E-Book, Deutsch, Band 9, 392 Seiten
Reihe: Edition Theophanie
Ehmer Die Weisheit des Westens
4. Auflage 2024
ISBN: 978-3-384-05857-7
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mysterien, Magie und Einweihung in Europa
E-Book, Deutsch, Band 9, 392 Seiten
Reihe: Edition Theophanie
ISBN: 978-3-384-05857-7
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. Manfred Ehmer hat sich als wissenschaftlicher Sachbuchautor darum bemüht, die großen kulturgeschichtlichen Zusammenhänge aufzuzeigen und die archaischen Weisheitslehren für unsere Zeit neu zu entdecken. Seine thematischen Schwerpunkte sind Hermetik, Neuplatonismus, westliche Mysterien, Theurgie, spirituelle Ökologie, Kultplätze und Mutter-Erde-Verehrung in Europa. Seit 2023 veröffentlicht der Autor seine Werke in dem von ihm gegründeten Verlag Theophania.
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Das Licht des Westens
Gottes ist der Orient!
Gottes ist der Okzident!
Nord- und südliches Gelände
Ruht im Frieden seiner Hände.
Johann Wolfgang Goethe1
Ex Oriente Lux – aus dem Osten kommt das Licht, nämlich das klare Licht der Gotterkenntnis: dieser Grundsatz galt nahezu uneingeschränkt für den weisheitssuchenden Abendländer, seitdem das religiöse Wissen Indiens und Tibets dem Westen zugänglich gemacht wurde. Die im 19. Jahrhundert entstandene westliche Theosophie, aus der später die Anthroposophie Rudolf Steiners hervorging, hat wesentlich dazu beigetragen, indische Weisheit in den westeuropäischen Ländern bekannt zu machen, und zwar in einer Form, die der Bewusstseinslage des modernen europäischen Menschen entspricht. Der Hinduismus, die traditionelle Hindu-Religion, musste von Aberglauben, üppig wuchernden Mythologien und unverständlichen Bräuchen gereinigt und auf wenige Grundwahrheiten zurückgeführt werden, die für jeden nach Religion Strebenden verbindlich sein müssen. Die Theosophische Gesellschaft, die im Jahre 1875 von Helena Blavatsky (1831–1891) und Henry Olcott (1832–1907) begründet wurde, steht am Beginn jener großen westöstlichen Kulturbegegnung, die man heutzutage etwas schlagwortartig als Ost-West-Synthese bezeichnet.
Die Bedeutung der morgenländisch-asiatischen Spiritualität für Europa, ja für die Menschheits-Entwicklung soll in keiner Weise geschmälert werden. Asien besitzt zweifellos eine äußerst reichhaltige Tradition spirituellen Wissens, vom indischen Brahmanismus bis zum japanischen Zen-Buddhismus, und der moderne Europäer blickt oftmals mit Neid auf die tiefe Religiosität des Ostens. So notierte etwa Hermann Hesse schon 1914 in einem seiner Briefe: »Der ganze Osten atmet Religion, wie der Westen Vernunft und Technik atmet. Primitiv und jedem Zufall preisgegeben scheint das Seelenleben des Abendländers, verglichen mit der geschirmten, gepflegten, vertrauensvollen Religiosität des Asiaten, er sei Buddhist, Mohammedaner oder was immer.«2 In Europa waren die Romantiker wohl die Ersten, die sich dem indischen Geistesleben bewusst zuwandten; schon 1823 übersetzte Friedrich von Schlegel die Bhagavad Gita, den heiligen Epos Indiens, ins Lateinische. Und der Philosoph Schopenhauer, der große Pessimist, sagte von den Upanishaden: »Es ist die belohnendste und erhebenste Lektüre, die in der Welt möglich ist. Sie ist der Trost meines Lebens gewesen und wird der meines Sterbens sein.«3
Europa und Indien, diese beiden Subkontinente der gewaltigen eurasischen Landmasse, seit urgeschichtlicher Zeit miteinander verbunden durch den Strom der indogermanischen Völkerwanderungen, stellen kulturell wie auch spirituell zwei sich ergänzende Pole dar. Von beiden Polen aus gibt es einen Weg zu Gott. Es gibt einen indischen, aber auch einen europäischen Weg der geistigen Befreiung und der Gotterkenntnis. Der anfangs zitierte bekannte Satz Ex Oriente Lux, Aus dem Osten kommt das Licht, muss daher in seiner Geltung eingeschränkt werden. Nicht aus dem Osten kommt das Licht der spirituellen Erkenntnis, sondern aus uns selbst; wir müssen Indien, das geistige Indien, die verlorene Lichtheimat in uns selbst wiederentdecken – als die terra incognita unserer Seele.
Heutzutage spricht man vor allem in Kreisen der New-Age-Bewegung recht viel von der Ost-West-Synthese als einer weltweiten Konvergenz des Geistes, die auf dem Gebiet der Religion und Philosophie westliche und östliche Geistigkeit zu einer höheren Einheit verbinden soll. Eigentlich sollte man jedoch eher von einer Ost-West-Symbiose sprechen im Sinne einer wechselseitigen geistigen Befruchtung von Europa und Asien; zur Einheit verschmelzen können West und Ost jedoch nicht. Denn die westliche und die östliche Sinnesart sind, obgleich sie doch beide das Göttliche anstreben, grundverschieden. Der indische Yoga-Weg, die buddhistische Schulung, die japanische Zen-Meditation, sie alle haben ihre tiefe Bedeutung und Berechtigung, aber sie sind nicht eigens für den Westmenschen gemacht worden, und sie sollen auch nicht vom Westmenschen einfach nachgeahmt werden. Die Begegnung mit der morgenländisch-asiatischen Spiritualität kann den Westmenschen jedoch dazu anregen, seine eigene kulturelle Identität wiederzugewinnen: sich das verloren gegangene geistige Erbe des Abendlandes neu bewusst zu machen.
In diesem Sinne hat Rudolf Steiner (1861–1925), der selbst ursprünglich aus den Reihen der Theosophischen Gesellschaft kam, den Hauptunterschied zwischen östlicher und westlicher Geistigkeit wie folgt dargestellt: »Der Ostmensch sprach von der Sinnenwelt als dem Schein, in dem auf geringere Art lebt, was er in vollgesättigter Wirklichkeit in seiner Seele als Geist empfand; der Westmensch spricht von der Ideenwelt als dem Schein, in dem auf schattenhafte Art lebt, was er in vollgesättigter Wirklichkeit mit seinen Sinnen in der Natur empfindet. Was sinnliche Maja dem Ostmenschen war, ist sich selbst tragende Wirklichkeit dem Westmenschen. Was seelisch erbildete Ideologie dem Westmenschen ist, war sich selbst schaffende Wirklichkeit dem Ostmenschen. Findet der heutige Ostmensch in seiner Geist-Wirklichkeit die Kraft, um der Maja die Seinsstärke zu geben, und findet der Westmensch in seiner Natur-Wirklichkeit das Leben, um in seiner Ideologie den wirkenden Geist zu schauen: dann wird Verständigung kommen zwischen Ost und West.«4
In geistiger Hinsicht bedeutet das Indertum die Fähigkeit, das Bewusstsein zurückzuwenden in das eigene Innere, Innenschau und Kontemplation zu üben, eine Fähigkeit, die im Zyklus der Tierkreiszeichen vertreten wird durch das Zeichen Krebs. Die Weltalter-Astrologie, wie wir sie etwa bei Ernst Künkel, Das Große Jahr (1922) dargestellt finden, bringt daher auch den Anfang der urindischen Kultur mit dem Krebs-Weltzeitalter (etwa 8550 bis 6450 v. Chr.) in Verbindung. Die Inder sind ihrem Ursprung und ihrer inneren Anlage nach die Pioniere auf dem Gebiet der Innenwelt-, Seelen- und Bewusstseinsforschung. Mit dem klassischen Yoga, nach den Yoga-Sutras des Patanjali, wurde ein umfassendes System der Seelenschulung entwickelt.
Das geistige Europäertum stellt hierzu deutlich einen Gegenpol dar. Das Europäertum, das ist ja gerade der Tat-Impuls, der Weg der aktiven Weltgestaltung, der auf der Ebene der Tierkreiszeichen dem feurigen Zeichen des Widder entspricht, jenem Zeichen, unter dem vor Jahrtausenden die Indogermanen den heute als Europa bekannten Erdteil in Besitz nahmen. Geschichtlich gehen die Ursprünge der europäischen Hochkulturen in das Widder-Weltzeitalter (etwa 2250 bis 50 v. Chr.) zurück. So kann man also sagen: Der Inder orientiert sich mehr an der Innenwelt, der Europäer dagegen eher an der sinnlich erfahrbaren Außenwelt. Hieraus ergeben sich nun zwei ganz verschiedene Welthaltungen:
Der Weg des Ostens in religiöser Hinsicht bestand eigentlich schon immer darin, die Sinnenwelt als bloßen Schein zu entlarven und die jenseits des Sinnlichen liegende Gott-Wirklichkeit zu ergreifen. Der westliche Weg dagegen betrachtet die Sinnenwelt als ganz und gar real, will sie jedoch auch transparent machen für die Schau der ihr innewohnende Gott-Wirklichkeit. Während der Heilsweg des frommen Ostmenschen darin liegt, sich aus der Welt schrittweise zurückzuziehen, so sieht der spirituelle Westmensch seine Berufung gerade in der aktiven Weltgestaltung aus der Kraft göttlichen Bewusstseins. Das Göttliche soll also in der Welt Gestalt annehmen; die materielle Erdenrealität ist keineswegs bloße Maja, ein Reich der Illusion und der Täuschung, sondern vielmehr ein Ort der Bewährung; die Inkarnation des Menschen im Reich der Materie ist keine Strafe gefallener Seelen, sondern eine Aufgabe und Prüfung, die spirituelle Höherentwicklung ermöglicht.
Seiner wahren Erdenaufgabe kann der Mensch auch nicht dadurch gerecht werden, dass er in unbewusste Trance- und Traumzustände zurückfällt, sondern nur dadurch, dass er die im Westen bereits erreichte Bewusstseinswachheit steigert in Richtung eines göttlich-transzendenten Überbewusstseins. Wahre Einweihung kann nur darin liegen, den Menschen zu seinem höheren Geistes-Ich hinzuführen. Damit dies geschehen kann, musste zunächst einmal im Menschen ein Ich-Bewusstsein, ein individueller Persönlichkeits-Kern vorhanden sein. Deshalb bestand der weltgeschichtliche Auftrag des Westens darin, das Persönlichkeits-Prinzip herauszubilden, während der Heilsweg des Ostens umgekehrt auf Entpersönlichung hinzielt; das Endziel ist das Aufgehen des personalen Ichs im amorphen Schoß der Weltenseele, nenne man sie nun das Brahma, das Nirvana oder wie auch immer.
Besonders deutlich tritt die Persönlichkeits-Verneinung des Asiatentums in den Predigten Buddhas zutage5, in denen das personale Ich des Menschen geradezu als eine Illusion gekennzeichnet wird – das Ziel des Heilsweges im Buddhismus besteht nur noch darin, das Rad der Wiedergeburten aufzuhalten, sich der leidbehafteten Diesseits-Welt (samsara) zu entwinden, um schlussendlich wieder...