Dubois | Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Dubois Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise

Roman Prix Goncourt 2019

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-423-43811-7
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Prix Goncourt 2019 – der Nummer-1-Bestseller aus Frankreich
Warum sitzt ein unauffälliger Mensch wie Paul Hansen im baufälligen Gefängnis von Montréal? Der in Frankreich aufgewachsene Sohn eines dänischen Pastors und einer Kinobesitzerin hatte schon einiges hinter sich, bevor er seine Berufung als Hausmeister in einer exklusiven Wohnanlage in Kanada fand. Ein Vierteljahrhundert lang lief alles rund – die Heizungsanlage ebenso wie die Kommunikation, bis Paul eines Tages die Sicherung durchbrennt. Nun erträgt er mit stoischer Ruhe seinen Zellengenossen Patrick, einen Hells-Angels-Biker, der sich jedoch von einer Maus ins Bockshorn jagen lässt. Paul hat viel Zeit zum Nachdenken – Zeit für tragikomische Lebenslektionen und unerwartetes Glück.
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DAS GEFÄNGNIS AM FLUSS
Seit einer Woche schneit es. Durch das Fenster betrachte ich die Nacht und höre der Kälte zu. Hier drin sind Geräusche. Besondere, unangenehme Geräusche, die einen glauben lassen, das in den Schraubstock des Eises gezwängte Gebäude stieße eine beklommene Klage aus, als würde es sich quälen und unter dem Druck zerbrechen. Zu dieser Stunde schläft das Gefängnis. Nach einer gewissen Zeit, wenn man sich an seinen Stoffwechsel gewöhnt hat, hört man im Dunkeln sein Atmen wie das eines großen Tiers, hin und wieder Husten und sogar Schlucken. Das Gefängnis verschlingt uns, verdaut uns, und, zusammengerollt in seinem Bauch, gekauert in die nummerierten Falten seiner Gedärme, zwischen zwei Magenkrämpfen, schlafen und leben wir, so gut es geht. Die Haftanstalt Montreal, auch Bordeaux genannt, weil sie in einem ehemaligen Stadtviertel dieses Namens errichtet wurde, liegt am Boulevard Gouin Ouest Nummer 800, am Rand des Rivière des Prairies. 1357 Häftlinge. 82 hingerichtet durch den Strang. Bis 1962. Früher einmal, bevor dieses Zwangsuniversum erbaut wurde, muss der Ort herrlich gewesen sein, mit seinen Birken, Ahorn- und Essigbäumen, mit den hohen Gräsern, die von durchziehenden wilden Tieren umgeknickt wurden. Heute sind Ratten und Mäuse die einzigen Überlebenden dieser Fauna. Und ihrer anspruchslosen Natur entsprechend haben sie diese geschlossene Welt aus eingekerkertem Leid wiederbevölkert. Sie scheinen sich mit der Haft bestens zu arrangieren, ihre Kolonie breitet sich immer weiter aus, in allen Trakten des Bauwerks. Nachts hört man deutlich, wie die Nager in den Zellen und Fluren aktiv sind. Um ihnen den Zugang zu versperren, schieben wir zusammengerollte Zeitungen und alte Kleidungsstücke unter die Türen und vor die Lüftungsschlitze. Aber es nutzt nichts. Sie schlüpfen hindurch, drängen sich vorbei, schleichen sich ein und tun, was sie zu tun haben. Die Art von Zelle, in der ich lebe, wird Condo genannt, was Wohnung heißt. Man hat dem Raum diese ironische Bezeichnung verpasst, weil seine Größe leicht über dem Standardmodell liegt, das den uns verbliebenen Rest Menschlichkeit auf sechs Quadratmeter zwängt. Zwei Etagenbetten, zwei Fenster, zwei in den Boden zementierte Hocker, zwei Ablagebretter, ein Waschbecken, ein Klo. Ich teile diesen Pferch mit Patrick Horton, ein Hüne, der sich die Geschichte seines Lebens – Life is a bitch and then you die – auf den Rücken und die seiner Liebe zu Harley-Davidsons auf die Schulter und Brust hat tätowieren lassen. Seit dem Mord an einem Hells Angel aus dem Charter Montreal, der von seinen Kumpel auf dem Motorrad erschossen wurde, weil sie ihn verdächtigten, mit der Polizei gemeinsame Sache zu machen, wartet Patrick auf seinen Prozess. Ihm wird vorgeworfen, an der Exekution beteiligt gewesen zu sein. Angesichts seiner einschüchternden Proportionen und seiner Zugehörigkeit zu dieser Motorradmafia mit ihrem beeindruckenden Katalog an Morden und Totschlägen treten alle respektvoll zur Seite, als sei er ein Kardinal, wenn er durch die Flure von Bereich B schlendert. Weil bekannt ist, dass ich die Zelle mit ihm teile, genieße ich denselben Respekt wie dieser sonderbare Nuntius. Zwei Nächte schon stöhnt Patrick im Schlaf. Ihm tut ein Zahn weh, und er verspürt das typische Ziehen eines Abszesses. Mehrmals hat er bei einem Wärter über Schmerzen geklagt, bis der ihm schließlich Tylenol brachte. Als ich ihn fragte, warum er sich nicht in die Warteliste für den Zahnarzt eingetragen hat, sagte er: »Niemals. Wenn du Zahnschmerzen hast, behandeln diese Hurensöhne hier den Zahn nicht, sondern ziehen ihn dir. Wenn dir zwei Zähne wehtun, ist es das Gleiche, dann ziehen sie dir beide.« Seit neun Monaten wohnen wir zusammen, und es läuft ziemlich gut. Eine Laune des Schicksals hat uns ungefähr zur selben Zeit hier zusammengebracht. Sehr bald wollte Patrick wissen, mit wem er tagtäglich die Kloschüssel teilen sollte. Ich habe ihm dann meine Geschichte erzählt, eine völlig andere als die der Hells Angels, welche den gesamten Drogenhandel in der Provinz kontrollierten und ohne zu zögern Ballerkriege lostraten, wie zwischen 1994 und 2002 in Quebec mit 160 Toten, als sie mit ihren alten Feinden, den Rock Machines, aneinandergerieten, welche dann von den Bandidos geschluckt wurden, die wiederum ihrem Namen alle Ehre machten und sich einigen Ärger einhandelten, als acht Leichen gefunden wurden, allesamt Mitglieder der Gang, nachlässig auf vier nebeneinander parkende, in Ontario zugelassene Autos verteilt. Als Patrick den Grund meiner Inhaftierung erfuhr, interessierte er sich für meine Geschichte mit dem Wohlwollen eines Gildenbruders, der von den ersten ungeschickten Versuchen eines Lehrlings Kenntnis nimmt. Als ich meinen bescheidenen Bericht beendet hatte, kratzte er sich am rechten Ohrläppchen, das von einem leuchtend roten Ekzem angefressen war. »Wenn man dich sieht, würde man nicht glauben, dass du zu so etwas fähig bist. Das hast du richtig gemacht. Gar keine Frage. Ich hätte ihn gekillt.« Vielleicht hatte ich das letztendlich auch gewollt, zumindest den Zeugen zufolge hätte ich diese Tat zweifellos begangen, wenn sich nicht sechs entschlossene Personen verbündet hätten, um mich zu überwältigen. Was den Vorfall selbst betrifft, erinnere ich mich abgesehen von dem, was mir erzählt wurde, an so gut wie nichts. Mein Gedächtnis scheint einen kompletten Reset vorgenommen zu haben, mit dem Ergebnis, dass alle Daten von vor meiner Wiederherstellung im Aufwachraum der Notaufnahme gelöscht sind. »Verdammt, ja, ich hätte dieses Arschloch gekillt. Solche Typen gehören aufgeschlitzt.« Seine Finger kneteten immer noch sein brennendes Ohr, und er wippte schwerfällig von einem Fuß auf den anderen. Von einer dunklen Wut gepackt, schien Patrick Horton durch die Wände gehen zu wollen, um die von mir begonnene, jedoch in seinen Augen verpfuschte Arbeit zu beenden. Wie ich ihn so brodeln und seine entzündete Haut kratzen sah, dachte ich an jenen Satz des Anthropologen und Spezialisten für indianische Kulturen Serge Bouchard: »Der Mensch ist ein missratener Bär.« Meine Frau Winona war eine Algonkin-Indianerin. Ich habe viel Bouchard gelesen, um mehr über den Stamm zu erfahren. Ich war bloß ein ungeschliffener Franzose, der so gut wie nichts wusste vom Ritual des bebenden Zeltes, von den mystischen Regeln der Sweat-Lodge-Zeremonie, der Gründungslegende vom Waschbären, der vor-darwinschen Auffassung »der Mensch stammt vom Bären ab« und von der Geschichte, die erzählt, warum »das Karibu nur unter dem Maul weiß gefleckt ist«. Zu jener Zeit war das Gefängnis für mich noch ein theoretisches Konzept, ein Streich der Würfel, der einen auf das Gefängnis-Feld von Monopoly schickt. Und diese in Unschuld gekleidete Welt schien für die Ewigkeit gemacht, ganz wie mein Vater, Pastor Johanes Hansen, der in seiner protestantischen, vom herabprasselnden Asbest geweihten Kirchengemeinde die Herzen der Menschen und die Tonräder einer Hammond-Orgel zum Schwingen brachte; wie Winona Mapachee und ihre algonkinische Zartheit, die mit ihrem Beaver-Flugtaxi gleichmäßige Runden drehte, um Schwimmer und Kunden auf allen Seen des Nordens mit sanftem Gleiten abzusetzen; wie meine Hündin Nouk, die mich, kaum dass sie geboren war, mit ihren großen dunklen Augen ansah wie den Anfang und das Ende aller Dinge. Ja, ich liebte diese bereits ferne Zeit, als meine drei Toten noch am Leben waren. Wie gern würde ich einschlafen. Nicht mehr die Ratten hören. Nicht mehr den Geruch von Menschen einatmen. Nicht mehr dem Winter durch eine Scheibe zuhören. Nicht mehr in fettigem Wasser gekochtes braunes Hühnerfleisch essen müssen. Nicht mehr riskieren, für ein falsches Wort oder eine Handvoll Tabak totgeschlagen zu werden. Nicht mehr gezwungen sein, ins Waschbecken zu urinieren, weil wir nach einer bestimmten Uhrzeit nicht mehr die Spülung benutzen dürfen. Nicht mehr allabendlich Patrick Horton dabei zusehen müssen, wie er seine Hose runterlässt, sich aufs Klo setzt und defäkiert und mir dabei von den »gekreuzten Pleuelstangen« seiner Harley erzählt, die im Leerlauf »zittert, als würde sie vor Kälte bibbern«. Bei jeder Sitzung zeigt er sich völlig gelassen und spricht zu mir mit erstaunlicher Zwanglosigkeit, sodass man meinen könnte, sein Mund und sein Geist seien von seiner rektalen Betätigung völlig entkoppelt. Er versucht nicht einmal, seine Blähungen zu unterdrücken. Beim Beenden seines Geschäfts erläutert mir Patrick die Zuverlässigkeit der neuesten Motoren, die nun auf sogenannte »Isolastic Silentblocks« montiert werden, bevor er wie ein Mann, der seinen Tag zu Ende gebracht hat, wieder seine Hose richtet und auf der Kloschüssel als Ersatz für einen Deckel ein makelloses Tuch ausbreitet, was auf mich ein bisschen wie der Abschluss eines Gottesdiensts und zugleich ein Ite missa est wirkt. Die Augen schließen. Schlafen. Das ist die einzige Möglichkeit, hier rauszukommen, die Ratten hinter sich zu lassen. Im Sommer konnte ich, wenn ich mich in die Ecke am linken Fenster stellte, sehen, wie das Wasser des Rivière des Prairies in voller Geschwindigkeit auf die Île Bourdon, die Île Bonfoin und den Sankt-Lorenz-Strom zuschoss, der es in sich aufnahm und begrub. Doch in dieser Nacht, nichts. Der Schnee riegelte alles ab, sogar die Dunkelheit. Patrick Horton wusste es nicht, aber es kam vor, dass mich um diese Stunde Winona, Johanes oder auch Nouk besuchten. Sie traten ein, und ich sah sie genauso deutlich, wie mir das ganze verkrustete Elend in dieser Zelle vor Augen stand. Und sie sprachen mit mir und sie waren da, ganz nah bei mir. In all den Jahren, seit ich sie verloren hatte, kamen und gingen sie in meinen Gedanken,...


Rüenauver, Uta
Uta Rüenauver, geboren 1964, hat Germanistik, Romanistik und Philosophie studiert. Sie arbeitet als Lektorin sowie als Feature- und Essay-Autorin für den Rundfunk. Aus dem Französischen übersetzt sie vor allem für ›Le Monde diplomatique‹.

Mälzer, Nathalie
Nathalie Mälzer, geboren 1970, ist Literaturübersetzerin und Professorin für Transmediale Übersetzung an der Universität Hildesheim. Sie hat über 40 Romane, Sachbücher, Theaterstücke und Hörspiele aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt, darunter Marcel Aymé, Maurice Blanchot, Céline Minard und Cécile Wajsbrot.

Dubois, Jean-Paul
Jean-Paul Dubois, geboren 1950 in Toulouse, studierte Soziologie und arbeitete zunächst als Sportreporter für verschiedene Tageszeitungen. Später berichtete er für den ›Nouvel Observateur‹ aus den USA. Er hat über zwanzig Romane veröffentlicht und wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem renommierten Prix Femina und dem Prix Goncourt, den wichtigsten französischen Literaturpreis. Er zählt zu den wichtigsten französischen Autoren der Gegenwart.

Jean-Paul Dubois, geboren 1950 in Toulouse, studierte Soziologie und arbeitete zunächst als Sportreporter für verschiedene Tageszeitungen. Später berichtete er für den ›Nouvel Observateur‹ aus den USA. Er hat über 20 Romane veröffentlicht und wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem renommierten Prix Femina und dem Prix Goncourt, den wichtigsten französischen Literaturpreisen. Er zählt zu den wichtigsten französischen Autoren der Gegenwart.


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