Doerry | Lillis Tochter | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Doerry Lillis Tochter

Das Leben meiner Mutter im Schatten der Vergangenheit – eine deutsch-jüdische Familiengeschichte
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-641-28655-2
Verlag: DVA
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Das Leben meiner Mutter im Schatten der Vergangenheit – eine deutsch-jüdische Familiengeschichte

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-641-28655-2
Verlag: DVA
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Martin Doerry über das Leben seiner Mutter zwischen Ausgrenzung und Anpassung

Ilse ist erst 14 Jahre alt, als ihre Mutter, die jüdische Ärztin Lilli Jahn, im Sommer 1943 in ein Lager verschleppt und später in Auschwitz ermordet wird. Von heute auf morgen muss Lillis Tochter die Verantwortung für ihre drei jüngeren Schwestern übernehmen. Als "Halbjüdinnen" sind die Mädchen selbst bedroht. Nach den traumatischen Erfahrungen in der NS-Zeit erlebt Ilse auch im Nachkriegsdeutschland, dass sie nicht wirklich dazugehört. Das Schicksal Lillis verschweigt sie, auf eigene berufliche Pläne verzichtet sie zugunsten der Karriere ihres Mannes. Einfühlsam erzählt Martin Doerry die Geschichte seiner Mutter Ilse als Geschichte einer Überlebenden und einer in den Konventionen und Zwängen ihrer Zeit gefangenen Frau.

Seiner Großmutter Lilli, Ilses Mutter, setzte Martin Doerry zuvor schon mit der Biografie »›Mein verwundetes Herz‹. Das Leben der Lilli Jahn 1900–1944« ein hoch gelobtes literarisches Denkmal.
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Von Immenhausen nach Birmingham


»Ein maßloser Hass«
Der Kampf um Lillis Kinder


Der Muttertag des Jahres 1945 fiel auf den 13. Mai und damit auf den ersten Sonntag nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa. Am Morgen legten Ilses Schwestern eine kleine blaue Karte auf den Frühstückstisch. Auf der Vorderseite stand: »Unserem kleinen Mutterlein zum Muttertag 1945«.

Mit Zwirnsfaden hatten die drei ein weißes Blatt angeheftet, das außen mit bunten Herzchen und Blümchen bemalt war. Und innen hatte eines der Mädchen mit Bleistift geschrieben:

Daneben hatten die Schwestern zwei gepresste Blüten gelegt und das Wort »Vergissunsnicht« hinzugefügt.

Lillis Töchter waren jetzt, wenige Tage nach der Befreiung vom NS-Regime, so sehr aufeinander angewiesen wie nie zuvor. Die Mutter lebte nicht mehr, der Vater befand sich in sowjetischer Kriegsgefangenschaft – so viel immerhin wussten sie, aber ob und wann er wiederkommen würde, schien ungewiss.

Immenhausen war bis auf ein paar kleinere Bombenschäden ohne schlimme Zerstörungen durch den Krieg gekommen. Aber seine Bewohner waren von den Schrecken und Ängsten der letzten sechs Jahre gezeichnet. Lillis Kinder hatten zunächst noch gehofft, dass sie von ihren Nachbarn mit offenen Armen aufgenommen werden würden, nun, da die Jahre der Ausgrenzung und Diskriminierung ein Ende haben sollten. Doch niemand interessierte sich für ihr Schicksal oder entschuldigte sich gar für das, was man ihnen und ihrer Mutter angetan hatte.

Immerhin, die amerikanischen Besatzungssoldaten sorgten sofort dafür, dass der nationalsozialistische Bürgermeister abgesetzt und ein Sozialdemokrat sein Nachfolger wurde. Auch der bis vor Kurzem noch verfolgte Gerhard bekam nun sein erstes Amt: Der 17-Jährige übernahm am 1. Juni für ein Jahr die Kartenstelle im Immenhäuser Rathaus, einen wichtigen Posten in den Zeiten der Mangelwirtschaft. Gerhard entschied ab sofort über die Zuteilung von Nahrungsmitteln und Kleidung.

Außerdem nutzte er seine neue Position, um in eigener Sache tätig zu werden. Die Immenhäuser Nationalsozialisten hatten viele Dokumente, die sie belasteten, kurz vor Kriegsende vergraben – Gerhard ließ sie bergen. Dabei kamen auch jene Briefe zutage, die Bürgermeister Groß an die Kreisleitung der NSDAP in Hofgeismar geschrieben hatte, um Lilli aus Immenhausen zu vertreiben.

Ilse schilderte den Stand der Dinge in der Kinderfamilie am 28. September 1945 in einem Brief an Lillis Freundin Lotte Paepcke. Geschrieben hatte sie ihn auf einem alten Briefbogen mit der Absenderzeile »Frau Dr. med. Lilli Jahn«:

Bis zum Ende des Krieges hatte das NS-Regime die Nahrungsmittelversorgung der eigenen Bevölkerung noch weitgehend gewährleistet – auf Kosten der besetzten Nachbarländer, die dafür ausgeplündert worden waren. Im Laufe des Sommers 1945 machte sich nun der Ausfall dieser Lebensmittellieferungen bemerkbar. Auch Ilse wusste bald nicht mehr, wie sie ihre Schwestern ernähren sollte. Das Angebot in den Geschäften wurde von Woche zu Woche stärker rationiert. Johanna und Eva mussten das Ärztehaus sogar für einige Zeit verlassen und zu befreundeten Familien ziehen, die für die Verpflegung der beiden Mädchen sorgen wollten.

Ilse selbst verdingte sich im Herbst bei Immenhäuser Bauern, um bei der Zuckerrübenernte zu helfen – in der Tat eine, wie sie Lotte schrieb, ziemlich anstrengende Angelegenheit, zumal sie bis dahin nie auf dem Feld gearbeitet hatte. Ihr Lohn bestand darin, dass sie einen kleinen Teil der geernteten Rüben behalten durfte. Um Zucker zu gewinnen, wurden die Rüben dann klein geschnitten, gewaschen und gekocht.

Auch Ilse musste in diesen Wochen das Ärztehaus mehrmals verlassen, allerdings nur nachts. Die 16-Jährige verbrachte die Nächte an wechselnden Orten, bei Nachbarn und Schulfreundinnen, weil es in diesen Nachkriegsmonaten auch in der Umgebung von Kassel zu Vergewaltigungen durch Besatzungssoldaten gekommen war, zu ebenjenen »traurigen Zwischenfällen«, von denen sie Lotte in ihrem Brief berichtete. Zum Glück blieb sie unbehelligt.

Noch mehr Sorgen bereiteten ihr die Spannungen zwischen Rita und Gerhard. Lillis älteste Tochter verhielt sich in dieser Krisensituation zwar genauso, wie es ihre Mutter ihr stets vorgelebt hatte: Sie bemühte sich um Deeskalation und um Ausgleich zwischen den Interessen aller Beteiligten. Doch der Konflikt mit dem Bruder...


Doerry, Martin
Martin Doerry, geboren 1955, ist promovierter Historiker und arbeitete von 1987 bis 2021 als Redakteur für den SPIEGEL. 16 Jahre lang war er stellvertretender Chefredakteur des Nachrichtenmagazins. Bei der DVA erschienen von ihm der in 19 Sprachen übersetzte Bestseller »›Mein verwundetes Herz‹. Das Leben der Lilli Jahn 1900–1944« (2002) und »Nirgendwo und überall zu Haus – Gespräche mit Überlebenden des Holocaust« (2006, in Zusammenarbeit mit der Fotografin Monika Zucht). Gemeinsam mit Susanne Beyer hat er den Band »Mich hat Auschwitz nie verlassen. Überlebende des Konzentrationslagers berichten« herausgegeben (2015).



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