E-Book, Deutsch, Band 3, 368 Seiten
Reihe: Fenland Police
Ellis Das Gewissen der Toten
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-492-99683-9
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jackman und Evans ermitteln
E-Book, Deutsch, Band 3, 368 Seiten
Reihe: Fenland Police
ISBN: 978-3-492-99683-9
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Joy Ellis ist gelernte Floristin und über ihr späteres Buchhändlerdasein selbst zum Schreiben gekommen. Bei den ermittlungstechnischen Details ihrer Fälle verlässt sie sich auf ihre Partnerin Jacqueline, eine pensionierte Polizeibeamtin. Die beiden leben zusammen in den Lincolnshire Fens, wo auch Joy Ellis' Kriminalromane spielen. Das unscheinbare, freundliche Wesen der Autorin täuscht darüber hinweg, dass sie in jungen Jahren liebend gern Motorrad gefahren ist und ihrer Fantasie immer wieder grausame Verbrechen entspringen.
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Prolog
Carter McLean starrte durch das winzige Flugzeugfenster auf die gewaltigen Gewitterwolken hinaus. Der Pilot hatte ihnen versichert, dass sie es durch den Sturm schaffen würden, und Carter vertraute ihm. Er war schon früher mit ihm geflogen.
Das Flugzeug verlor abrupt an Höhe, und sein Magen machte einen Satz. Im nächsten Moment sah er nur noch Grau, und Regen peitschte ans Fenster. Sie waren mittendrin.
Carter liebte es, wenn das Adrenalin durch seine Adern jagte. Sein Leben lang hatte er nie den einfacheren Weg eingeschlagen, und mittlerweile war er dank seines Jobs im Drogendezernat immer dort, wo es ihm am besten gefiel – an vorderster Front. Mit einem grimmigen Lächeln zog er daher den Sicherheitsgurt fest und stellte sich auf einen holprigen Weiterflug ein.
Rückblickend hätte er nicht so lässig reagiert, hätte er zu diesem Zeitpunkt schon gewusst, dass das Flugzeug etwa dreißig Sekunden später abstürzen würde.
Die Motorengeräusche veränderten sich mit einem Mal. Das beständige Brummen verstummte und setzte dann stotternd wieder ein. Carter starrte mit zusammengekniffenen Augen durch das regennasse Cockpitfenster und runzelte die Stirn. Waren das etwa Bäume? Das Flugzeug kippte wie ein Betrunkener zur Seite, und ein Kreischen erklang. Carter presste sich die Hände auf die Ohren. Sein Mund war staubtrocken. Er sah zu seinen vier besten Freunden. Gerade noch hatten sie sich über Rays Hochzeit und den Junggesellenabschied unterhalten, den sie dieses Wochenende feiern wollten. Nun spiegelten sich Entsetzen und Fassungslosigkeit in ihren Gesichtern wider. Sie wussten, was auf sie zukam.
Carter hatte keine Angst, sondern fühlte sich vielmehr betrogen. Er war sechsunddreißig, fit und gesund. Er hatte noch alle Zähne und dichtes Haar. Es war zu früh.
Alles in der Kabine wirkte dumpf und wie in Zeitlupe, und der Aufprall erfolgte nicht unmittelbar. Die sechssitzige Piper Seneca schoss zunächst ruckelnd und schwankend über den unebenen Boden, dann ertönte ein weiteres metallisches Kreischen. Ein Flügel brach, und kurz darauf bohrte sich die Nase des Flugzeugs in die Erde. Das Heck wurde nach oben katapultiert und die Insassen nach vorne in Richtung Cockpit geschleudert.
Carter konnte sich nicht bewegen. Er hatte keine Ahnung, warum, und auch keine Lust, es herauszufinden. Eine Zeit lang schien er in einer gespenstischen Stille zu schweben. Sie war kalt, verstörend und wurde nur von dem Klingeln in seinen Ohren durchschnitten.
Er war wie gelähmt. Stunden schienen zu vergehen, vielleicht sogar Tage. Doch dann sprühte plötzlich ein herunterhängendes Kabel im zerstörten Cockpit Funken, und er wusste, dass er etwas unternehmen musste.
Er stöhnte und versuchte, sich zu bewegen, aber er wurde von etwas gegen den Sitz des Piloten gedrückt. Erst nach einer Weile erkannte er, dass es Jacks lebloser Körper war, der ihm die Luft aus den Lungen presste.
Er versuchte, darunter hervorzukriechen, und schrie auf, als Schmerz seine Brust durchfuhr. Der Sicherheitsgurt war zwar gerissen, aber davor hatte er ihm wohl noch ein paar Rippen gebrochen. Er dachte an das zischende Kabel und wusste, dass sie so schnell wie möglich aus dem Flugzeug rausmussten.
Er zwängte sich ächzend unter Jack hervor.
»Leute …?« War das seine Stimme? Er klang wie ein Achtjähriger. »Hey, Leute? Alles klar bei euch?« Er wartete.
»Scheiße!« Toms Stimme hallte durch die dunkle Kabine. »Carter? Bist du das?«
Erleichtert schloss er die Augen. Tom war sein bester Freund. Hochgewachsen, dunkel und alles andere als gut aussehend, aber mit einem großen Herzen. »Ja, ich bin’s. Bist du verletzt, Kumpel?«
»Keine Ahnung, aber mein Kopf tut verdammt weh.« Er hielt inne. »O mein Gott! Wo sind die anderen?«
Carter sah zu Jacks leblosem Körper hinüber. Er hatte schon viele Leichen gesehen. Das gehörte zum Job. Doch auch wenn diese Toten oft schrecklich zugerichtet gewesen waren, waren es Fremde gewesen. Das hier war einer seiner engsten Freunde.
Jacks Kehle war aufgeschlitzt. Sein Hemd glänzte dunkelrot. Etwas hatte seine Luftröhre zerfetzt, und durch das schaumige Blut waren die weißen Knochen seiner Wirbelsäule zu erkennen. Carter unterdrückte ein Schluchzen und sah sich nach den anderen um. Auch für den Piloten gab es keine Hoffnung mehr. Er hing zur Hälfte aus dem aufgebrochenen Cockpit, und sein Genick war offensichtlich gebrochen.
Wenigstens Matt atmete noch. Gott sei Dank! Carter hörte das unregelmäßige Keuchen und sah, wie sich die Brust seines Freundes hektisch hob und senkte. Einer der Sitze war aus der Verankerung gerissen worden und klemmte Matts Beine unter sich ein.
Aber wo war Ray? »Ich kann Ray nirgendwo entdecken«, rief Carter.
»Er ist hier. Hängt in seinem Sitz fest«, antwortete Tom. »Er ist ohnmächtig, und sein Arm ist hinüber, aber ich spüre einen Puls.«
Das Kabel sprühte erneut knisternde Funken. Carter versuchte, die aufsteigende Panik zurückzudrängen. »Wir müssen hier raus. Tom, ich glaube, die Tür ist hier irgendwo. Wenn ich sie öffnen kann, können wir die anderen hinausziehen.«
»Der Pilot ist tot, oder?«, flüsterte Tom. »Und was ist mit Jack und Matt?« Seine Stimme zitterte.
»Matt lebt, aber wir haben keine Zeit, uns um die Verletzungen zu kümmern. Wir müssen die beiden aus dem Flugzeug schaffen und so schnell wie möglich verschwinden. Hier kann jeden Moment alles in die Luft fliegen.«
Carter kroch auf die Tür zu und machte sich am Griff zu schaffen.
»Ah! Verdammt!« Ein stechender Schmerz durchfuhr seinen Nacken, den Arm und die Schulter. Die Tür rührte sich nicht. »Tom, du musst mir helfen! Das verfluchte Ding ist verbogen. Ich bekomme es nicht allein auf.« Er stöhnte erneut. »Ich habe mir ein paar Rippen gebrochen. Und den Arm auch, schätze ich. Ich habe zu wenig Kraft!«
Gedämpftes Fluchen erklang, und dann kroch Tom in den engen Spalt zwischen Jack, Wrackteilen und der Tür.
»Jack! O nein!« Er warf einen Blick auf seinen Freund und bekreuzigte sich.
»Die Tür!«, keuchte Carter. »Konzentrier dich auf die Tür! Wir müssen die beiden anderen hier rausschaffen!«
Tom atmete tief durch und kniete sich neben ihn. »Okay, schon gut. Du versuchst, den Griff zu öffnen, und stemmst dich mit dem Oberkörper dagegen. Ich probiere, sie mit den Beinen nach außen zu drücken. Bereit?« Er setzte sich und hob die Füße an die Tür.
Carter nickte und drückte den Griff nach unten. Ein gellender Schrei entfuhr ihm, die Tür flog auf, und er wurde wie ein menschliches Projektil aus dem Flugzeug geschleudert.
Er schlug schmerzhaft auf dem feuchten Boden auf. Die Piper steckte im spitzen Winkel im Boden. Ein Flügel war abgebrochen, und der Flugzeugrumpf ragte in die Höhe. Entsetzt stellte er fest, dass sich die offen stehende Tür etwa drei Meter über ihm befand. Er schrie gegen den Wind an. »Tom, ich kann nicht wieder rein! Schieb die anderen einfach durch die Öffnung, und ich versuche, sie fortzuziehen!«
Tom erschien in der Öffnung. »Ich hole zuerst Ray und Matt. Vielleicht haben sie noch eine Chance.«
Sein Gesicht verschwand, dann tauchte es wieder auf. »Ich habe Ray«, keuchte Tom. »Er ist noch immer ohnmächtig. Bist du so weit?«
»Schieb ihn einfach raus!«, röchelte Carter und starrte zu dem dunklen Loch hinauf.
Ein plötzlicher Regenschauer und ein gewaltiger Windstoß trafen das Wrack, und die Tür schlug zu.
Carter erstarrte.
»Tom?«
Carter sah die dunkle Silhouette seines Freundes, der sich verzweifelt gegen die Tür warf. Er rappelte sich schwankend auf und starrte fassungslos nach oben. Im hellen Gegenlicht, das aus der Kabine drang, konnte er Tom gut erkennen. Er machte einen Schritt zurück, und seine Augen weiteten sich. Das war kein Licht, sondern Flammen. Toms freundliches Gesicht war mittlerweile schmerzverzerrt.
Carter stieß einen Schrei aus und rannte auf das Wrack zu. Er versuchte, zu der geschlossenen Tür hochzuklettern, und vergaß in seiner Verzweiflung jeglichen Schmerz.
Im nächsten Augenblick explodierte das Flugzeug.
Am nächsten Morgen wachte Carter McLean im Morgengrauen auf und versuchte, sich in dem unbequemen Krankenhausbett hochzustemmen. Bei jeder Bewegung raubte ihm der Schmerz den Atem. Er holte keuchend Luft, und als die Schmerzen verebbt waren, sah er Tom am Fußende des Bettes sitzen. Sein Freund betrachtete schweigend seine mit Brandblasen überzogenen Hände.
Aber Tom war nicht allein. Auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers lehnten Matt, Ray und Jack an der Wand und diskutierten laut darüber, ob Manchester United die Europa League gewinnen oder nur unter den ersten vier landen würde.
Carter wandte den Blick ab. Hier stimmte etwas nicht. Warum hatte man ihn sofort behandelt, während sich niemand um seine Freunde gekümmert hatte? Er sah genauer hin. Man hatte nicht einmal Jacks Hals gereinigt, und sein Kopf wackelte seltsam, wenn er redete. Wenn die Ärzte nicht bald etwas unternahmen, würde er noch abfallen.
Und der arme Matt! Seine Beine waren wie rohes Fleisch. Er würde sich noch eine Infektion holen. Carter klingelte besorgt nach der Schwester.
»Bemüh dich nicht, Kumpel«, meinte Tom leise. »Ruh dich lieber aus und vergiss uns für eine Weile.«
»Aber ich verstehe das nicht«, flüsterte Carter.
»Natürlich, das weiß ich doch. Versuch zu schlafen, okay?«
Carter starrte seinen besten Freund an, und Tränen liefen über seine Wangen. Er erkannte Tom lediglich an der Stimme. Die Hälfte seines Gesichts war verschwunden, und die Knochen blitzten hervor. Er roch grauenhaft. Der scharfe Geruch legte sich wie eine zweite Haut über...




