Elmiger Schlafgänger
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8321-8778-1
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 142 Seiten
ISBN: 978-3-8321-8778-1
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dorothee Elmiger, geboren 1985, lebt und arbeitet in Zürich. 2010 erschien ihr Debütroman >Einladung an die Waghalsigen<, 2014 folgte der Roman >Schlafgänger< (beide DuMont Buchverlag). Ihre Texte wurden in verschiedene Sprachen übersetzt und für die Bühne adaptiert. Für ihr Werk wurde Dorothee Elmiger mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Aspekte-Literaturpreis für das beste deutschsprachige Prosadebüt, dem Rauriser Literaturpreis, einem Werkjahr der Stadt Zürich, dem Erich Fried
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Im Schlaf, sagte die Übersetzerin, sah ich einmal das ganze europäische Gebirge zusammenbrechen, wie von Sinnen lag ich da, aber still, hörte auch Geräusche in diesem Zusammenhang, die Gipfel zerbrachen vor meinen Augen, alles stürzte langsam ein und kam mir als Geröll entgegen, Gestein wurde durch die Luft geschleudert, ich sah, wie die Flanken in Bewegung gerieten, in Stücke zerfielen, alles kam auf mich zu. Später wachte ich auf, der Raum war leer, die Heizung auf höchster Stufe eingestellt. Unverändert lag die Landschaft vor den Fenstern, das ganze nächtliche Panorama, das aufgefaltete, das gestapelte Gestein.
A. L. Erika sagte, der Ort, an den sie denke, sei nicht über eine Straße zu erreichen, man gelange nur zu Fuß oder auf Pferden dorthin, dieser Ort sei eine Schlucht, durch die ein Fluss führe, relativ viel Geäst und Grün, Versteinerungen in den Felswänden, das Wasser sei ganz klar, wie in der Karibik.
Am Fenster saß Fortunat und las; den Alpstein habe er auf Tageswanderungen kennengelernt, auch die Innerschweiz und Kärnten, sagte er.
Und wiederum, rief die Übersetzerin, sah ich alles um mich einbrechen, eine plötzliche Explosion jagte die Alpen auf, langsam und still sah ich die Gipfel, Grate niedergehen in meine Richtung. Stunden später betrat jemand das dunkle Zimmer, legte sich neben mich, atmete ruhig, ich schloss die Augen, was wurde eingeläutet und wer hatte damit zu tun.
Zuvor war nichts Besonderes geschehen, sagte der Logistiker, nur dass ich alle Dinge fallen ließ, alles glitt mir aus den Händen zu dieser Zeit und fiel. Ich sah den Dingen zu, wie sie fielen, ruhig stand ich da, während sie sich im Fall von mir entfernten, schließlich aufprallten, ich sagte nie ein Wort. In jenen kurzen Augenblicken wurden mir die Dinge mit zunehmender Entfernung fremd, ich sah nicht mehr die Gabel, das Glas und so weiter als Gabel und als Glas, sondern sah nur etwas vor mir liegen, ein so und so geformtes Objekt, das stand in keinerlei Beziehung zu mir selbst. Ich war darüber nicht beunruhigt, es war mir gleichgültig, dass beispielsweise das Glas auf dem Küchenboden zersprang, und auch das Klirren erschreckte mich nicht, so als hätte ich das Geräusch erwartet oder als hörte ich es nur von sehr fern, als hätte mich die Erzählung von einem solchen Geschehen längst auf alles vorbereitet. Ich schlief kaum mehr, ging unruhig durch die Zimmer, saß in der Küche, ich legte mich hin, war müde, aber schlief nicht ein.
A. L. Erika erhob sich und trat hinter ihren Stuhl, als würde sie einen wichtigen Vortrag beginnen: Wenn ich nachts hin und wieder durch die Stadt ging, sagte sie, dachte ich an die Schlafenden, die tausend, Millionen Schlafenden, die in dunklen Zimmern lagen, still und mit weichen Zügen, wie sie sich bewegten im Schlaf und atmeten, in den Vorstädten, an der Pazifikküste, am Rand der Wüste.
Das Radio, fuhr der Logistiker fort, lief rund um die Uhr, der Nachrichtensprecher sprach von zwölf Kältetoten in Westeuropa, der Himmel war blau, auf dem Alpgebirge lag der ewige Schnee, über die Grenze kamen und gingen die Leute zu dieser Zeit, zu jeder Zeit, es brach ein Tag an vor den Fenstern, dann ging er wiederum zu Ende und alles verdunkelte sich. Nachts machte ich die Lampe an, die neben der Matratze stand, oder ich fand sie brennend vor, ich hatte begonnen zu vergessen, schien die Erinnerung an die vergangenen Tage zu verlieren, sachte entglitt mir vieles, und ich war einverstanden, ich hatte keinen Einwand vorzubringen, stand auf und setzte mich, saß ruhig auf meinem Stuhl, es kümmerte mich nichts auf der Welt.
Die Vorstellung, sagte A. L. Erika, dass sich zu einer Stunde oder der anderen jeder Mensch dem Schlaf hingab, dass der Schlaf allen gleichermaßen und regelmäßig zustieß, beschäftigte mich. Ich ging manchmal durch die Stadt zum Zeitpunkt größter Dunkelheit, und wenn ich mich dann zufällig an einem erhöhten Punkt wiederfand, in Los Feliz, am Fuß der Hügel von West Hollywood, betrachtete ich die leuchtende Stadt, die weiter reichte, als mein eigenes Auge sehen konnte, die Lichter, die immerzu seltsam flimmerten.
Und war die Müdigkeit zu Beginn mit einem großen Flackern noch eingezogen und hatte mir, so rief der Logistiker, hinter den Lidern einen hellen Brand verursacht, so beruhigte sich alles in einem Augenblick und ward still. So saß ich am Fenster, wach, ich tat kein Auge zu. In der Ferne fuhren die Züge aus der Stadt hinaus auf andere Städte zu, kehrten zurück und immer weiter so.
Hin und wieder klingelte das Telefon, und ich hob ab, heiter fast. Manchmal war es meine Schwester, die anrief und fragte, wie es mir gehe, sie bestellte Grüße von ihrem Ehemann, einem Bratschisten aus Rio de Janeiro, dem es gutgehe, so sagte sie jedes Mal, und fügte dann hinzu, er habe aber Schmerzen in den Fingern der linken Hand und klage über die Zugluft im Orchestergraben. Manchmal war der Journalist am Apparat, er sprach von dem Geschehen in der Schweiz, er habe über dieses oder jenes Ereignis nachgedacht, so begann er meist das Gespräch und holte dann aus, er habe sich das so und so gedacht, er sei der Meinung, man müsse jetzt auf diese oder jene Art und Weise darüber schreiben, es sei wichtig, nun dies oder jenes dazu zu sagen und, so schloss er meist das Gespräch, das werde er jetzt tun.
Nach Tagen ohne Schlaf verließ ich dann das Haus, ich trat auf die Straße, das helle Licht schoss mir gewaltig in die Augen, und als ich zurückblickte, sah ich eine Person in meiner Wohnung am Fenster stehen, es schien mir für einen Augenblick, als sähe ich mich selbst im Schlaf, als stünde der eine schlafend am Fenster oder als ginge der andere schlafwandelnd aus dem Haus, aber ich schlief nicht, nein, war wach. Auch jetzt schien es mir, als wären alle Dinge gleichermaßen von mir weggerückt, als geschähe alles zur selben Zeit – die Warnlichter an den Schloten blinkten außer Takt, ein Grenzwächter bewaffnete sich, die Ampel stand auf Rot, eine Passantin näherte sich, einer schob eine singende Säge durchs Holz, einer trieb einen Stift durch einen Balken, um den Turm der Lagerhalle kreiste ein Vogel.
Auch tagsüber, sagte A. L. Erika, sah ich die Schlafenden, sie lagen an den Rändern der Straße, auf Ladeflächen, oder sie saßen auf einer Bank am Pazifik, und sie schliefen. Bei einem Treffen an der Küste hatte der Student aus Glendale unvermittelt zu mir gesagt, er habe manchmal die seltsame Hoffnung, dass sich alles zum Besseren wendete, könnten die Menschen nur ab und zu einen Blick auf die Schlafenden werfen, und er zitierte: Mit offenen Augen neige ich mich über die geschlossenen Augen der Schlafenden, hier die Busfahrerin, die die Linie 2 zuletzt bis zur Küste fuhr, da eine Familie aus Seoul, zwei Studentinnen in einem Zimmer in Echo Park.
Der Schlaf, rief die Schriftstellerin am Kopfende des Tisches, sei eine anthropologische Konstante. Der Student aus Glendale, der neben ihr saß, bemerkte, ihm sei der Fall eines Amerikaners bekannt, der vor gut fünfzig Jahren rund zweihundert Stunden ohne Schlaf zugebracht habe. Am fünften Tag habe der Mann behauptet, er sehe Spinnen, die aus seinen Schuhen kröchen, am achten Tag habe er, obwohl wach, aus medizinischer Sicht alle Merkmale eines Schlafenden aufgewiesen.
Wenn ich das beschreiben müsste, dann ungefähr so, sagte der Logistiker, als hätte ich in einem Fieber die Zeitungen gelesen, und es wäre mir alles direkt in den Kopf gestiegen, als wäre alles Mögliche tatsächlich und vor meinen eigenen Augen geschehen oder als wäre ich in ungeheurem Tempo durch die Welt gegangen und hätte alles mitangesehen. Stellen Sie sich vor, Sie verfolgten das Geschehen allein dieses Landes, der Schweiz, fuhr der Logistiker fort, aus stets unmittelbarer Nähe. Alles kam so daher aus der Welt, ging mir in einem Schwindel durch den Kopf und zog dann von der Stelle, der Lottokönig verlor sein Geld, die warmen Körper der Flüchtlinge wurden im Wald entdeckt, die Bauern kehrten ein, und das Schiff ging leck und brach entzwei. Ich ging vorbei an der Endhaltestelle der Straßenbahn Richtung Stadt, und wie ich mich von der Grenze entfernte und stadteinwärts ging, tauchten an meiner Seite plötzlich Personen auf, sie gingen scheinbar mit mir auf Wanderung, ein Mann mit einer Decke über den Schultern, Frauen mit Gepäck, dazwischen ein Kind, das fragte: Was tun? Wir gingen lange, so schien es mir, über Hügel, über ganze Kontinente gingen wir (und die Ränder der Kontinente reichten ins Meer hinein, und die Pfade lagen scheinbar harmlos da und die Wege verlassen, die Möwen hatten ihre Augen zum Schlaf geschlossen, die Wellen schlugen in der Ferne auf, ein Stück Plastik hatte sich am Straßenrand im Gras verfangen, der Wind trieb sich durch die Nacht) und durch die Zeit, es schien mir, als träumte ich, aber ich schlief nicht, nein, war wach, es brach die weiße Stunde an, und immer rascher gingen wir herum in der Welt, ich war in guter Gesellschaft und ganz heiter gestimmt, es erschien mir alles vor den Augen, die Türen der Züge schlossen sich, ein Pflücker stolperte im Feld, als der Korb erst voll war, ein Redner trat auf, und eine Frau betrat den Untergrund, es wurde Abend im TV, die Entlassenen verließen ihre angestammten Plätze, wir gingen immer weiter, aber vor Einbruch der Nacht gelangten wir wie von Geisterhand von Mulhouse her wieder über die Grenze nach Basel, in der Elsässerstraße war kein Mensch zu sehen, der Grenzübergang lag verlassen da, nur am Fenster der Wohnung stand ich selbst mit weit geöffneten Augen und stumm, als sei mir das letzte Wort im Mund noch vergangen.
Fortunat sagte, der Ort, an den er denke, sei eine Meerenge, er lese dazu bei Bebi Suso, Zitat, Während wir die Meerenge durchquerten,...