäten und identifizieren eine besondere Entwicklungsdynamik des Kapitalismus, die sie in ihren Folgen - auch für den Verbund der europäischen Staaten - ausleuchten.
In Kapitel 2 rücken die Regulierungsweisen von Arbeit näher in den Blick. Hier stehen die Forderung nach einer "neuen Ordnung" des Arbeitsmarktes und "guter Arbeit" ebenso zur Diskussion wie die für das "Modell Deutschland" so entscheidende Frage nach Qualifizierung. Gerhard Bosch (Universität Duisburg-Essen), Martin Baethge (Universität Göttingen), Olaf Struck (Universität Bamberg) und Ingo Matuschek/Madeleine Holzschuh (Universität Jena) liefern aktuelle Befunde zur Arbeitsmarktlage in Deutschland und Europa und problematisieren desintegrative und polarisierende Effekte der gegenwärtigen Entwicklung.
Kapitel 3 greift die wachsenden sozialen Konflikte in Europa auf. Nachdem Steffen Lehndorff (Universität Duisburg-Essen) die Agenda-Politik im "Modell Deutschland" in den Blick nimmt und die diesem zugewiesene Vorbildfunktion in Frage stellt, geben uns James Wickham (Trinity College Dublin), Josep Banyuls/Albert Recio (Universitat de València) und Maria Markantonatou (University of the Aegean Mytilene) einen Eindruck von der Lage in ausgewählten Krisenländern. Sie verweisen auf die Folgen der Austeritätspolitik und neue soziale Verwerfungen, die kritische und ablehnende Haltungen zur Europäischen Union befördern. Ob sich hier bereits eine Art neuer Protestzyklus in Westeuropa anbahnt, leuchten abschließend Stefan Schmalz/Steffen Liebig (Universität Jena) aus.
Kapitel 4 nimmt die Entwicklungsdynamik von Arbeit und die konkrete Funktionsweise neuer Arbeitsformen in den Blick, um deren Effekte auf die Konstitution der Erwerbsbevölkerungen zu erhellen. Aus aktuellem Anlass bieten hier Arbeitsbelastungen und Gesundheit die Leitperspektive. Nach einer Bestandsaufnahme von Nico Dragano und Thorsten Lunau (Universität Düsseldorf) zu neuen Verteilungsmustern und Trends in der europäischen Union, liefern Norbert Breutmann (BDA, Berlin) und Andrea Fergen (IG Metall, Frankfurt/M.) Einschätzungen aus Sicht arbeitspolitischer Akteure. Ralf König (Betriebsrat SAP, Walldorf) und Stefanie Gräfe (Universität Jena) problematisieren anschließend die Wirkung neuer Arbeits- und Wettbewerbskulturen, die mit Blick auf die betriebliche Situation von Beschäftigten nachweislich in Verschleiß und Erschöpfung münden.
Kapitel 5 fragt abschließend nach Voraussetzungen, Kriterien und Potenzialen "sinnvoller Arbeit", die sich als Gegenentwurf zu einer einseitig an Marktdynamiken ausgerichteten Arbeitspolitik versteht. Kerstin Jürgens (Universität Kassel) und Brigitte Aulenbacher/Kristina Binner/Maria Dammayr (Universität Linz) leuchten hier zunächst die empirischen Indizien und erkennbaren Hindernisse und Kontroversen rund um eine solche Zielsetzung aus. Adelheid Biesecker (Universität Bremen), Martin Beckmann (ver.di, Berlin) und Hans-Jürgen Urban (IG Metall, Frankfurt/M.) unterstreichen nachfolgend die Notwendigkeit einer Arbeitspolitik, die neben "sinnvoller Arbeit" auch wirtschaftsdemokratische Ziele auf ihre Agenda setzt.


Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Universität Jena. Kerstin Jürgens ist Professorin für Mikrosoziologie an der Universität Kassel. Ingo Matuschek, Dr. rer. soc., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Jena.


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