E-Book, Deutsch, Band 2, 448 Seiten
Reihe: Angelfall-Reihe
Ee Angelfall - Tage der Dunkelheit
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-15292-5
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 2, 448 Seiten
Reihe: Angelfall-Reihe
ISBN: 978-3-641-15292-5
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Susan Ee war zunächst Anwältin, bevor sie beschloss, ihre Leidenschaft für die Literatur zu ihrem Beruf zu machen. Sie studierte Kreatives Schreiben in Stanford und Clarion West und arbeitet nun als Autorin und Filmemacherin. Sie lebt in San Francisco, Kalifornien.
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1
Alle glauben, ich sei tot.
Ich liege mit dem Kopf im Schoß meiner Mutter auf der offenen Ladefläche eines großen Lastwagens. Das Morgenlicht fällt auf die Sorgenfalten in ihrem Gesicht, und das Rumpeln des Motors lässt meinen regungslosen Körper vibrieren. Wir sind ein Teil der Widerstandskarawane. Ein halbes Dutzend Lastwagen, Vans und SUVs schlängelt sich durch die liegen gebliebenen Autos und hinaus aus San Francisco. Am Horizont hinter uns steht der Engelshorst nach dem Angriff der Widerstandsbewegung noch immer in Flammen.
Die Schaufenster der Läden entlang der Straße sind mit Zeitungspapier zugepflastert, die Schlagzeilen berichten vom großen Angriff der Engel. Ich muss sie nicht einmal lesen, um genau zu wissen, was dort steht. In der ersten Zeit nach den Angriffen, als die Journalisten noch über jede Einzelheit berichtet haben, haben alle diese Schlagzeilen regelrecht verschlungen:
PARIS IN FLAMMEN, NEW YORK ÜBERFLUTET, MOSKAU IN TRÜMMERN
WER ERSCHOSS GABRIEL, DEN BOTEN GOTTES?
ENGEL ZU SCHNELL FÜR RAKETENANGRIFFE
REGIERUNGSCHEFS VERWIRRT UND VERLOREN
DAS ENDE DER WELT
Wir fahren an drei glatzköpfigen Menschen vorbei, die sich in graue Laken gehüllt haben. Sie kleben fleckige, zerknüllte Flyer eines Weltuntergangskults an die Scheiben. Ich frage mich, wie lange es wohl dauern wird, bis sich alle Überlebenden entweder einer Straßengang, einem Kult oder der Widerstandsbewegung angeschlossen haben. Selbst das Ende der Welt hält uns scheinbar nicht von dem Wunsch ab, irgendwo dazuzugehören.
Die Mitglieder des Kults bleiben auf dem Bürgersteig stehen, um uns zu beobachten, während wir in unserem überfüllten Lastwagen an ihnen vorbeifahren.
Für sie sind wir vermutlich bloß eine gewöhnliche kleine Familie – eine verängstigte Mutter, ein dunkelhaariger Teenager und ein siebenjähriges Mädchen, die alle auf einer Feldliege auf der Ladefläche eines Lastwagens voller bewaffneter Männer sitzen. Zu jeder anderen Zeit hätten wir wohl wie drei verlorene Schafe in einem Wolfsrudel gewirkt, doch jetzt umgibt uns etwas, das die Menschen vermutlich als »Aura« bezeichnen würden.
Manche der Männer auf unserem Lastwagen tragen Tarnkleidung und Schusswaffen. Einige halten ihre Maschinengewehre noch immer in den Himmel gerichtet. Viele kommen frisch von der Straße und haben selbst gemachte Tattoos, wobei jede der absichtlich zugefügten Verbrennungen für einen Mord steht, den sie verübt haben.
Und trotzdem drängen sich diese Männer so weit wie möglich zusammen, um einen Sicherheitsabstand zu uns einzuhalten. Zu uns!
Seit wir vor einer Stunde aus dem explodierenden Engelshorst geflohen sind, schaukelt meine Mutter sanft vor und zurück und spricht in ihrer ganz eigenen, einem Singsang gleichenden Sprache mit sich selbst. Ihre Stimme hebt und senkt sich, als würde sie gerade eine erbitterte Diskussion mit Gott führen. Oder vielleicht auch mit dem Teufel, wer weiß das noch.
Eine Träne tropft von ihrem Kinn und fällt auf meine Stirn, und ich weiß, dass ihr gerade das Herz bricht. Und schuld daran bin ich, ihre siebzehnjährige Tochter, deren Aufgabe es war, sich um die Familie zu kümmern.
Ihrer Meinung nach bin ich bloß noch ein lebloser Körper, der ihr vom Teufel persönlich übergeben wurde. Sie wird den Anblick meines schlaffen Körpers in Raffes Armen und seine Dämonenschwingen vor dem Hintergrund des lodernden Feuers vermutlich nie mehr vergessen.
Ich frage mich, was sie wohl dazu sagen würde, wenn sie wüsste, dass Raffe eigentlich ein Engel ist, dem man durch eine Hinterlist Dämonenflügel angenäht hat. Wäre das so viel seltsamer als die Tatsache, dass ich eigentlich gar nicht tot bin, sondern nur gelähmt, nachdem ich von einem monströsen Skorpionengel gestochen wurde? Mom würde vermutlich denken, dass jemand, der solche Behauptungen aufstellt, genauso verrückt ist wie sie selbst.
Meine kleine Schwester sitzt wie erstarrt vor meinen Füßen. Ihre Augen blicken ins Leere, und sie hält den Rücken vollkommen gerade, obwohl der Lastwagen hin und her schaukelt. Es wirkt, als hätte Paige sich selbst abgeschaltet.
Die harten Männer auf unserem Truck werfen ihr immer wieder verstohlene Blicke zu wie kleine Jungen, die unter der Bettdecke hervorspähen. Paige sieht jetzt aus wie eine aufgeschnittene und wieder zusammengenähte Puppe aus einem Albtraum. Ich hasse den Gedanken an das, was ihr zugestoßen sein muss. Ein Teil von mir wünscht sich, er wüsste mehr darüber, während ein anderer froh ist, das nicht zu tun.
Ich atme tief ein. Früher oder später muss ich aufstehen. Was habe ich schon für eine andere Wahl, als mich irgendwann der Welt zu stellen. Mittlerweile bin ich vollkommen aufgetaut, und selbst wenn ich bezweifle, dass ich schon kämpfen oder überhaupt etwas tun könnte, sollte ich mich aber zumindest wieder bewegen können.
So vorsichtig es geht setze ich mich auf.
Ich nehme an, wenn ich mir die Sache vorher gründlicher überlegt hätte, hätte mich das darauffolgende Geschrei wohl nicht überraschen dürfen.
Die lautesten Schreie kommen von meiner Mutter. Ihre Muskeln spannen sich vor Schreck an, und sie reißt die Augen unglaublich weit auf.
»Ist schon okay«, sage ich. »Alles okay.« Ich lalle ein wenig, stelle aber dankbar fest, dass ich zumindest nicht wie ein Zombie klinge.
Die Situation wäre wohl lustig, würde sich nicht gerade ein durchaus ernster Gedanke in meinem Kopf breitmachen: In der Welt, in der wir jetzt leben, werden Freaks wie ich einfach getötet.
Beruhigend hebe ich die Hände. Ich rede einfach weiter, damit sich alle wieder einkriegen, doch meine Worte gehen in dem Geschrei unter. Offensichtlich greift Panik in einem so begrenzten Raum wie der Ladefläche eines Lastwagens besonders schnell um sich.
Die anderen Überlebenden drängen sich rempelnd ans hintere Ende. Einige sehen so aus, als würden sie jeden Moment von dem fahrenden Wagen springen.
Ein Soldat mit fettigen Pickeln im ganzen Gesicht richtet sein Gewehr auf mich und hält es dabei so fest umklammert, als hätte er furchtbare Angst davor, bald seinen ersten Mord zu begehen.
Ich habe die tiefgreifende Furcht, die uns alle gefangen hält, vollkommen unterschätzt. Diese Menschen haben alles verloren: ihre Familien, ihr Leben in Sicherheit, den Glauben an Gott.
Und jetzt streckt auch noch eine wiederauferstandene Leiche die Hände nach ihnen aus.
»Es geht mir gut«, erkläre ich so langsam und deutlich wie möglich. Ich sehe dem Soldaten in die Augen und versuche, ihn davon zu überzeugen, dass hier nichts Übernatürliches vor sich geht. »Ich bin am Leben.«
Einen Moment lang bin ich mir nicht sicher, ob sich die Lage tatsächlich entspannen wird, oder ob sie mich, begleitet von einem Kugelhagel, einfach vom Lastwagen werfen werden. Ich trage noch immer Raffes Schwert am Rücken, versteckt unter meiner Jacke. Es gibt mir ein wenig Sicherheit, auch wenn es natürlich keine Gewehrkugeln abwehren kann.
»Kommt schon.« Ich bemühe mich, freundlich zu klingen und mich nur langsam zu bewegen. »Leute, ich war bloß bewusstlos. Das ist alles.«
»Du warst tot«, sagt der blasse Soldat, der aussieht, als sei er keinen Tag älter als ich.
Plötzlich schlägt jemand auf das Dach des Lastwagens.
Wir zucken alle zusammen, und ich habe Glück, dass der Soldat nicht versehentlich den Abzug drückt.
Das hintere Fenster gleitet auf, und Dei steckt seinen Kopf hindurch.
Er wirkt streng, doch mit seinen roten Haaren und den Kleine-Jungen-Sommersprossen kann man ihn einfach nicht allzu ernst nehmen. »Hey! Hände weg von dem toten Mädchen. Sie gehört dem Widerstand.«
»Genau«, dringt die Stimme seines Zwillingsbruders Dum aus dem Inneren der Fahrerkabine. »Wir müssen eine Autopsie und solche Sachen machen. Glaubst du, Mädchen, die von einem Dämonenprinzen getötet wurden, sind leicht zu finden?« Wie üblich kann ich die Zwillinge nicht auseinanderhalten, deshalb bezeichne ich einfach wahllos einen von ihnen als Dei und den anderen als Dum.
»Niemand bringt das tote Mädchen um«, erklärt Dei. »Ich rede mit dir, Soldat.« Er deutet auf den Kerl mit dem Gewehr und starrt ihn böse an. Man könnte meinen, dass Zwillinge, die wie zugedröhnte Versionen von Ronald McDonald aussehen und unter den Spitznamen Dideldum und Dideldei bekannt sind, nicht sehr autoritär wirken sollten. Aber irgendwie scheinen die beiden ein Talent dafür zu haben, von einem Moment auf den anderen von witzig auf absolut tödlich umzuschalten.
Zumindest hoffe ich, dass die Sache mit der Autopsie bloß ein Scherz war.
Der Lastwagen hält jetzt auf einem Parkplatz. Das lenkt die Aufmerksamkeit von mir ab, und wir sehen uns alle um.
Ich kenne das Lehmsteingebäude vor uns. Es ist zwar nicht meine frühere Schule, aber es ist eine Schule, die ich schon viele Male gesehen habe. Die Highschool von Palo Alto, liebevoll Paly High genannt.
Ein halbes Dutzend Lastwagen und SUVs hält auf dem Parkplatz davor. Der Soldat lässt mich nach wie vor nicht aus den Augen, doch er senkt zumindest sein Gewehr in einen 45-Grad-Winkel.
Viele Leute starren uns entgeistert an, als der Rest der kleinen Karawane auf dem Parkplatz zum Stehen kommt. Sie haben mich alle in den Armen des angeblichen Dämons gesehen, der eigentlich Raffe gewesen ist, und sie dachten alle, ich sei tot. Verlegen setze ich mich neben meine...




