E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Doyle The Lost Girl King
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-95728-910-0
Verlag: Knesebeck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-95728-910-0
Verlag: Knesebeck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Catherine Doyle wuchs im Westen Irlands auf. Die irischen Mythen und Legenden ihrer Jugend, weckten ihre Liebe zu Büchern und inspirieren heute ihre Werke. Sie hat einen Bachelor in Psychologie und einen Master im Publishing. Ihr preisgekröntes Debut 'The Storm Keeper's Island' spielt auf Arranmore, wo ihre Großeltern aufwuchsen. Nach zwei Jahren in Dublin, lebt Catherine wieder in Galway.
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Kapitel 1
DAS HAUS ZWISCHEN DEN WELTEN
Weit draußen im Westen, wo die Straßen immer schmaler werden und die zerklüfteten Gipfel von Connemara steil bis in den Atlantik abfallen, befand sich ein gelbes Haus, das auf der Grenze zwischen zwei Welten stand. Es war angefüllt mit Büchern und Krimskrams und umgeben von hohen Bergen, die im Winter ächzten und im Frühling blühten.
Es gehörte Amy Bells Großmutter Dorothy, und als Amys Mum in die Auffahrt abbog, schlief Amy tief und fest auf dem Rücksitz.
Jedes Mal, wenn sie einen lauten Schnarcher von sich gab, beschlug die Fensterscheibe, was aber kaum auffiel, weil draußen so dichter Nebel herrschte.
»Da sind wir. Allesamt gesund und munter«, verkündete ihre Mum, nachdem sie den Motor abgestellt hatte. »Ich hoffe, dass ihr euch von eurer besten Seite zeigt. Macht eurer Gran keinen Ärger, ja?«
Amys älterer Bruder Liam, der auf dem Beifahrersitz saß, blickte von seinem Buch auf. »Mum«, schnaubte er. »Du weißt doch, dass ich vernünftig bin.«
»Natürlich, Spatz.« Ihre Mum warf durch den Rückspiegel einen vielsagenden Blick auf Amy. Als keine Antwort kam, rief sie mit ihrer lauten Opernstimme, die normalerweise für den Weckruf an Schultagen reserviert war: »Guten Morgen, Sonnenschein!«
Amy fuhr aus dem Schlaf hoch. »Sonnenschein? Wo?«
»Hier jedenfalls nicht«, bemerkte Liam. »An deiner Stelle würde ich mir keine Hoffnungen machen.«
Der Regen war ihnen mit seinem ständigen Tapp-tapp-tapp gegen die Scheiben den gesamten Weg von der Stadt aus gefolgt.
Ihre Mum faltete die Hände in den Schoß. »Lasst uns einfach kurz warten, ja?«
Liam schob sich die Brille zurecht und schaute nach draußen. »Ich glaube nicht, dass kurz reicht, Mum. So dicht, wie der Nebel ist, kann man ja kaum die Berge erkennen.«
Amy runzelte die Stirn. Es war doch schon schlimm genug, dass sie die erste Ferienwoche so weit weg von ihren Freundinnen verbringen musste! Lily und Gita waren mit ihren Familien gemeinsam auf den Aran-Inseln zelten, während Amy hier in dieser dämlichen Regenwolke feststeckte. Wie sollte man bei dem Wetter bitte ein Abenteuer erleben?
»Was ist das nur für ein Sommer?«, murmelte sie vor sich hin.
»Ein unvorhersehbarer«, flötete ihre Mum gut gelaunt. »Was meiner Meinung nach die besten sind.«
Amys Stirnrunzeln wurde noch eine Spur tiefer. Ihre Mum hatte leicht reden. Die flog nämlich morgen mit ihrem Freund Paul nach Santorin, bei dem es sich den Fotos nach um ein richtiges Paradies mit funkelndem, klarem Wasser und Restaurants handelte, in denen Getränke in Regenbogenfarben mit winzigen Papierschirmchen darin serviert wurden.
»Keine Ahnung, was an Regen in Connemara unvorhersehbar sein soll. Ich werde hier so was von sterben vor Langeweile.«
»Ich hab dir ja gesagt, dass du besser ein Buch mitbringen solltest«, sagte Liam, dem der Regen nicht das kleinste bisschen ausmachte. Seiner Meinung nach war es sowieso grundsätzlich gefährlich, sich im Freien aufzuhalten. Er hasste Insekten und Sport und war der einzige ihr bekannte Mensch, der sogar an bewölkten Tagen einen Sonnenbrand bekommen konnte. Wenn es nach Liam ging, war eine Woche Regenwetter in Grans Haus tausendmal besser als eine Woche im sonnigen Santorin. »Ich habe ein superinteressantes Buch über Haie dabei, das ich dir leihen könnte. Aber du darfst keine Eselsohren reinmachen.«
»Danke, aber da ess ich lieber meine ungewaschenen Haare.« In der Ferne war Donnergrollen zu hören, und Amys Laune sackte endgültig in den Keller. Sie drückte die Stirn gegen die Scheibe – und schreckte zusammen, als auf der anderen Seite plötzlich ein Gesicht auftauchte. »Gran!«
Das Lächeln ihrer Großmutter war kaugummirosa, und ihre Augen hatten das strahlende Blau eines Himmels, der wusste, was sich im Sommer gehörte. Sie klopfte mit den Knöcheln gegen das Fenster. »Steigst du aus, oder muss ich reinkommen, um dich zu holen?«
Amy klappte die Autotür auf und fiel ihrer Gran um den Hals. Sie freute sich über das Wiedersehen, auch wenn weit und breit kein Abenteuer in Sicht war.
Liam steckte sein Buch in die Bauchtasche seines Hoodies und stieg ebenfalls aus dem Wagen. Ihre Gran musste auf die Zehenspitzen gehen, um ihn zu umarmen.
»Ach, du liebes Lieschen, du bist ja lang wie eine Bohnenstange!« Sie steckte den Kopf durch die offene Tür ins Auto und rief: »Mit was fütterst du ihn, Darcy? Turbodünger?«
Amys Mum winkte ihr zur Begrüßung mit den Fingern. »Einer von uns muss schließlich an die Deckenlampen kommen.«
»Da hast du wohl recht.« Gran tätschelte Amy den Kopf. »Keine Sorge, Liebes, das holst du schon noch auf.«
Liam tätschelte mit. »Eines fernen Tages vielleicht.«
Amy streckte ihm die Zunge heraus. »Ich bin gern klein. So kann ich viel besser rumschnüffeln.«
»Ich tue mal so, als hätte ich das nicht gehört«, sagte Gran. Dann scheuchte sie die beiden in Richtung Haus. »Kommt, verkrümeln wir uns aus dieser Sintflut, ehe wir zerfließen. Ich habe Rhabarber-Crumble gemacht und würde vorschlagen, wir verhalten uns vernünftig und fangen das Abendessen mit dem Nachtisch an.«
Ihre Mum verabschiedete sich und drückte Amy und Liam jeweils einen Abschiedskuss auf die Wange. Dann sprang sie wieder in ihr Auto und fuhr davon.
Liam und Amy winkten ihr von der Haustür aus hinterher. Sie waren beide ein bisschen beleidigt, weil ihre Mum bei der Abreise so gute Laune hatte.
Im Flur legte Gran ihren Regenmantel ab wie ein Schmetterling, der seinen Kokon verließ. Darunter trug sie ein Outfit, das ihrer Persönlichkeit entsprach: eine goldene Bluse, eine blaue Hose und knallgelbe Gummistiefel. Sie brachte die Kinder zum Aufwärmen ins Wohnzimmer zum knisternden Kaminfeuer. Liam schnappte Amy den Platz auf dem abgenutzten Sitzsack in der Ecke weg und ließ sich genüsslich darauf fallen.
»Du bist jetzt doch viel zu groß für das Ding«, sagte Amy und stupste ihn mit dem Schuh an. »Nicht dass der Sack am Ende noch platzt.«
»Netter Versuch«, erwiderte Liam und verschränkte dabei die Hände hinterm Kopf. »Für Sitzsäcke kann man gar nicht zu groß sein.«
»Ach, mach doch, was du willst.« Amy streifte ihre Turnschuhe ab und kuschelte sich in den Polstersessel vor dem Kamin. Die Bücherregale links und rechts davon wirkten sogar noch schiefer als üblich, und kurz fragte sie sich, ob das hier wohl der lang gefürchtete Urlaub sein würde, in dem sie umstürzten und jemanden unter sich begruben.
Sie sah zu den Büchern auf und überlegte, wie viele davon nötig wären, um sie zu zerquetschen. Die vergoldeten Rücken schienen ihr zuzuzwinkern. Die zerlesene Ausgabe von Altirland durch die Jahrhunderte: Eine vollständige Sammlung keltischer Legenden war mindestens achthundert Seiten lang. Sie würde bestimmt mehr Schaden anrichten als Sieben Kniffe, eine Elfenfestung aufzuspüren oder Banshees Bannen in drei Schritten, die eher Hefte als Bücher waren. Amys Lieblingsbuch Verborgene Kämpfe im Atlantik: Die großen Schlachten zwischen Selkies und Meermännern verbarg sich ganz unten im Regal neben gleich mehreren Ausgaben eines schimmernden neuen Buchs mit dem Titel Mythos oder Mumpitz? Auf der Suche nach dem magischen Königreich Tír na nÓg, das Amy heute zum ersten Mal sah. Dann entdeckte sie den Namen der Autorin.
»Gran! Da stehst ja du drauf! Hast du echt ein Buch geschrieben?«
Liam nahm den aufgeregten Jubel seiner Schwester mit Skepsis zur Kenntnis. »Falls das ein Trick sein soll, um mich aus dem Sitzsack zu locken: Darauf falle ich nicht rein.«
Gran, die in der Tür stand, lachte leise auf. »Tja, nachdem ich so viele Jahre lang meinen Schülerinnen und Schülern alles über irische Mythen beigebracht habe, dachte ich, warum nicht ein paar davon aufschreiben? Jetzt, wo ich offiziell im Ruhestand bin, habe ich schließlich Zeit.«
Amy nahm eine Ausgabe des Buchs ihrer Gran aus dem Regal und hievte es auf ihren Schoß. »Boah, ist das cool«, sagte sie, während sie es aufschlug. »Wetten, damit könnte man einen Einbrecher k. o. schlagen?«
Nach zwei ungeschickten Versuchen gelang es Liam, sich in dem Sitzsack aufzurichten, um sich genauer ansehen zu können, wovon Amy da sprach. »Sagst du nicht immer, Bücher sind langweilig?«
»Nein. Ich sage immer, deine Bücher sind langweilig«, korrigierte ihn Amy. »Aber das hier hat Gran geschrieben. Damit ist es automatisch das beste Buch der Welt. Und es macht mich irgendwie auch berühmt, weil ich Gran kenne.«
Amy hatte immer schon gefunden, dass ihre Gran eher Archäologin war als Literaturprofessorin. Sie grub die spannendsten Geschichten aus und holte mit...