E-Book, Deutsch, Band 25, 184 Seiten
Reihe: edition fünf
Eckert Hanomag
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-942374-68-2
Verlag: edition fünf
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 25, 184 Seiten
Reihe: edition fünf
ISBN: 978-3-942374-68-2
Verlag: edition fünf
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hella Eckert wurde 1948 in Bremen geboren und lebt heute nach Stationen in Kenia, Südfrankreich und Argentinien in Heidelberg. Seit 1998 ist sie freie Schriftstellerin. Von ihr sind neben 'Hanomag' (1998) die Romane 'Big John' (1993) und 'Da hängt mein Kleid' (2003) erschienen, von der Kritik gelobt für ihre einfühlsame Schreibweise, die mit Carson McCullers und Richard Ford verglichen wird. Sie erhielt mehrere Literaturstipendien und 1998 den Rheingau Literatur Preis.
Autoren/Hrsg.
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Es geschah in jenem verrückten Sommer, als ich sechzehn wurde. Mein Vater kam ins Gefängnis, und meine Mutter lernte einen Mann namens Karl Zerkowitz kennen und verliebte sich in ihn. Das geschah in einer Stadt am Meer. Es war die Zeit, als das Transportgeschäft boomte, und mein Vater hatte uns in diesem Jahr dorthin gebracht, weil er beim Bau eines Containerhafens dabei sein wollte. Er glaubte, dass man in der Stadt, wo Container verladen würden, Geld verdiente oder es bald tun würde, und er wollte das, bevor jemandem einfiel, anstelle von Containern etwas anderes zu erfinden, und alle Mühe umsonst war.
Mein Vater fuhr einen Hanomag, einen 2,5-Tonner mit Pritsche, er war Lastwagenfahrer. Er hatte studiert, und er war weit herumgekommen, in ferne Länder, aber er war nicht im Krieg gewesen, in keinem Krieg. Und seit dem Jahr, in dem ich geboren wurde, demselben Jahr, in dem er meine Mutter geheiratet hatte, war das seine Arbeit gewesen – das Fahren im Hanomag. Er hatte Motoren und Werkzeug transportiert, in der Gegend, wo er aufgewachsen war, im Süden, in einem Dorf mit Maisfeldern an der Straße. Und in jener Zeit, in der ich aufwuchs, waren wir an andere Orte gezogen, in die Nähe von Fabriken, und eine Weile hatten wir dort gelebt, wo es das Stahlwerk gab, in einer Gegend weiter nördlich. Wir hatten in einer Kammer über der Molkerei gewohnt, und wir waren eine Familie gewesen.
Mit dem Hanomag verdiente mein Vater Geld. Was er verdiente, reichte zum Leben, und wenn es einmal nicht reichte, half er Leuten beim Umziehen, wenn sie fortwollten in eine andere Stadt. Schon sein Vater habe so gelebt, erzählte meine Mutter. Er hatte eine Werkstatt gehabt und war mit dem Hanomag umgegangen wie mit den Menschen: ohne viele Worte zu machen. Er hatte gefeilt und gehämmert und Eisenteile mit ölgetränkten Lappen poliert, und im Hof hatte er meinem Vater das Fahren beigebracht. Stundenlang hatte er sich zu ihm gesetzt, ihn kuppeln, schalten und die Scheinwerfer aufblenden lassen und zugesehen, wie mein Vater im Innern eines Fahrzeugs wirkte. Dann hatte er ihn allein fahren lassen, im Hof, im Kreis, und hatte dabeigestanden und zugehört, wie der Motor des Hanomag lief. So hatte mein Vater das Fahren gelernt, und er hatte Dinge von Maschinen gelernt, die ihm halfen, mit Menschen umzugehen, technische Dinge, von denen er sprach, als hätten sie ein Herz. Er sprach von Verteilern und Drehzahlen, von Kurbelwellen und Lichtmaschinen, und so, wie er sprach, in dieser Ruhe, gab er den Menschen, die später neben ihm saßen und ihre Umzugskisten aneinanderschlagen hörten, ein Gefühl für die Bewegung, ein Gefühl dafür, wie sie Dinge zurückließen, wenn sie fortgingen und etwas Neues begannen, und für dieses Gefühl, das er ihnen gab, wenn er an den Maisfeldern vorbeifuhr, mochten sie ihn.
Genau so war es, wie man es sich erzählte. Als der Ausbau der Umgehungsstraße das Dorf erreichte, in dem mein Vater aufgewachsen war, stand der Mais hüfthoch. Außer ein paar Häusern und einem Tümpel voller Entengrütze gab es in dieser Gegend nichts als Mais, der Wellen schlug wie ein gelber Ozean, und die Stimmen der Bauarbeiter machten die Menschen nervös. Sie glaubten, dass die Sprengarbeiten im nahen Steinbruch das Dorf in einer Flut von Mais untergehen ließen, sie fürchteten sich, und sie bekamen eine Ahnung von Zerstörung. Es war die Zeit, als mein Großvater starb, und mein Vater ging fort in die nächstgelegene Stadt und begann zu studieren. An der Universität fand er heraus, was er gern tat: Laster zu fahren, Fahrzeuge, die andere Leute an schwere Frachten denken ließen, an Kies und Zement und Turbinen, die ihnen hässlich vorkamen, und mein Vater fuhr gern Laster, weil ihm das alles gefiel. Es gefiel ihm, mit Eisengittern auf der Ladefläche in andere Orte zu fahren, auf Straßen, auf denen außer ihm kaum jemand gern fuhr. Es gefiel ihm, am Steuer des Hanomag zu sitzen, Schalter, Hebel und Pedale in Reichweite zu haben und an Tankstellen zu halten. Es gefiel ihm, den Geruch von Diesel einzuatmen und eine Weile dort zu bleiben, wo es nach verbranntem Gummi roch, die Reifen zu prüfen und die Bremsbeläge, und sich die Hände an schmutzigen Lappen abzuwischen.
Geh und mach dich schmutzig, sagte er zu mir, wenn ich ihn auf seinen Fahrten begleitete.
Manchmal war ein Stoßdämpfer kaputt, und überall in den Läden, die zu den Tankstellen gehörten, suchte mein Vater nach Stoßdämpfern für den Hanomag. Ich suchte nach Feuerzeugen mit Perlmutteinlage, ich mochte Perlmutt, und ich mochte das Geräusch, wenn das Feuerzeug aufschnappte und die Flamme hochschoss. Am liebsten mochte ich die Lichtreflexe auf dem Metallgehäuse. R. H., ritzte ich da in meiner Vorstellung ein. RITA HEINKEL. Das bin ich. Mein Vater redete mit den Pächtern von Preisen und Verdienst, mit alten Männern, deren Rücken gebogen waren, als hätten sie Krummdolche verschluckt. Es gefiel ihm, wenn sie sich zu ihm setzten auf die Treppe vorm Laden, Zahlen nannten, in Taschentücher mit ausgefransten Kanten spuckten und Zigaretten rauchten, bis die Dämmerung kam und den Ort so verwandelte, dass er bloß aus dem Schatten eines Hanomag vor einer beleuchteten Zapfsäule zu bestehen schien.
Findest du nicht, sagte mein Vater dann, während sein Blick durch den Hanomag hindurch ins Leere ging, Findest du, dass meine Tochter einmal aussehen wird wie Marilyn Monroe?
Der Pächter faltete sein Taschentuch zusammen, schob es in seine Hosentasche und griff nach einer neuen Zigarette. Er schien Schmerzen zu haben, denn er streckte seinen Rücken und verzog das Gesicht. Ich stieg in den Hanomag. Die Seitenfenster waren heruntergedreht, und man konnte hören, wie im Laden das Telefon klingelte. Aber es ging niemand dran. Es kam mir so vor, als säße ich schon seit hundert Jahren oder so in diesem Fahrzeug, und als würde ich nie etwas anderes in meinem Leben tun, als in einem Laster zu sitzen und zuzuhören, wie in einem Laden das Telefon klingelt.
Damals hörte ich endlich auf, dauernd an das große Maisfeld zu denken. Fast jede Nacht hatte ich von meinem Großvater geträumt. Dass er die Augen aufschlug und uns besuchen käme, solche verrückten Träume hatte ich. Und wenn ich meinen Vater da auf der Treppe vorm Laden reden hörte, wurde mir klar, dass es schon seit langer Zeit nicht mehr neu war, in der Kammer über der Molkerei zu leben, dass sie irgendwie zu uns gehörte, genauso wie das Maisfeld, in dem mein Großvater gestorben war – und so träumte ich nicht mehr von ihm, ich hörte einfach auf damit und dachte nur noch an ihn, wenn ich müde war, kurz vorm Einschlafen. Immer seltener dachte ich an ihn, wenn ich im Hanomag saß. Ich fragte mich nur, wie es ihm jetzt da draußen ging, da auf der Stufe, auf die das Licht aus dem Laden fiel.
Natürlich war vor allem der Hanomag an dieser Veränderung schuld. Ich hatte schon in anderen Lastern gesessen, aber das war nichts, verglichen mit den Dingen, die im Hanomag geschahen, absolut nichts. Es waren keine besonderen Dinge, jedenfalls kamen sie mir nicht besonders wichtig vor, und ich brauchte eine Weile, um sie zu verstehen.
In jenem Sommer lebte ich beinahe im Hanomag. Natürlich lebte ich auch in der Kammer über der Molkerei, doch sooft ich konnte, setzte ich mich hinters Lenkrad. Keiner fand etwas dabei, und wenn mein Vater einstieg, sagte er bloß, Rutsch mal ein bisschen, und dann rutschte ich auf den Beifahrersitz, und die Reise begann. Ich wusste einfach, dass es richtig war, so zu leben, fortzufahren und zurückzukommen, wie mein Vater, meine Mutter und ich es taten.
So dachte ich, als der Pächter mit meinem Vater redete. Ich schob die Ärmel meiner Hemdbluse hoch und stützte meinen Kopf in die Hand. Von der Straße kam Teerdunst, und weit entfernt hörte man das Stampfen der Presslufthämmer. Das Radio lief, DIAMONDS ARE A GIRL’S BEST FRIEND. Die Stimme von Marilyn Monroe verhakte sich wie eine Klette in meinem Ohr. Meinem Vater gefiel das, ihm gefiel dieses Lied. Er stand auf, sagte etwas und sah zu, wie es Nacht wurde. Wie die Geräusche ringsum flacher wurden, flacher und gepresst, so dass der Pächter seine Zigarette fortwarf, meinem Vater den Rücken zuwandte, zur Kasse ging und Münzen zu zählen begann. Man sah die Bewegungen, die er machte, seine hochgezogenen Schultern. Nach einer Weile kam er wieder heraus, prüfte den Reifendruck und trat an die Fahrertür. Er sah zu, wie mein Vater in den Hanomag stieg, dann wandte er sich ab und senkte den Kopf. Mein Vater ließ den Motor an, und wenn wir wieder unterwegs waren, sagte keiner von uns ein Wort. Manchmal sprang der Anzünder aus der Halterung am Armaturenbrett und fiel auf den Sitz, doch mein Vater wirkte nicht so, als erschrecke ihn das. Nichts schien ihn zu erschrecken, wenn er hinterm Lenkrad im Hanomag saß. Mit spöttischen Augen besah er sich den verbrannten Stoff, dann schnappte er sich die Schachtel vom Armaturenbrett, schlug eine Zigarette in die Hand und begann zu rauchen. Ab und zu fiel Asche auf den Boden, glühte kurz auf und erlosch. Doch mein Vater blieb still. Er blieb so lange still, bis Insekten an die Windschutzscheibe klatschten,...




