E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Doty Der Neurochirurg, der sein Herz vergessen hatte
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-95803-243-9
Verlag: Scorpio Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Eine wahre Geschichte
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-95803-243-9
Verlag: Scorpio Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
James R. Doty, international renommierter Professor für Neurochirurgie an der Universität von Stanford, ist Leiter des Center for Compassion and Altruism Research and Education (CCARE). Doty hat weltweit Kliniken gegründet, seine Stiftungen an Wohltätigkeitsorganisationen belaufen sich auf hohe Millionenbeträge. Er ist Gastprofessor an mehreren Universitäten und für zahlreiche Stiftungen und Nonprofit-Organisationen tätig, u.a. für die Dalai Lama Foundation.
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Einleitung:
Die schönen Dinge
Die Kopfhaut macht ein charakteristisches Geräusch, wenn man sie vom Schädel abzieht – ähnlich einem langen Klettverschluss. Das Geräusch ist laut und wütend und auch ein wenig traurig. Im Medizinstudium gibt es kein Fach, in dem man etwas über die Geräusche und Gerüche der Hirnchirurgie erfährt. Man sollte es einführen. Das Brummen des schweren Bohrers beim Durchbohren des Schädels. Der Duft nach sommerlichem Sägemehl, der den Operationssaal erfüllt, sobald die Knochensäge eine Linie vom einen Bohrloch zum anderen schneidet. Das zögerliche Knacken der Hirnschale, wenn sie von der Dura mater entfernt wird, jener dicken Schicht, die unser Gehirn umgibt und seine letzte Schutzbastion gegenüber der Außenwelt bildet. Das sanfte Aufschneiden der Dura mater mit der Schere. Liegt das Gehirn frei, sieht man es im Rhythmus mit jedem Herzschlag pulsieren, und manchmal glaubt man es aus Protest gegen seine eigene Nacktheit und Verletzbarkeit aufseufzen zu hören – sind doch seine Geheimnisse vor den Augen aller zur Schau gestellt im grellen Scheinwerferlicht des Operationssaals.
Der Junge wirkt winzig in seinem OP-Hemd. Er wird fast verschluckt von seinem Bett, während er darauf wartet, dass man ihn in den Operationssaal schiebt.
»Meine Oma hat für mich gebetet. Und für dich hat sie auch gebetet.«
Als er das sagt, höre ich, wie seine Mutter laut ein- und ausatmet, und ich weiß, sie versucht, tapfer zu bleiben. Ihrem Sohn zuliebe. Sich zuliebe. Womöglich sogar mir zuliebe. Ich lasse meine Hand durch sein Haar gleiten. Er hat braunes, langes, feines Haar; mehr wie ein Baby als ein Kleinkind. Er erzählt mir, dass er gerade Geburtstag gehabt habe.
»Möchtest du, dass ich dir noch einmal erkläre, was wir heute machen, Champion? Oder bist du startklar?« Er mag es, wenn ich ihn Champion oder Kumpel nenne.
»Ich schlafe ein. Du nimmst das eklige Ding aus meinem Kopf, damit es mir nicht mehr wehtut. Dann sehe ich meine Mama und meine Oma wieder.«
Das »eklige Ding« ist ein Medulloblastom, der häufigste bösartige Hirntumor bei Kindern. Es sitzt in der hinteren Schädelgrube (einem Teil der inneren Schädelbasis). »Medulloblastom« ist selbst für einen Erwachsenen ein schwer auszusprechendes Wort, erst recht für einen Vierjährigen, wie frühreif er auch sein mag. Hirntumore bei Kleinkindern sind in der Tat eklige Dinger, also bin ich mit seiner Bezeichnung einverstanden. Medulloblastome sind unförmige und oft grotesk wirkende Eindringlinge in die fein gestaltete Symmetrie des Gehirns. Sie entwickeln sich zwischen den beiden Kleinhirnlappen und wachsen weiter, bis sie nicht nur auf das Kleinhirn, sondern auch auf den Hirnstamm drücken und schließlich die Bahnen blockieren, in denen die Hirnflüssigkeit zirkuliert. Das Gehirn ist eines der schönsten Dinge, die ich je in meinem Leben gesehen habe; seine Geheimnisse zu erforschen und Wege zu seiner Heilung zu finden ist ein Privileg, das ich nie als selbstverständlich erachtet habe.
»Wie ich sehe, bist du startklar. Ich werde mir jetzt meine Superhelden-Maske aufsetzen, und wir treffen uns im Raum mit den Scheinwerfern, okay?«
Er lächelt mich an. OP-Masken und Operationssäle können furchteinflößend sein. Heute nenne ich sie »Superhelden-Maske« und »Raum mit den Scheinwerfern«, damit der Junge nicht so große Angst hat. Der menschliche Geist ist ein kurioses Ding, aber einem Vierjährigen werde ich darüber jetzt keinen Vortrag halten. Manche der weisesten Patienten, ja überhaupt Menschen, die ich in meinem Leben getroffen habe, waren Kinder. Ein Kinderherz ist ganz offen. Kinder erzählen einem, wovor sie Angst haben, was sie glücklich macht, was sie an einem mögen und was nicht. Sie sind wie ein offenes Buch, und man muss nicht erst mühsam herausfinden, was sie denken.
Ich wende mich seiner Mutter und seiner Großmutter zu: »Jemand aus meinem Team wird Sie über den Verlauf der Operation informieren. Ich erwarte eine vollständige Resektion. Ich rechne nicht mit Komplikationen.« Was ich sage, ist nicht bloß das Fachsimpeln eines Chirurgen, der den beiden erzählt, was sie hören wollen – meine Absicht ist es, einen sauberen und effizienten chirurgischen Eingriff vorzunehmen, den Tumor vollständig zu entfernen und eine Gewebeprobe ins Labor zu schicken, um zu sehen, wie eklig das »eklige Ding« tatsächlich ist.
Ich weiß, die Mutter und die Großmutter des Jungen fürchten sich. Nacheinander halte ich beiden die Hände, versuche sie zu beruhigen und zu trösten. Es ist niemals leicht. Die morgendlichen Kopfschmerzen eines kleinen Jungen haben sich für seine Eltern zum schlimmsten Albtraum entwickelt. Die Mutter vertraut mir. Die Großmutter vertraut auf Gott. Ich vertraue meinem Team.
Zusammen werden wir alle versuchen, das Leben dieses Jungen zu retten.
Nachdem der Anästhesist den Jungen in Narkose versetzt hat, fixiere ich seinen Kopf in einem Kopfrahmen und bringe seinen Körper in Bauchlage. Ich greife zum Haarschneider. Obwohl diese Dinge normalerweise die OP-Schwester erledigt, ziehe ich es vor, die Haare des Jungen selbst zu rasieren. Das ist für mich ein Ritual. Und während ich langsam seine Haare abrasiere, denke ich über diesen wunderbaren kleinen Jungen nach, gehe im Geist noch einmal jedes Detail der Operation durch. Ich schneide die erste Strähne ab und reiche sie dem operationstechnischen Assistenten, damit er sie in einem kleinen Plastikbeutel für die Mutter aufbewahrt. Es ist sein erster Haarschnitt, und obwohl seine Mutter in diesem Moment andere Sorgen hat, weiß ich, dass es später eine Bedeutung für sie haben wird. Ein besonderes Ereignis im Leben, an das man sich erinnern möchte. Der erste Haarschnitt. Der erste ausgefallene Zahn. Der erste Schultag. Zum ersten Mal Fahrrad fahren. Die erste Gehirnoperation steht niemals auf dieser Liste.
Behutsam schneide ich seine dünnen hellbraunen Strähnen ab und hoffe, dass mein junger Patient all diese ersten Male erleben wird. Ich stelle mir vor, wie er lacht, und an der Stelle, wo vorher seine Vorderzähne waren, klafft eine große Lücke. Ich sehe ihn auf dem Weg in den Kindergarten, mit seinem Rucksack über der Schulter, der fast so groß ist wie er selbst. Ich sehe, wie er zum ersten Mal Fahrrad fährt – dieses erste aufregende Gefühl von Freiheit, er tritt fieberhaft in die Pedale, der Wind bläst ihm durchs Haar. Mir kommen meine eigenen Kinder in den Sinn, während ich ihm die Haare abrasiere. All diese Bilder und Szenen seiner ersten Male sehe ich so deutlich vor mir, dass ich mir gar keinen anderen Ausgang für die Operation vorstellen kann. Ich will nicht, dass ihn eine Zukunft mit Krankenhausbesuchen, Nachbehandlungen und zusätzlichen Operationen erwartet. Als Überlebender eines Hirntumors im Kindesalter wird er sich sowieso immer Kontrollchecks unterziehen müssen. Aber ich weigere mich ganz einfach, eine Zukunft in Betracht zu ziehen, die wie seine Vergangenheit ist. Die Übelkeit und das Erbrechen. Das ständige Hinfallen. Das Aufwachen in den frühen Morgenstunden und sein Rufen nach der Mutter, weil das eklige Ding auf sein Hirn drückt und ihm Schmerzen bereitet. Im Leben gibt es schon genug Leid, da braucht man das nicht noch zusätzlich.
Sacht rasiere ich sein Haar weiter ab, gerade so viel, dass ich meine Arbeit verrichten kann. Ich markiere zwei Punkte auf seiner Schädelbasis, wo wir den Schnitt machen werden, und verbinde die Punkte mit einer geraden Linie.
Hirnchirurgie ist eine diffizile Angelegenheit. Aber ein chirurgischer Eingriff in der hinteren Schädelgrube ist es umso mehr, und bei einem Kleinkind wird er vollends zur Qual. Der Tumor ist ausgedehnt, die Operation erfolgt extrem langsam und gewissenhaft. Das Auge blickt stundenlang konzentriert durchs Mikroskop. Als Chirurgen haben wir gelernt, unsere körperlichen Bedürfnisse während der Operation auf null herunterzufahren. Wir gehen nicht auf die Toilette. Wir essen nichts. Wir haben gelernt, Rückenschmerzen und Muskelkrämpfe zu ignorieren. Ich erinnere mich daran, wie ich zum ersten Mal im OP-Saal stand. Ich assistierte einem berühmten Chirurgen, der nicht nur als Koryphäe galt, sondern auch dafür bekannt war, dass er beim Operieren gern stritt und sich wie eine überkandidelte Primadonna aufführte. Ich fühlte mich eingeschüchtert und nervös, und als ich neben ihm im Operationssaal stand, begann mir der Schweiß übers Gesicht zu laufen. Ich atmete schwer in meine Maske, meine Brille beschlug. Ich konnte kaum mehr das Besteck erkennen, geschweige denn das Operationsfeld. Da hatte ich mich so angestrengt, so viele Schwierigkeiten überwunden, jetzt stand ich hier und operierte, wie ich es mir immer gewünscht hatte, und konnte absolut nichts erkennen. Dann geschah das Undenkbare. Ein dicker Schweißtropfen lief mir am Gesicht herab und fiel direkt in den sterilen Bereich. Der Chirurg schäumte vor Wut. Dies sollte nun einer der bedeutendsten...




