E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Ellis Ich heiße Parvana
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7026-5872-4
Verlag: Jungbrunnen
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-7026-5872-4
Verlag: Jungbrunnen
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Deborah Ellis ist Schriftstellerin und Psychotherapeutin und lebt in Toronto. Sie verbrachte viele Monate in afghanischen Flüchtlingslagern in Pakistan, wo sie Gespräche mit Frauen und Mädchen führte. Die Geschichten, die sie dort hörte, und die Menschen, die sie kennenlernte, inspirierten sie zu 'Die Sonne im Gesicht' (Jungbrunnen 2001) und den Folgebänden 'Allein nach Mazar-e Sharif' und 'Am Meer wird es kühl sein'.
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EINS
„Heißt du Parvana?“
Das Mädchen in dem staubigen blauen Tschador reagierte nicht. Die Gefangene saß reglos auf dem harten Metallstuhl und hielt die Lider gesenkt. Der Stoff des Tschadors bedeckte die untere Hälfte ihres Gesichts.
Ihre Mundwinkel hatten beim Erkennen der englischen Wörter vielleicht ein klein wenig gezuckt, aber die beiden Uniformierten, die sie anstarrten, ein Mann und eine Frau, hatten jedenfalls nichts davon bemerkt.
„Heißt du Parvana?“
Die Frau übersetzte die Frage des Mannes ins Dari, dann ins Paschtu. Und nach einer Pause auch ins Usbekische.
Das Mädchen rührte sich immer noch nicht.
„Sie antwortet nicht, Sir.“
„Das sehe ich, Corporal. Fragen Sie sie noch einmal.“
Die Frau räusperte sich und wiederholte die Frage in allen drei Sprachen.
„Heißt du Parvana?“
Diesmal sprach sie lauter, als wäre es an der mangelnden Lautstärke gelegen, dass das Mädchen nicht antwortete.
Das Mädchen rührte sich nicht und gab auch jetzt keine Antwort. Sie hielt den Blick hartnäckig auf eine Schleifspur am Boden geheftet.
Aus der Ferne drangen Geräusche gedämpft durch die Wände in den kleinen Büroraum. Ein LKW-Motor. Stiefel, die auf Sand marschierten. Ein Jet, der über ihre Köpfe hinwegdüste. Das Surren eines Hubschrauberpropellers.
Das Mädchen wusste, dass noch andere Menschen da waren. Sie hatte sie gesehen, als sie aus dem LKW getrieben und an diesen Ort gebracht worden war, wo sie jetzt in diesem kleinen Raum auf diesem harten Stuhl sitzen musste. Aber auch auf dem Transport hierher hatte sie sich nicht umgesehen, sondern hatte ihren Blick nur auf den Sand und Stein im Hof, dann auf die Zementstufen und schließlich auf den harten grauen Fußboden in dem langen Gang gerichtet.
„Vielleicht ist sie taub, Sir.“
„Sie ist nicht taub“, antwortete der Mann. „Sehen Sie sie an. Sieht sie aus wie taub?“
„Ich bin nicht sicher …“
„Wenn sie taub wäre, würde sie sich im Raum umsehen, um herauszufinden, was hier los ist. Sieht sie sich um? Hat sie den Kopf gehoben? Nein. Sie schaut immer nur nach unten, seit sie hergebracht wurde, ich habe sie kein einziges Mal den Kopf heben sehen. Glauben Sie mir, sie ist nicht taub.“
„Aber sie hat nichts gesagt, Major. Kein einziges Wort.“
„Sie hat wahrscheinlich etwas gesagt, als man sie gepackt und auf den LKW verfrachtet hat. Hat sie gekreischt oder irgendetwas geschrien?“
„Nein, Sir.“
„Was hat sie gemacht?“
Das Mädchen in dem blauen Tschador hörte Papier flattern, während die Frau in der grünen Armeeuniform in einem Bericht las.
„Sir, hier steht, dass sie ruhig dagestanden und gewartet hat.“
„Dagestanden und gewartet.“ Der Mann sprach die Wörter gedehnt aus, als würde er sie im Mund hin und her schieben. „Corporal, was sagt Ihnen Ihr Bauchgefühl über sie?“
Kurz war es still. Das Mädchen in dem blauen Tschador stellte sich vor, dass die Frau überlegte, welche Antwort dem Major gefallen würde.
„Sir, ich habe nicht genug Informationen, um mir eine Meinung zu bilden.“
„Corporal, warum sind Sie zur Army gegangen?“
„Meine Spanischlehrerin hat mich auf die Idee gebracht. Sie sagte, ich hätte ein Ohr für Sprachen und das Militär könnte mich brauchen.“
„Sie haben das Sprachinstitut des Verteidigungsministeriums in Monterey besucht?“
„Ja, Sir.“
„Sie sind sehr jung. Hatten Sie davor jemals einen Job?“
„Ich habe in der Bäckerei meiner Eltern gearbeitet.“
„Brot?“
„Brot auch. Kekse, Kuchen, Schnitten, Torten. So in der Richtung.“
„Apfeltaschen?“
„Sicher, Sir.“
„Mein Lieblingsgebäck.“
„Wenn Sie möchten, kann ich meine Eltern bitten, Ihnen welche zu schicken.“
„Danke, Corporal. Bis sie hier ankommen, sind sie vertrocknet, aber bestimmt immer noch recht gut. Also eine Kleinstadt-Bäckerei mit ein bisschen von allem – backen, Lieferanten anrufen, Kunden bedienen?“
„Ja, Sir.“
„Hatten Sie schon mal das Gefühl, dass jemand nichts Gutes im Sinn hat?“
„Sir?“
„Ein Kunde kommt in Ihren Laden und tut nichts Schlimmes, sagt nichts Schlimmes, und trotzdem denken Sie, ‚Mit dem stimmt was nicht?, und Sie beobachten ihn und sind froh, wenn er wieder weg ist.“
„Ich glaube schon, Sir. Es ist eine kleine Stadt, aber schlimme Dinge passieren überall.“
Der Mann klopfte mit seinem Stift an die Schreibtischkante. Er klopfte ziemlich lange. Das Mädchen in dem blauen Tschador wusste, dass es sich sehr zusammennehmen musste, um sich dadurch nicht aus der Fassung bringen zu lassen.
„Sehen Sie sie an“, sagte der Mann.
Nach den Geräuschen zu urteilen, änderten sie gerade ihre Sitzposition.
„Sie hat kein einziges Wort gesagt und hat dagestanden und gewartet, dass sie festgenommen wird“, sagte er. „Was sagt Ihnen das?“
„Ich weiß nicht, Sir. Vielleicht, dass sie Angst hat.“
„Sieht sie aus, als hätte sie Angst?“
Wieder war es kurz still.
„Nein, Sir. Tut sie nicht. Aber, vielleicht … vielleicht stimmt etwas nicht mit ihr. Vielleicht ist sie nicht klug genug, um Angst zu haben.“
„Sie waren in einer Bäckerei, Corporal. Ich in einer Sicherheitsfirma. Ich habe gelernt, Schwierigkeiten zu erkennen. Und dieses Mädchen macht Schwierigkeiten. Was wissen wir über sie?“
„Sehr wenig, Sir. Sie wurde in einer verlassenen Ruine gefunden, die früher eine Schule war. Wir vermuten, dass die Ruine derzeit von den Taliban als Stützpunkt genützt wird, um Angriffe auf uns vorzubereiten, und was wir aus den Dorfbewohnern herausgebracht haben, scheint das zu bestätigen, obwohl niemand bereit ist, offen darüber zu sprechen. Das Mädchen war dort ganz allein. Und sie trug eine zerlumpte Tasche über der Schulter. In der Tasche waren Papiere, auf denen der Name Parvana stand. Deshalb nehmen wir an, dass sie so heißen könnte.“
„Zeigen Sie mir die Tasche.“
„Ich glaube, sie ist gerade bei der Analyse.“
„Holen Sie sie her. Ich kann nicht warten, bis die dort alles genau unter die Lupe genommen haben. Die brauchen so viel Zeit, wie sie kriegen. Treiben Sie die Tasche auf. Bringen Sie sie her. Wenn die meckern, sagen Sie, es ist ein Befehl.“
„Ja, Sir.“
Das Mädchen auf dem Stuhl sah, wie die Armeestiefel der Frau den Boden überquerten und das Büro verließen. Als die Tür aufging, drangen noch mehr Geräusche herein – Telefonläuten, Gesprächsfetzen, das Auf- und Zuschieben von Aktenschränken.
Das Mädchen lauschte und hielt die Augen gesenkt. Sie wusste, dass der Mann am Schreibtisch sie beobachtete. Sie bemühte sich, ihn zu ignorieren. Es war schwer. Sie wandte einen alten Trick an, mit dem sie sich geholfen hatte, wenn sie in der Wildnis Angst hatte.
Sie übte das Einmaleins.
Neunzehn mal sieben ist hundertdreiunddreißig. Neunzehn mal acht ist hundertzweiundfünfzig. Neunzehn mal neun ist hunderteinundsiebzig.
Sie ging gerade die Multiplikationen mit vierundzwanzig durch, als die Stiefel der Frau wieder ins Büro traten. Sie hörte, wie die Schultertasche ihres Vaters auf den Schreibtisch gelegt wurde.
„Die sieht aus, als hätte sie schon bessere Zeiten gesehen“, sagte der Mann. „Schauen wir mal, was wir da drinnen haben.“
Er benannte jeden Gegenstand, den er aus der Schultertasche nahm.
„Ein Heft. Was steht da?“
„Sir, da steht: Eigentum von Parvana. Alle anderen: Finger weg!“
„Genau das hätten auch meine eigenen Teenie-Töchter geschrieben. In welcher Sprache?“
„Dari. Aber wir wissen nicht, ob es ihr Heft ist. Vielleicht hat sie es beim Plündern mitgenommen oder ...“
„Stifte“, sagte der Mann. „Und eine Ausgabe von Wer die Nachtigall stört in englischer Sprache. Was hat ein Mädchen wie dieses mit einem amerikanischen Klassiker am Hut? Aber schauen Sie, da wurden Seiten rausgerissen – sieht fast so aus, als hätte jemand davon abgebissen! Wozu bemühen wir uns bloß, diesen Leuten Zivilisation beizubringen?“ Er schleuderte das Buch auf den Schreibtisch.
Das Mädchen im blauen Tschador konnte sich nur mit Mühe zurückhalten, aufzuspringen, das Buch zu packen und dem Mann damit eins überzuziehen.
Sie hörte, wie jemand das Heft durchblätterte.
„Wer ist dieses Mädchen? Was hat sie vor?“, fragte der Mann. „Vielleicht hat sie, wie Sie sagen, bloß geplündert. Das würde passen. Ihre Kleidung ist völlig verstaubt. Ihre Füße sind dreckig. Sie sieht aus, als hätte sie draußen auf der Erde geschlafen. War in dem Gebäude noch irgendetwas anderes, das einen Wert hatte?“
„Für diese Menschen hat alles einen Wert, Sir“, antwortete die Frau. „Aber, ja, da waren noch andere Dinge, die sie hätte nehmen können. Ein Radio. Ein paar Küchenutensilien.“
„Also Dinge, die sie verwenden hätte können. Oder verkaufen. Wenn sie also bloß eine Plünderin wäre, hätte sie die mitgenommen. Stattdessen nimmt sie diese verrottete alte Schultertasche voller Papierfetzen und ein halb...




