E-Book, Deutsch, Band 2, 149 Seiten
Reihe: Walter Werndt
Eichacker Panik
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7549-9438-2
Verlag: neobooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 2, 149 Seiten
Reihe: Walter Werndt
ISBN: 978-3-7549-9438-2
Verlag: neobooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Reinhold Eichacker (* 21. Mai 1886 in Siegburg; ? 10. Juli 1931 in Gröbenzell bei München;) war ein deutscher Jurist und Schriftsteller. Er wuchs in Köln auf, wo er ein Gymnasium besuchte und 1905 die Reifeprüfung ablegte. Er diente als Fahnenjunker, 1906 zum Offizier befördert. Eichacker studierte Jura an den Universitäten in Bonn und München. 1911 legte er das Staatsexamen im gleichen Jahr promovierte er an der Universität Heidelberg. Ab 1908 veröffentlichte er literarische Arbeiten.
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Der Funkentelegrafist der Michigansternwarte riss wie ein Rasender an der Kurbel des Telefonapparates.
„Rattes and thunder!“, fluchte er vor sich hin, „ist in dieser gottverlassenen Bude denn heute alles betrunken?“
Ein helles Lachen antwortete ihm von der Türe.
„Das wollen wir doch nicht hoffen, mein Lieber.“
Der Mann bekam einen roten Kopf und knickste verlegen.
„Verzeihung, Miss Earthcliffe, ich wusste nicht, dass Sie ...“
„Bin auch eben erst gekommen. Was gibt's denn so Schlimmes?“
Sie musste fast schreien, so summten die Drähte.
Der andere riss einen Zettel vom Block ab.
„Eine wichtige Nachricht. Vor dreizehn Minuten. Wahrscheinlich sehr eilig. Sternwarte Valparaiso.“
Das Lärmen der zahllosen, surrenden Drähte zerriss seine Worte.
„Ich läutete gleich überall an. Zuerst Herrn Direktor. Dann Observatorium. Niemand antwortet. Wie verhext heute, alles. Ich besetzt. Kann nicht fort. Hochbetrieb in den Netzen ...“
Der Lärm in dem niedrigen Turm wurde stärker und härter. Mehrere Lichtklappen fielen tickend nach unten. Der Telegrafist rang die Hände.
Das Fräulein schob lächelnd den weißschlanken Arm vor.
„Dann geben Sie mir's, John! Ich will's meinem Vater ...“
Sssst – wwww – sssss – rrrrr! kam es oben. Sie griff nach dem Zettel und schloss schnell die Türe.
Mit leichten, federnden Schritten ging sie durch den Garten zum Wohnhaus hinüber. Sie nahm wie ein Turner die Treppe im Sprung. Vor dem Saale des Sternwartendirektors zwang sie sich zum Warten. Sie zögerte sichtbar. Sie legte das Ohr an die riesige Türe und horchte nach innen. Das strenge Verbot jeder plötzlichen Störung galt auch für die Tochter des großen Gelehrten. Sie kannte den Vater. Die zahllosen Schrullen des Weltastronomen und Mathematikers Earthcliffe waren nicht minder berühmt als seine Berechnungen, Sätze und Formeln. Während der Arbeitsstunden lag rings um das Wohnhaus die Stille des Grabes.
Mabel Earthcliffe sah zögernd noch einmal den Text durch. Darin klopfte sie mutig und drückte das Schloss auf. Sie stockte ein wenig, den Fuß auf der Schwelle. Der Anblick des Raumes ging ihr auf die Nerven, so gut sie ihn kannte.
Ein riesiger Saal sprang sie an, wie ein Tierpark. Buntfarbige Teppiche mit eingewebten Zahlen, Strichen und Zeichen liefen quer über den Boden. Seltsam verschlungene, windschiefe Möbel hüpften und sprangen aus Ecken und Winkeln und sammelten sich um den kreisrunden Schreibtisch. Rechtecke, Rhomben, Zylinder, Kegel und Prismen. Hochlehnige Stühle in Form algebraischer Wurzeln umstanden die Fenster. Ein Rudel tollwütiger Integralzeichen sprang hoch an den Wänden und ihren Tapeten. Kein Gegenstand in diesem Saale, der nicht mathematisch berechnet, geboren, gestaltet ...
Mabel Earthcliffe strich sich unbewusst über Augen und Stirne und trat auf den Teppich. Jedes Mal hatte sie hier ein Gefühl, als ginge sie durch einen Ameisenhaufen. Wie hunderte, seltsame, lebende Wesen ringelten sich die Figuren des Bodens kraus um ihre Füße. Ihr Blick irrte suchend rings über die Möbel.
Es war wie ein Dickicht voll lauernder Bestien. Gerade ihr gegenüber dehnte sich eine riesige Wand. Ohne Fenster, schwarz, opak. Eine einzige finstere Tafel phantastischen Umfangs, aus mattgeschliffenem Spiegelglas, über die ganze Breite des Saales bis hoch an die Decke. Ein glitzerndes Etwas sauste darüber, an einem verworrenen Spinnetz metallischer Stangen und endloser Drähte. Schoss quer durch das Schwarz, wie ein zierliches Webschiff, und zog weiße Linien, Punkte und Zahlen: Der Mathematiker Earthcliffe war bei seiner Arbeit. Nur solch gigantische Rechentafel genügte den riesigen Reihen der Zahlen und Formeln und krausen Figuren des großen Gelehrten. Der raffiniert ausgedachte Mechanismus bewegte den Schreibstuhl im Takt der Gedanken und ganz nach Bedarf vor der haushohen Fläche.
Miss Mabel besann sich. Sie kannte das alles.
„Vater!“ Rief sie mit kräftiger Stimme. Sie musste fast schreien. Der riesige Raum sog den Ton wie ein Schwamm auf.
„Vater! Hallo! Einen Augenblick, bitte!“
Ein wütendes Zischen kam hoch von der Decke. Sie ließ sich nicht schrecken und schwenkte den Zettel.
„Eine wichtige Meldung! Du gabst keine Antwort ...“
Das blitzende Etwas sauste wütend zur anderen Seite und bremste. Ein kleiner silberner Sessel stand wie ein Spuk in der obersten Ecke.
Mabel grüßte nach oben, den Kopf tief im Nacken.
„Also, Vater, nun hör' mal! Wie eine Spinne schaust du jetzt aus in dem Netz deiner Stangen.“
Über den Sessel bog sich ein menschlicher Kopf. Zwanzig Meter vom Boden. Eine schneidende Stimme biss krähend nach unten.
„Wer ist da? Wer wagt da! Kreuzschock im Quadrat! Wer ...?!“
Jeder Ton überschlug sich.
„Ich, Mabel, ich bin es!“ klang's lachend von unten.
Wieder kam's wie ein Zischen. Der silberne Sessel sprang heftig zur Mitte.
„Wer ist Ich? Wer Mabel?! Ich arbeite! Thunder Potz Wurzel aus dreizehn! v x plus y ... wie kannst du es wagen, du kennst mein Verbot! Ganze Rechnung gefährdet! I–t im Quadrat durch ...!“
Wieder machte der Sitz einen Hopser ins Schwarze.
„Geh! Fort!“ biss es zischend.
Als Antwort hielt Mabel die Hand in die Höhe.
„Sehr wichtige Meldung ... Ein Funkspruch ...“
Sie kannte den Vater und nahm ihn nicht tragisch.
Mit einem Ruck stand der Sessel.
„Quadratschock, was gibt es? Lies vor! Siebte Wurzel ... So lies doch! Ich warte!“
Sie hielt das Papier in das Taglicht des Fensters.
„Nigra ronda punkto diametris sunon eble planetido au kometido 19 h 30 m 22, 45-19 h 38 m 16 s tm t. – –, Don Ebro Valparaiso.“
Wie ein Blitz lief es über die Tafel. Mit beängstigender Geschwindigkeit schoss der silberne Sessel nach unten und warf seinen Herrn fast im Sturz auf den Teppich. Mit einem einzigen Satz sprang der greise Gelehrte ins Zimmer und riss das Papier an die blinzelnden Augen.
Seine kleine Figur stand gereckt auf den Zehen. Trotzdem reichte er seiner rehschlanken Tochter kaum über die Schultern. Wie eine hellweiße Kugel saß der Kopf auf dem Halse. Dicht über dem schnittscharfen Mund sprang die eckig gebogene Nase keilförmig nach vorne. Die Hälfte des Kopfes nahm die Stirne in Anspruch. Breit, rund, voller Wülste, verlängert nach oben in glänzender Glatze. Wie auf einer schillernden Billardkugel stand mitten im Schädel ein einzelner Haarschopf und hing in die Stirne, die Augen zerteilend. Earthcliffe zupfte nervös an der Strähne und zischte. Stoßweise las er die Meldung noch einmal, sie laut übersetzend.
„Ein schwarzer, runder Punkt überquerte die Sonne. Möglicherweise planetarischer oder kometarischer Abkunft. Zwischen 10 Uhr 30 Minuten 16 Sekunden Weltzeit ...“
Mit einem seltsamen, weltfernen Ausdruck starrten die tiefblauen, leuchtenden Augen des greisen Gelehrten zur Decke des Zimmers. Das ganze Gesicht war gespannt und verzogen.
Miss Mabel bemerkte die hohe Erregung und wies auf das Ende der wichtigen Mitteilung. Auch sie war ganz Anteil.
„Und wer kann das sein? Valparaiso steht darunter ...“
„Valparai– wie?!“ Es klang wie ein Aufschrei.
Er hielt das Papier nochmals dicht vor die Augen.
„Gott sei Dank – Ein Don Ebro. Ein Trost bei dem Unglück. Nicht wieder der Nagel!“
Seine Tochter sah ihn verständnislos an.
„Nagel? Unglück? Wie meinst du das, Vater?“
Earthcliffe war mit den Augen noch immer im Weiten. Dann hob er den Zettel.
„Es ist wie ein Unglück. Wenn's stimmt, was man meldet, dann sind wir noch einmal blamiert und geschlagen. Wie kürzlich beim Fixstern, den Nagel entdeckte. Entdeckte ... durch Zufall. Ohne die weltberühmte Michigansternwarte mit den vollkommensten Instrumenten der Zeit. Dieser schwarze Punkt vor der Sonne kann eine Entdeckung enthalten von größter Bedeutung ...“
Sein Blick glühte tief, wie verborgenes Feuer.
„Streitfragen von Jahrhunderten tauchen auf mit diesem Punkt hier ...“
Sie bat mit den Blicken um eine Erklärung. Ihn hielt die Erregung und trieb ihn zum Sprechen.
„In alten astronomischen Schriften aus dem 17. und 18. Jahrhundert wurden schon die Wahrnehmungen von solchen Punkten behauptet, die rasch vor der Sonne erschienen und schwanden. Von den besten Gelehrten. Mit allen Belegen. Zwei Jahrhunderte haben wir Astronomen nun schon auf der Lauer gelegen. Nichts wurde gesehen! Nichts wurde bestätigt. Und nun diese Meldung! Potz Wurzel aus dreizehn! Wenn's stimmt, wenn das wahr ist ...!“
„Was soll's mit den Punkten?“
„In der Bahn des Merkurs stellte man Störungen fest. Keiner weiß die Begründung. Man riet auf Ablenkung durch einen unbekannten Planeten. Man erfand den Vulkanus. Niemand hat ihn gesehen. Theorie! Keiner glaubt daran! Nur der Punkt vor der Sonne ...! Wenn's nun doch den Vulkan gibt! Hab' ihn immer bestritten. Paramerkur – Intramerkur! Zwanzig Jahre bin ich nun schon hinterher. Mit dem Glas und mit Zahlen. Himmelschock und Potenzen! Wenn der Kerl mir zuvorkam ...!“
Mit eckigen Sätzen sprang er durch das Dickicht der Möbel zum Schreibtisch und griff nach dem Hörer.
„Observatorium – Sonnenturm! Wie? Doktor Webb! Ja, persönlich!“
Ungeduldig trampelte er von einem Fuß auf den anderen.
„Ah, hallo, Doktor Webb dort? Hier Earthcliffe. Sie haben doch heute Morgen die Sonne beobachtet, wie? Mit dem Heliokinographen? Vorzüglich! Wäre Rettung noch denkbar. Eben kam hier ein Funkspruch. Scheinbar wichtige Meldung. Ein Don – Ebro – Valparaiso – nein, ich kenne den Mann nicht, will schwarze Punkte gesehen...




