E-Book, Deutsch, 300 Seiten
Eis / Grabau / Salomon Jahrbuch für Pädagogik 2024
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7799-8635-5
Verlag: Julius Beltz GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Deglobalisierung
E-Book, Deutsch, 300 Seiten
ISBN: 978-3-7799-8635-5
Verlag: Julius Beltz GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mit dem Begriff der Deglobalisierung greift das Jahrbuch Analysen auf, die die Unumkehrbarkeit globaler Vernetzungen und Interdependenzen infrage stellen. Neue Kriege, Pandemien und das Erstarken der extremen Rechten zeigen ebenso wie die Zuspitzung von Klima- und Umweltkrisen die Grenzen bisheriger ?globaler? Zeitdiagnosen. Der Band widmet sich den pädagogischen Herausforderungen von Prozessen der Deglobalisierung und analysiert nicht nur Konsequenzen für pädagogische Theorie und Praxis, sondern versucht auch, Neueinsätze der Kritik auszuloten und mögliche Alternativen zu sondieren.
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Von der Globalisierung zur Deglobalisierung – Perspektiven der Weltwahrnehmung und ihre Brüche
Gerd Steffens
Zusammenfassung: Der Beitrag folgt der Entwicklung von der Globalisierung zur Deglobalisierung am Leitfaden der Perspektiven, aus denen sich Weltsichten bilden. Er geht dem zunächst durch eine Relektüre des Jahrbuchs 2004 „Globalisierung und Bildung“, insbesondere seines Editorials, nach. Dabei folgt er vor allem der Spur der Perspektiven und ihrer erschließenden Anwendung (1). Danach richtet er den Blick auf die emphatische Ausrufung einer neuen Epoche („Zeitenwende“) fast zwanzig Jahre später und fragt, mit welchen Blickrichtungen und Horizonten nun gebrochen wird, welche ausgezeichnet werden und rückt das Stichwort der Deglobalisierung in diesen Zusammenhang (2). Im nächsten Schritt fragt er, welche Folgen der Perspektivenbruch von 2022 für die implizite Perspektive des Anthropozäns als geschichtliche Selbstbeschreibung hat. Dabei vertieft er die Hinweise auf evolutionstheoretische und anthropologische Kontexte und weist – in Auseinandersetzung mit den ‚neuen Materialismen‘ – auf starke materialistische Argumente für die epistemische Leistungsfähigkeit von Perspektive als erschließender Kategorie hin (3). Abschließend wirft er einen wenig hoffnungsvollen Blick auf die Möglichkeiten von Pädagogik angesichts der – z. T. militant vollzogenen – Brüche in den Perspektiven der Weltwahrnehmung (4).
Abstract: The article follows the development from globalization to deglobalization using the perspectives from which worldviews are formed. It first explores this by re-reading the 2004 yearbook “Globalization and Education” particularly its editorial. In doing so, it primarily follows the trail of perspectives and their insightful application (1). It then looks at the emphatic proclamation of a new era (“turning point”) almost twenty years later and asks which perspectives and horizons are now being broken and which are being distinguished, and it puts the keyword deglobalization in this context (2). In the next step, it asks what consequences the break in perspective of 2022 has for the implicit perspective of the Anthropocene as a historical self-description. In doing so, it deepens references to evolutionary theoretical and anthropological contexts and – in dealing with the ‘new materialisms’ – points to strong materialist arguments for the epistemic performance of perspective as a revealing category (3). Finally, it takes a less than hopeful look at the possibilities of pedagogy in view of the – sometimes militantly carried out – breaks in the perspectives of perceiving the world (4).
Keywords: Perspektiven der Weltwahrnehmung, Deglobalisierung und Hegemoniekonflikte, Zeitenwende, Umsturz legitimer Perspektiven, Universalismus und planetare Verantwortung, Anthropozän, Prioritätenkonflikte der globalen Krisen
1.Einleitung
2004, vor nur zwanzig Jahren, schien Globalisierung eine epochale Tatsache. Sowohl als Tatbestand unbestritten wie in ihrer zeitenprägenden Bedeutung. Für die neue Epoche, die sich in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Bahn gebrochen zu haben schien, galt es den Begriff der Bildung auf seine Tragfähigkeit und Erschließungskraft zu prüfen. Dies geschah, wie der dem Jahrbuch für Pädagogik eigenen Aversion gegenüber Moden und Mainstream angemessen, im Jahrbuch 2004 „Globalisierung und Bildung“ aus kritischer Distanz und unterschiedlichen Perspektiven.
Doch was drängt heute dazu, eine Zeitdiagnose, die sich für epochal, für eine historisch harte Leitwährung hielt, zwanzig Jahre später mit ihrer Umkehr zu kontrastieren? Haben sich die Verhältnisse einschlägig geändert? Und was genauer an ihnen? Oder sind es die Blickrichtungen, die durch sie gebildeten Horizonte der Wahrnehmung, die die Ordnung der Dinge neu konstellieren? Und wenn, wie so oft, beides miteinander verschränkt ist: was überwiegt, und wie fügen sich die Anteile von veränderten Umständen und verändertem Blick?
Ich möchte diesen Fragen zunächst durch eine Relektüre des Jahrbuchs 2004, insbesondere seines Editorials, nachgehen. Dabei folge ich vor allem der Spur von Perspektiven der politischen Weltwahrnehmung und ihrer erschließenden Anwendung (1). Danach richte ich den Blick auf die emphatische Ausrufung einer neuen Epoche („Zeitenwende“) fast zwanzig Jahre später und frage, mit welchen Blickrichtungen und Horizonten nun gebrochen wird, welche ausgezeichnet werden und rücke das Stichwort der Deglobalisierung in diesen Zusammenhang (2). Im nächsten Schritt frage ich, welche Folgen der Perspektivenbruch von 2022 für die implizite Perspektive des Anthropozän als geschichtliche Selbstbeschreibung hat. Dabei möchte ich die schon eingestreuten Hinweise auf evolutionstheoretische und anthropologische Begründungskontexte vertiefen und damit – sowie in Auseinandersetzung mit den ‚neuen Materialismen‘ – auf starke materialistische Argumente für die epistemische Leistungsfähigkeit von Perspektive als erschließender Kategorie hinweisen (3). Abschließend werfe ich einen wenig hoffnungsvollen Blick auf die Möglichkeiten von Pädagogik angesichts der – z. T. militant vollzogenen – Brüche in den Perspektiven der Weltwahrnehmung (4).
2.Das Jahrbuch 2004 und sein Blick auf Globalisierung
Eine neue Epoche?
Der These vom epochalen Charakter der Globalisierung schließt sich das Editorial 2004 keineswegs umstandslos an. Es konstatiert zunächst anhand von Befunden der sozialwissenschaftlichen Literatur die unübersehbare Präsenz von Phänomenen, die tiefgreifende Veränderungen anzeigen, die dem Programm einer globalen Öffnung und Deregulierung von Märkten folgten. Mit der Auslagerung von Produktionen und der Bildung neuer, globalisierter Wertschöpfungsketten schufen sie erweiterte Austauschverhältnisse mit erheblich gesteigerten Gewinnchancen einerseits und großen Depravierungsrisiken andererseits. Ebenso unübersehbar war die legitimatorische und faktische Schwächung der Nationalstaaten. Sie wurden von zwei Seiten ausgesaugt, den Geboten des „nationalen Wettbewerbsstaats“ (Hirsch 1995), der seine Angebote kostengünstig und attraktiv für internationale Investoren machen muss einerseits, und durch eine Internationalisierung andererseits, in der der Staat immer mehr an Entscheidungshoheit an internationalisierte Regime, sei es die neu entstandene WTO, sei es die EU, abzugeben hat. Die sozialintegrative Kraft des Staates, so war festzustellen, verlor sich in dem Maß, in welchem große Teile der gesellschaftlichen Infrastruktur den internationalen Märkten überlassen wurden, vom Gesundheitswesen über die öffentlichen Sektoren des Verkehrs bis zum Bildungswesen. Zugleich wurden sozialstaatliche Schranken abgebaut, die Schutz vor Lohndumping, Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse oder Altersarmut geboten hatten – in Deutschland etwa durch die Agenda 2010 der rot-grünen Regierung, die zwischen 2003 und 2005 umgesetzt wurde. Alle diese Faktoren trugen zur dramatischen Steigerung von Ungleichheiten bei, sowohl national wie global. Eine kaum vorstellbare Akkumulation von Reichtum, die Konzentration etwa der Hälfte des Weltvermögens in den Händen von knapp 400 Milliardären, stand schon damals der schnell wachsenden Masse von Prekarisierten und zahllosen Menschen ohne jede Aussicht auf Arbeit gegenüber, denen nichts als die oft lebensriskante Flucht aus Elendsverhältnissen bleibt.
Unübersehbar waren auch die Zunahme der Zivilisationsrisiken und ihr globaler Charakter. Die Bedrohungen, die von atomaren Massenvernichtungsmitteln, überhaupt von radioaktiver Strahlung ausgehen, waren nach Hiroshima und Nagasaki, auch nach Tschernobyl, längst unter Beweis gestellt. Das atomare „Gleichgewicht des...