Elberfeld / Klammer / Maß | Erträumte Geschichte(n) | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 506 Seiten

Elberfeld / Klammer / Maß Erträumte Geschichte(n)

Zur Historizität von Träumen, Visionen und Utopien

E-Book, Deutsch, 506 Seiten

ISBN: 978-3-593-45141-1
Verlag: Campus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Menschen träumen – mutmaßlich schon immer – nachts, tagsüber und in politischen Visionen und Utopien. Aber wovon sie träumen, wie sie träumen, wie Träume wahrgenommen werden und welche Bedeutung man ihnen individuell, gesellschaftlich, politisch und wissenschaftlich beimisst, unterliegt historischem Wandel. Im Mittelpunkt dieses Bandes stehen Fragen nach den Inhalten des Geträumten, Imaginierten oder Ersonnenen sowie Betrachtungen zu den Träumenden, Visionären oder Utopisten der Geschichte. Die Beiträge thematisieren zudem sowohl theoretische und methodische Aspekte einer Traumgeschichte als auch Überlegungen zu den Begriffen, Semantiken und Diskursen des Traums und zu seinen visuellen Repräsentationen.
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Traum und Geschichte
Lucian Hölscher Wer sich mit dem Beitrag beschäftigt, den Träume zur Geschichtsschreibung leisten können, begibt sich auf ein sumpfiges Gebiet. Man fragt sich als Historiker schnell, ob man sich darauf begeben soll, denn die Abgründe, die sich auftun, können mindestens ebenso gefährlich sein wie die Sirenenklänge, die einen dazu verlocken. Dabei ist es gerade die Nähe bestimmter Eigenschaften von Träumen zur Geschichtsschreibung, die eine Vermittlung zwischen Traum und Geschichte nahelegen. Das Gefühl, über den Augenblick, die eigene Zeit, das eigene Leben hinauszuschauen, einen Blick in Bereiche und Zeiten zu werfen, die menschlichem Wissen eigentlich verschlossen sind, erzeugt einen Zauber, der von beiden ausgeht. Denn auch die Geschichte enthält dieses Versprechen – und bricht es doch immer und immer wieder. Träume scheinen seit alters ebenso wie die Geschichte ein Hintergrundwissen bereitzuhalten, das uns die Orientierung in der Welt erleichtert. Es geht ein Raunen von Prophezeiungen und Verheißungen von ihnen aus, das, so scheint es, die Prognosen und gesetzmäßigen Verläufe der Geschichte zu ergänzen oder gar zu ersetzen vermag. Heute gilt das zwar nicht mehr ebenso wie in früheren Zeiten, aber die Verbindung des Traums zur Geschichte ist nur gekappt, nicht endgültig zerrissen. Gerade die »Sinngebung des Sinnlosen« (Theodor Lessing), die der Geschichtsschreibung im 20. Jahrhundert ihren objektivistischen Schein genommen hat, die Deutung dessen, was uns von außen, nur unzureichend beeinflussbar, zustößt, bleibt eines der Geheimnisse, die zu lüften, trotz allen Scheiterns, wir als Historiker nicht vermeiden können. Das bringt die Geschichtswissenschaft den Träumen, von denen sie sich im 19. Jahrhundert abgekehrt hatte, wieder näher. Man könnte leicht Bücher mit Belegen dafür füllen, wie Träume die Menschen zu allen Zeiten auf ihren Wegen geleitet haben: etwa die berühmten Träume des ägyptischen Pharaos im Alten Testament von den sieben fetten und den sieben mageren Kühen bzw. Ähren, die Josef, der in die Ferne verschlagene Sohn Jacobs, als Voraussage von sieben bevorstehenden guten und sieben schlechten Jahren deutete;38 oder der Traum Jacobs von der Himmelsleiter, in dem Gott ihm seinen Segen und ewige Treue zusagte.39 Auch die griechischen Götter sandten, wie in allen anderen antiken Kulturen auch, den Menschen immer wieder Träume, um ihnen Dinge mitzuteilen und Aufträge zu erteilen. So jedenfalls wurde es verbreitet und von Generation zu Generation überliefert: Penelope träumte von einem Adler, der ihre Gänse im Hof tötete, ein Vorgeschmack auf das Gemetzel, das der heimgekehrte Odysseus bald darauf unter ihren Freiern anrichtete.40 Alexander der Große träumte von einem Satyr, den er besiegte, und las daraus, indem er die Figur raffiniert in ihre sprachlichen Bestandteile zerlegte, den Sieg über die Stadt Tyros, »sa tyros«, ab, die er kurz darauf erfolgreich belagerte.41 Nun sind all diese Träume lang her und deshalb auch nur so weit überliefert, wie sie in Epen und Geschichtswerken die Zeit überdauert haben. Wie die Menschen über ihre alltäglichen, uns nicht überlieferten Träume dachten, wie weit sie sich von ihnen berühren ließen, wie sie mit ihnen umgingen, ob sie sie als Prognosen deuteten, wissen wir nicht. Doch was ihre Geschichtsmächtigkeit betrifft, so wurde ihnen zweifellos ein großer Einfluss auf den Gang der menschlichen Geschicke zugeschrieben. Mit ihren Traumbotschaften griffen die Götter zu allen Zeiten in das menschliche Geschehen ein und wiesen so auch der Geschichte ihren Weg. Spätestens seit der Aufklärung haben Träume allerdings viel von ihrem geschichtsbildenden Nimbus eingebüßt. Statt Deutungsmuster für den Verlauf der Geschichte, etwa die Legitimation von Herrschaft, bereitzustellen, wurden sie – zu Unrecht, wie sich im Folgenden noch herausstellen wird – mehr und mehr in die Sphäre des individuellen Lebens abgedrängt, wo sie jeglichen Einfluss auf das öffentliche Leben und so auch auf die Geschichtsschreibung verloren.42 Es wäre jedoch voreilig, die Entmachtung der Träume einfach auf die aufklärerische Erkenntnis ihrer Ohnmacht zurückzuführen. Dass sich Träume nicht erfüllen, ist nämlich keine neue Erkenntnis der Neuzeit. Die Kasuistik der möglichen Fälle, wie die Differenz von Traum und Wirklichkeit zu erklären sei, war auch in der Antike schon so vielgliedrig, dass sie praktisch alle Möglichkeiten zwischen Erfüllung und Widerlegung, Hoffnung und Enttäuschung abdeckte: So sagten ja zum Beispiel die antiken Götter den Menschen nicht nur, was kommen würde und wie sie handeln sollten, sondern sie täuschten die Menschen gelegentlich auch mit falschen Träumen, die sich nicht oder anders erfüllten als angekündigt. So ging es etwa dem Perserkönig Xerxes, als er auf den Rat, den ihm ein »großer und schöner Mann« im Traum gegeben hatte, in den Krieg gegen die Griechen zog und ihn verlor.43 Nein, die Bewertung des Traums als Irrlicht ist wohl ebenso alt wie seine Wertschätzung als Führer durch das Dunkel der menschlichen Geschicke. Darum, sie einfach als bare Münze im Sinne einer verlässlichen Voraussage dessen, was kommen würde, zu nehmen, ging es der älteren Traumdeutung auch gar nicht. Vielmehr handelte es sich um die Bereitstellung von Deutungsmustern für menschliche Handlungen und Geschicke, auf deren Erfolg die Menschen keinen Einfluss hatten. Darin verfolgte sie dasselbe Ziel wie die Geschichtsschreibung schon seit ihren griechischen Anfängen bei Herodot, die ebenfalls Geschichten bereitstellte, mit deren Hilfe man andere, meist neuere Handlungsverläufe erklären konnte.44 Wenn wir an die geschichtsbildende Kraft der Träume heute nicht mehr glauben können, so wohl vor allem deshalb, weil wir mit ihrer Zuschreibung zu höheren Mächten nichts mehr anzufangen wissen. Die Religionskritik hat die Götter zu Lebewesen degradiert, die den Menschen gleichen, und sich so den Zugang zu einer Wirklichkeit versperrt, in der sich innere Mächte zu äußeren Wesen, das von Menschen nicht Beherrschbare zu intentional handelnden Geistern verdichtete. So irrational eine solche Praxis nach modernem Verständnis auch sein mag, so sehr stellte sie doch die Möglichkeit bereit, dem Regiment des Zufalls einen für das eigene Leben bedeutungsvollen Sinn abzugewinnen. Der Irrtum, zu dem der Glaube an die vorausschauende Kraft der Träume verleitete, wurde zur Zeit der Aufklärung weniger der Botschaft und ihrer verschlüsselten Aussage angelastet als vielmehr dem Medium des Traums selbst. Man könnte deshalb dem Schicksal des ciceronischen Diktums »historia magistra vitae«45 mit Recht das Diktum »somnia magistrae vitae« an die Seite stellen, dessen Überzeugungskraft ebenso zurückging wie jenes. Das heißt, ebenso wie die historiae, die Geschichten von äußeren Ereignissen, im Kollektivsingular ›Geschichte‹, so durchliefen im 18. Jahrhundert auch die Träume eine Transformation, indem sie als Tor zu einer eigenen, von der Welt der Wachenden geschiedenen Traumwelt gedeutet wurden. Wie sich diese Transformation gestaltete, soll im Folgenden in einigen knappen Zügen gezeigt werden. I.Der Traum als Tor zur nächtlichen Gegenwelt
In der Moderne sieht sich, wer die Welt der Träume mit dem Ziel betritt, deren Einfluss auf das Tagesgeschehen zu ermitteln, schnell von einem Wald von Warnschildern umgeben, die seine Bilder und Erkenntnisse als Träumereien denunzieren: so zum Beispiel, wenn Karl Philipp Moritz in seiner Götterlehre am Traum vor allem das Flüchtige und Ohnmächtige hervorhob und die Traumwelt wie schon Homer dem Hades zuordnete, der griechischen Schattenwelt, die verfliegt, sobald man sie ergreifen will. Träume, so seine Bilanz, erzeugen die Illusion einer Wirklichkeit, die sich auflöst, sobald man sich normal in ihr zu bewegen versucht.46 Zur vernünftigen Welt des Tages schienen die flüchtigen Nachtgespinste schon im 18. Jahrhundert schlecht zu...


Maß, Sandra
Sandra Maß ist Professorin für transnationale Geschichte des 19. Jahrhunderts an der Universität Bochum.

Nietzel, Benno
Benno Nietzel, PD Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder und Privatdozent an der Universität Bielefeld.

Klammer, Kristoffer
Kristoffer Klammer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Göttingen.

Kristoffer Klammer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Göttingen.
Sandra Maß ist Professorin für transnationale Geschichte des 19. Jahrhunderts an der Universität Bochum.
Benno Nietzel, PD Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder und Privatdozent an der Universität Bielefeld.


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