Ehmer | Die schwarze Fee | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 2, 400 Seiten

Reihe: Ein Fall für Spiro / Berlin in den Goldenen Zwanzigern

Ehmer Die schwarze Fee

Ein neuer Fall für Kommissar Spiro
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-86532-664-5
Verlag: Pendragon
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Ein neuer Fall für Kommissar Spiro

E-Book, Deutsch, Band 2, 400 Seiten

Reihe: Ein Fall für Spiro / Berlin in den Goldenen Zwanzigern

ISBN: 978-3-86532-664-5
Verlag: Pendragon
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Berlin Babylon: Die einen feiern, die anderen verrecken. Die Weimarer Republik neigt sich ihrem Ende zu, Nazis und Kommunisten kämpfen um die Macht und Kommissar Ariel Spiro sucht den Mörder zweier Männer, die niemand zu vermissen scheint. Berlin tanzt auf dem Vulkan. Glitzernde Tanzpaläste, wilde Partys, Drogen, sexuelle Freizügigkeit - die deutsche Hauptstadt gilt zur Zeit der Weimarer Republik als eine der aufregendsten Städte Europas. Russische Emigranten, darunter Schriftsteller, Gelehrte, Politiker und Anarchisten, haben nach der Revolution in Berlin Zuflucht gefunden vor dem Zugriff der sowjetischen Geheimpolizei. Mittendrin Kommissar Ariel Spiro, den zwei Giftmorde ins russische Milieu führen. Und dann ist da noch Nike, seine große Liebe, die ihn um Hilfe bei der Suche nach ihrem neuen Freund Anton bittet. Unversehens geraten beide in einen Strudel aus Politik und Gewalt.

Kerstin Ehmer arbeitete als Mode- und Porträtfotografin. Seit 2001 betreibt sie mit ihrem Mann die legendäre Victoria Bar in Berlin. 2017 erschien mit »Der weiße Affe« ihr erster Kriminalroman und ihr erster Fall mit Kommissar Spiro. Es folgten die Bände »Die schwarze Fee« (2019) und »Der blonde Hund« (2022).
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1

Samstag

Anton

Sanftes, gleichgültiges Licht, das die engen Straßen des Weddings mit einer gnädigen Unschärfe überzieht, die buckelige Länge ihrer kopfsteingepflasterten Muskelstränge, von denen am Morgen noch immer die gesammelte Hitze der letzten Tage abstrahlt. Auch den stinkenden Dunst über der Panke lässt es leuchten wie einen von Zauberhand nachlässig gestreiften Nebel. Die Panke, eine der Schlagadern des Weddings, Transportband für seine Laugen und Säuren, für Kloake und Müll.

An ihrem Ufer entlang schlendert Anton, einen Korb über dem Arm, und pfeift. Auf der Straße dreht sich ein Seil. Kinder springen unter krähenden Gesängen hinein in den schweren, rotierenden Strick. Am Seilende erkennt er Fred aus dem vierten Stock, einen spargelig aufgeschossenen 13-Jährigen, der angestrengt versucht, die eckigen Bewegungen seiner langen Arme in einen schwingenden Kreis zu verwandeln. »Verliebt, verlobt, verheiratet, Kind gekriegt, geschieden. Wie viel Kinder wirst du kriegen? Eins, zwei, drei, vier …« Weiter kommen sie nicht, denn Anton tippt grüßend zwei Finger an die Mütze, und Fred vergisst das Seil, das prompt den Springern auf die Köpfe fällt. Sofort erhebt sich Protest: »Ej, du Pfeife, mach hinne.«

Anton lacht und geht weiter. Auf der Schulzendorfer Brücke wartet ein dünner Mann auf ihn, dreht aber ab, bevor er ihn erreicht, und fordert ihn mit einem Kopfnicken auf, ihm zu folgen. Anton kraust die Stirn. Aber der Tag ist jung, der Morgen noch nicht heiß, also folgt er ihm bereitwillig die Sellerstraße entlang bis zum Becken des Nordhafens. Er geht ein paar Schritte hinter ihm, als hätten zwei Fremde zufällig denselben Weg, aber er wundert sich über das grußlose Schweigen und die Strecke. Man wird sehen, denkt er, und sonst denkt er sich nichts, denn er weiß, dass das Deutsch des Dünnen schlecht ist, und irgendwer wird ihm schon erklären, was das soll.

In Höhe der Kieler Brücke schlüpfen sie nacheinander durch ein Loch im Zaun auf das Gelände der städtischen Gasanstalt. Anton sieht sich um. Über das Pflaster hetzt eine Kolonne aus Pferdewagen, Motordroschken und Fahrrädern, schieben Händler ihre Karren mit Äpfeln, Kartoffeln, Wirsingköpfen und Zwiebeln, scheppert ein Kesselflicker sein Wägelchen an ihm vorbei. Selbst früh am Morgen ist die Eile groß. Niemand beachtet Anton. Er eilt dem Dünnen nach, der zwischen den rußschwarzen Bauten der Gasanstalt verschwindet.

In drei Schichten wird hier rund um die Uhr Steinkohle in den großen Eisenbehältern zu Gas und Koks verarbeitet. Unablässig werden die Retorten von Heizern befeuert, unablässig stoßen die Öfen Qualm und Ruß über die eng gebauten Arbeiterquartiere des Weddings. Aber die Stadt wird elektrifiziert, der Verbrauch sinkt, und auf dem Gelände der Gasanstalt gibt es jetzt zunehmend Ecken, in die niemand mehr schaut, Ecken, die vergessen werden, in denen ausrangierte Maschinen rosten und sich Staub auf Kisten, Latten und Bohlen legt. In einer dieser Ecken steht ein windschiefer Schuppen, Lager für alles, was die Gasanstalt nicht mehr braucht, gleich neben dem Wehr, über das sich rauschend ein Arm der Panke ins Becken des Nordhafens ergießt.

Dahin, in diesen Schuppen, bringt ihn der Dünne. Anton gleitet durch den Türspalt und steht im Dunkeln. Er braucht etwas, bis sich seine Augen an den Dämmer gewöhnen. Er sieht die Umrisse rostiger Kessel bucklig in der Dämmerung kauern, Drahtrollen in mäandernder Auflösung, schwarze Quader, Kisten. Auf einem auseinandergerissenen Holzstapel kann er ein schmuddeliges Lager aus Säcken und Fetzen erkennen, aber es ist leer.

»Wo sind die anderen?«, fragt er, aber der Dünne bleibt stumm. Anton zieht eine Kiste in den hellen Lichtstrahl, der zwischen zwei Holzlatten ins Innere des Schuppens dringt. An seinen Handflächen klebt schwarzer Schmier. »Igitt.« Er wischt sie umständlich, aber erfolglos an seinem Taschentuch ab, zuckt schließlich resigniert die Schultern und packt aus: ein Brot, Käse, eine Speckseite und zuletzt vier Flaschen Bier. Erwartungsvoll grinsend sieht er seinen Begleiter an: »Na, was sagst du? Fast wie bei Rotkäppchen. Schön habt ihrs hier.« Er mustert spöttisch die Holz- und Alteisensammlung, die sie umgibt. »Warum seid ihr nicht mehr auf dem Dachboden?«

Der Dünne starrt ihn beinahe wütend an und knurrt: »Was ist Rotkäppchen?« Seine Märchen werden beherrscht von der Baba Jaga, einer Hexe, die in einem Holzhaus auf zwei Hühnerbeinen wohnt. Kleine Mädchen, die Wölfe überlisten, sind ihm unbekannt. Aber bevor sie sich über den unterschiedlichen Märchenschatz ihrer Länder austauschen können, hört Anton hinter sich ein Geräusch. Noch bevor er sich umdrehen kann, saust etwas auf seinen Hinterkopf. Ein schwarzer Vorhang senkt sich vor seinen Augen, und Anton kippt nach vorn wie eine frisch gefällte Tanne.

Fred

Fred, der Spargel, hat das Springseil fahren lassen und streunt mit seiner Clique durch die Straßen des Weddings. Ihre Väter arbeiten, ihre Mütter auch. Sind sie zu Hause, scheuern sie Wäsche auf dem Waschbrett, schieben Stopfpilze in fadenscheinige Socken, schälen Berge von Kartoffeln, zu ihren Füßen die Jüngsten in Körben und neben ihnen das Schnarchen der Schlafburschen. Sie befreien die Scheiben vom Ruß, der sich wie ein fettiges Tuch über den Wedding legt, und feuern selbst ihre Herde, damit einmal am Tag was Warmes auf dem Tisch steht. In den engen Wohnungen ist kein Platz für die stetig wachsende Masse der Kinder. Nach der Schule brodelt ihre wilde, aufgedrehte Flut durch die buckligen Straßen und das Gewirr der Hinterhöfe. Manche von ihnen arbeiten bereits, sind Laufburschen oder Zeitungsjungen. Manche müssen das nicht und sind frei.

Der harte Kern seiner Clique besteht aus Max, dessen Augen in unterschiedliche Richtungen blicken, was selbst Fred manchmal irritiert, aus August mit der rachitischen Hühnerbrust, der nicht so schnell ist wie der Rest, aus Erna mit den dicken Zöpfen, die nicht kratzt und beißt wie andere Mädchen, sondern rempelt und zuhaut wie ein Junge. Automatisch mit dabei ist deshalb auch ihr kleiner Bruder Kalle, liebevoll Keule genannt, der schon fünf ist, aber immer noch nicht spricht. »Er kann’s«, sagt Erna »er will bloß nich.« Wenn sie das sagt, schaut Kalle unbeteiligt aus der Wäsche, als könnte er zudem auch nicht hören, und Fred runzelt die Stirn.

Jetzt laufen sie nach Hause, ungewöhnlich um diese Zeit, aber aus ihrem Hof dringt die Musik eines Leierkastens und zieht sie an wie Zuckerwasser die Wespen. »Der sagenhafte Gallioni« ist da. So nennt sich ein alter Artist mit schlohweißem Haar, der Holzreifen um seine mageren Arme und ein ausgestrecktes Bein rotieren lässt. Die Fenster zum Hof stehen offen, um ihn hat sich ein Kreis aus Schaulustigen gebildet. Die Clique drängelt sich nach vorn, aber sie sind spät. Die Vorstellung ist bereits auf ihrem Höhepunkt angelangt. »… wir wollen unsern alten Kaiser Wilhelm wieder ham, aber den mit dem Bart, mit dem langen Bart …«, pfeift es aus der Drehorgel. Alle kennen das Lied, manche singen mit.

Der Alte läuft zu Höchstform auf. Immer mehr Reifen fliegen, zusätzlich schwankt jetzt eine Keule auf seiner Stirn. Das Publikum ist begeistert, erste Hände applaudieren, da ergießt sich aus dem dritten Stock ein Schwall Waschwasser auf die Darbietung. Der Alte zuckt zusammen, die Keule fällt, und Reifen klappern auf den rissigen Boden des Hinterhofs. Oben reckt sich der Kopf einer Frau aus dem Fenster: »Spiel was andres. Wir ham jetzt Republik«, zetert sie. Gelächter und Applaus, der beiden gilt.

»Das darfste in Helene ihrem Hof nicht spielen. Da versteht se keenen Spaß«, raunt Fred dem Alten zu. Der trocknet sich leise fluchend das nasse Gesicht, klaubt seine Utensilien auf und sammelt Pfennige und Sechser von den Umstehenden in seine umgedrehte Mütze. Kleine Münzen fliegen auch aus den Fenstern. Flink wie Silberfische zischen die Cliquenmitglieder über den Hof, klauben sie auf und machen, dass sie wegkommen. »Drecksgören«, schimpft ihnen der Alte hinterher. Auf der Straße schaut Fred sich um. Sie sind vollzählig.

Gleich um die Ecke, in der Markthalle Schönwalder Straße, gibt es einen Stand mit Naschwerk. Bonbons locken in hohen Schraubgläsern, Himbeeren, Zitronen, Stachelbeeren, Lutscher, Bruchschokolade, Karamell, dahin zieht es die Clique. Misstrauisch von einem Schutzpolizisten beäugt, zeigt ihm Fred die ergatterten Pfennige in der dreckigen Hand, und sie dürfen hinein. Nach komplizierten Verhandlungen untereinander und mit der Verkäuferin folgen sie Fred, der ihnen die dreieckige Papiertüte wie eine Standarte voranträgt. Sie laufen zum Nordhafen. Wo die Gasanstalt aufhört und das Wehr rauscht, lassen sie sich mit ihrer Beute auf der Uferböschung von der Sonne bescheinen und sehen zu, wie die Kräne am gegenüberliegenden Ufer die Ladung der flachen Frachtschiffe löschen. Eine Sirene verkündet das Ende der Frühschicht in der Gasanstalt. Fred dreht sich um, einen Himbeerkracher im Mund. Sein Blick streift einen dünnen Mann, der hinter dem Zaun der Gasanstalt, gegen einen Schuppen gelehnt, eine Zigarette raucht. Fred wendet sich wieder dem Hafenbecken zu. Der Blick ist hier weit, und die Luft riecht nach Rauch und Abenteuer.

Schon ist die Clique wieder unterwegs. Lange hält es sie nirgends. Am Weddingplatz bestaunen sie einen fahrender Schuster, der durchgelaufene Schuhe im Handumdrehen mit neuen Sohlen beklebt. »Endlich rasche Hilfe in Sohlennot« und »Unlöslicher Klebstoff«, liest Fred stockend auf dem Reklameplakat. Schnelligkeit ist das wichtigste Verkaufsargument, denn kaum jemand hier besitzt ein zweites Paar Schuhe zum Wechseln. In einem Glaskasten röstet...


Kerstin Ehmer arbeitete als Mode- und Porträtfotografin. Seit 2001 betreibt sie mit ihrem Mann die legendäre Victoria Bar in Berlin. 2017 erschien mit »Der weiße Affe« ihr erster Kriminalroman und ihr erster Fall mit Kommissar Spiro. Es folgten die Bände »Die schwarze Fee« (2019) und »Der blonde Hund« (2022).



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