Dostojewski | Der Idiot | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 8, 831 Seiten

Reihe: Dostojewski Sämtliche Romane und Erzählungen

Dostojewski Der Idiot

Roman in vier Teilen
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-8412-2805-5
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman in vier Teilen

E-Book, Deutsch, Band 8, 831 Seiten

Reihe: Dostojewski Sämtliche Romane und Erzählungen

ISBN: 978-3-8412-2805-5
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Verliebt in zwei Frauen.

Fürst Myschkin, von Epilepsie geplagt und für seine Naivität bekannt, wird von allen »der Idiot« genannt. Als er nach einem langen Sanatoriumsaufenthalt nach St. Petersburg zurückkehrt, wird der großmütige junge Fürst in eine Dreiecksgeschichte hineingezogen, aus der er nicht mehr herausfindet: Von nun an bestimmen ihn die Liebe zu Aglaja und das tiefe Mitleid mit Nastassja, in der er als Einziger nicht die Frau von zweifelhaftem Ruf, sondern den leidenden Menschen sieht. Myschkin ist Narr und Heiliger zugleich, ein Don Quijote der Liebe.

»Ist Dostojewski nicht immer aktuell, ja superlativistisch aktueller denn je?« Die Zeit.

»Ist Tolstoi der Michelangelo des Ostens, so darf man Dostojewski den Dante dieser Sphäre nennen.« Thomas Mann



Fjodor Dostojewski (1821-1881) wurde in Moskau als Sohn eines Militärarztes und einer Kaufmannstochter geboren. Er studierte an der Petersburger Ingenieurschule und widmete sich seit 1845 ganz dem Schreiben. 1849 wurde er als Mitglied eines frühsozialistischen Zirkels verhaftet und zum Tode verurteilt. Unmittelbar vor der Erschießung wandelte man das Urteil in vier Jahre Zwangsarbeit mit anschließendem Militärdienst als Gemeiner in Sibirien um. 1859 kehrte Dostojewski nach Petersburg zurück, wo er sich als Schriftsteller und verstärkt auch als Publizist neu positionierte. Wichtigste Werke: 'Arme Leute' (1845), 'Der Doppelgänger' (1846), 'Erniedrigte und Beleidigte' (1861), 'Aufzeichnungen aus einem Totenhaus' (1862), 'Schuld und Sühne' (1866), 'Der Spieler' (1866), 'Der Idiot' (1868), 'Die Dämonen' (1872), 'Der Jüngling' (1875), 'Die Brüder Karamasow' (1880).
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Erster Teil


1


Ende November, bei spätherbstlichem Schneematschwetter, näherte sich gegen neun Uhr früh der Zug der Petersburg-Warschauer Eisenbahnlinie unter vollem Dampf seinem Zielbahnhof Petersburg. Es war so feucht und neblig, daß es gar nicht recht hell werden wollte; schon zehn Schritt rechts und links vom Bahndamm konnte man aus den Abteilfenstern kaum noch etwas unterscheiden. Einige der Reisenden kehrten aus dem Ausland zurück; doch dichter besetzt waren die Abteile der dritten Klasse, durchweg mit Kleinbürgern und allerlei Arbeitsvolk aus der Umgebung. Alle wirkten natürlicherweise verschlafen, die Nacht lastete noch auf den Lidern; alle fröstelten, auf den Gesichtern lag das fahle Blaßgelb des Nebels.

In einem Waggon dritter Klasse saßen sich seit dem Morgengrauen zwei Männer am Fenster gegenüber – beide jung, beide fast ohne Gepäck, beide wenig elegant gekleidet, doch von recht ansehnlichem Äußeren, und beide schließlich nicht abgeneigt, miteinander ins Gespräch zu kommen. Hätten sie in diesem Augenblick um die ihnen eigenen Besonderheiten gewußt, wären sie gewiß erstaunt gewesen, daß der Zufall sie auf so seltsame Weise in einem Abteil dritter Klasse der Petersburg-Warschauer Eisenbahn vis-à-vis plaziert hatte. Der eine war von untersetzter Gestalt, etwa siebenundzwanzig Jahre alt, hatte lockiges, fast schwarzes Haar und kleine graue, aber feurige Augen. Seine Nase wirkte breit und platt zwischen kräftig ausgebildeten Backenknochen, um seine schmalen Lippen spielte ständig ein dreistes, spöttisches, ja boshaftes Lächeln, doch seine hohe, wohlgeformte Stirn milderte das Grobschlächtige der unteren Gesichtshälfte. Besonders fiel die Totenblässe auf; sie ließ das Antlitz des jungen Mannes, ungeachtet seiner sonst recht kräftigen Statur, wie ausgemergelt erscheinen und verlieh ihm zugleich den Ausdruck von geradezu quälender Leidenschaftlichkeit, die mit dem anmaßenden groben Lächeln und dem durchdringenden, selbstzufriedenen Blick durchaus nicht harmonierte. Der Mann trug warme Kleidung – einen weiten schwarzen Tuchmantel, mit gewöhnlichem Lammfell gefüttert –, ihm war in der Nacht gewiß nicht kalt gewesen wie seinem Gegenüber, der, auf solche Witterung offensichtlich nicht vorbereitet, mit frierendem Rücken sämtliche Annehmlichkeiten einer feuchten russischen Novembernacht ausgekostet hatte. Ihn schützte lediglich ein ziemlich weiter, grobgewebter Umhang mit mächtiger Kapuze, wie ihn Winterreisende im Ausland zu benutzen pflegen; in der Schweiz etwa oder in Norditalien, wo sie natürlich nicht mit solchen Strecken wie der von Eydtkuhnen nach Petersburg zu rechnen hatten. Was jedoch für Italien paßt und dort völlig ausreicht, erweist sich für Rußland als unzulänglich. Der Besitzer des Umhanges mit der Kapuze war ein junger Mann, ebenfalls sechs- oder siebenundzwanzig Jahre alt, wenig mehr als mittelgroß, mit dichtem, sehr blondem Haar, eingefallenen Wangen und geradezu weißem Spitzbart. Seine großen blauen Augen blickten aufmerksam; in ihnen lag etwas Stilles, doch auch Schweres; sie hatten jenen eigentümlichen Ausdruck, an dem manche sogleich den Fallsüchtigen erkennen. Im übrigen wirkte das Antlitz des jungen Mannes angenehm, es war schmal und hager, doch krankhaft blaß, ja in diesem Augenblick sogar fast blau vor Kälte. In den Händen hielt er ein aus einem alten verblichenen Seidentuch geknüpftes dürftiges Bündel, das offenbar sein gesamtes Reisegepäck darstellte. Seine Füße steckten in dickbesohlten Schuhen mit geknöpften Gamaschen darüber, beides nicht nach russischer Art. Der gegenübersitzende schwarzhaarige Mitreisende in dem Bauernpelz betrachtete dies alles, zum Teil wohl aus Langerweile, und fragte endlich mit jenem wenig zartfühlenden Lächeln, das mitunter rücksichtslos und unverhüllt die Befriedigung mancher Menschen über die Mißerfolge ihres Nächsten zeigt: »Ist Ihnen kalt?«

Dabei zog er selbst die Schultern zusammen.

»Sehr«, erwiderte der Reisegefährte äußerst bereitwillig. »Und wir haben doch Tauwetter, wie man sieht. Wie wäre das erst, wenn Frost herrschte? Mir war gar nicht in Erinnerung, daß es bei uns so kalt ist. Ich bin’s nicht mehr gewöhnt.«

»Sie kommen aus dem Ausland?«

»Ja, aus der Schweiz.«

»Sieh an! Was Sie nicht sagen.«

Der Schwarzhaarige stieß einen leisen Pfiff aus und lachte kurz auf.

Sie kamen ins Gespräch. Der weißblonde junge Mann im Schweizer Umhang gab seinem schwarzhaarigen Gegenüber mit erstaunlicher Bereitschaft Auskunft, ohne daß ihm auch nur im entferntesten die Geringschätzung auffiel, mit der dieser seine höchst unangebrachten und belanglosen Fragen stellte. So erzählte er unter anderem, er sei in der Tat lange nicht in Rußland gewesen, über vier Jahre nicht, da man ihn einer eigentümlichen Nervenkrankheit wegen, einer Art Epilepsie oder Veitstanz mit Zuckungen und Krämpfen, ins Ausland geschickt habe. Während des Berichts lächelte der Dunkle mehrmals, vor allem aber, als er auf die Frage: »Und sind Sie nun völlig geheilt?« die Antwort erhielt: »Nein, völlig nicht.«

»Nanu, dann haben Sie Ihr Geld also umsonst ausgegeben? Und wir setzen hier so großes Vertrauen in die ausländischen Ärzte«, bemerkte daraufhin der Schwarzhaarige höhnisch.

»Ja, das stimmt«, mischte sich ein neben ihm sitzender schlecht gekleideter Herr in das Gespräch, dem Aussehen nach ein im Dienst verknöcherter Beamter, etwa vierzig Jahre alt, stämmig, mit roter Nase und Pickeln im Gesicht. »Wahrhaftig, mein Herr, die wollen uns Russen bloß schröpfen.«

»Oh, da irren Sie sich in meinem Fall aber sehr«, widersprach der aus der Schweiz kommende Patient mit sanfter, friedfertiger Stimme. »Ich kann natürlich nicht streiten, da ich nicht so genau Bescheid weiß, doch der Arzt, bei dem ich in Behandlung war, hat mir von seinem letzten Geld noch die Fahrkarte hierher gekauft, nachdem ich dort fast zwei Jahre lang auf seine Kosten gelebt habe.«

»Wie denn, es mußte niemand für Sie bezahlen?« fragte der Schwarzhaarige.

»Nein. Herr Pawlistschew, der anfangs für meinen Unterhalt aufkam, ist vor zwei Jahren gestorben; ich habe daraufhin hierher an Frau Generalin Jepantschina geschrieben, eine entfernte Verwandte von mir, aber keine Antwort erhalten. So bin ich losgefahren.«

»Und wo wollen Sie hin?«

»Sie meinen, wo ich wohnen werde? Ja – das weiß ich eigentlich selbst noch nicht.«

»Das wissen Sie nicht?«

Beide Zuhörer lachten abermals.

»Enthält dieses Bündelchen etwa Ihre ganze Habe?« fragte der Schwarzhaarige.

»Darauf möchte ich wetten«, fiel mit höchst zufriedener Miene der rotnasige Beamte ein. »Und auch darauf, daß er nichts im Gepäckwagen hat. Obwohl Armut ja keine Schande ist, wie man dabei betonen muß.«

Seine Annahme erwies sich als richtig: Der weißblonde junge Mann bestätigte sie sogleich mit ungewöhnlicher Eilfertigkeit.

»Immerhin hat Ihr Bündel doch einiges Gewicht«, fuhr der Beamte fort, nachdem beide Mitreisende ausgiebig gelacht hatten. (Bemerkenswerterweise war der Besitzer des Bündels angesichts ihrer Heiterkeit am Ende in ihr Lachen eingefallen, was die anderen noch mehr amüsiert hatte.) »Zwar würde ich wetten, daß Sie keine Rollen ausländischer Goldstücke darin transportieren, etwa Napoleondore und Friedrichsdore oder holländische Dukaten, wie allein schon die Gamaschen über Ihren ausländischen Schuhen erkennen lassen, aber … wenn man sich bei seinem Anblick vor Augen hält, daß, wie Sie behaupten, eine Frau wie die Generalin Jepantschina mit Ihnen verwandt ist, dann wiegt es sogleich beträchtlich schwerer, vorausgesetzt natürlich, Ihre Angabe stimmt tatsächlich, und Sie bringen da nicht vielleicht aus Zerstreutheit etwas durcheinander, was ja Leuten mit, nun, sagen wir, mit zu reger Phantasie durchaus nicht selten widerfährt.«

»Oh, Sie haben es abermals getroffen«, bestätigte der weißblonde junge Mann sogleich. »Es war wohl in der Tat ein Irrtum von mir, das heißt, Frau Jepantschina und ich sind nur entfernt verwandt, so entfernt, daß ich eigentlich schon damals gar nicht erstaunt war, keine Antwort vor ihr zu bekommen. Ich hatte nichts anderes erwartet.«

»Das Geld für das Briefporto war zum Fenster hinausgeworfen. Hm, Sie sind zumindest ein treuherziger und aufrichtiger Mensch, und das ist löblich! Ja. Den General Jepantschin kenne ich, das heißt, den kennt jeder; ich kannte aber auch den verstorbenen Herrn Pawlistschew, der Ihren Aufenthalt in der Schweiz bezahlt hat, falls es sich um Nikolai Andrejewitsch Pawlistschew handelt, denn es gibt zwei Vettern dieses Familiennamens. Der andere lebt noch auf der Krim. Nikolai Andrejewitsch, der Verstorbene, war ein ehrbarer Mann mit guten Verbindungen, er nannte seinerzeit viertausend Seelen sein eigen.«

»Ganz recht, er hieß Nikolai Andrejewitsch Pawlistschew«, erwiderte der junge Mann, den Blick unverwandt und fragend auf den Herrn Alleswisser gerichtet.

Solche Herren findet man gelegentlich, ja sogar recht häufig, in einer ganz bestimmten Gesellschaftsschicht. Sie wissen alles; der unstete Forscherdrang ihres Hirns und all ihre Fähigkeiten zielen unabwendbar in eine Richtung, natürlich auf Kosten wichtigerer Lebensinteressen und -qualitäten, wie moderne Denker sich ausdrücken würden. Wenn wir sagen, sie wissen alles, so ist darunter im übrigen ein sehr beschränktes Gebiet zu verstehen, nämlich die Kenntnis, welchen Posten jemand bekleidet, mit wem er bekannt ist, auf welche Höhe sich sein Vermögen...



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