E-Book, Deutsch, Band 2, 400 Seiten
Reihe: Shetland-Love-Reihe
Engel Where the Waves Rise Higher
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-492-60001-9
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman | Die rauen Shetlands und ein prickelnder Konkurrenzkampf - deutscher New-Adult-Liebesroman zum Mitfühlen
E-Book, Deutsch, Band 2, 400 Seiten
Reihe: Shetland-Love-Reihe
            ISBN: 978-3-492-60001-9 
            Verlag: Piper Verlag GmbH
            
 Format: EPUB
    Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kathinka Engel kennt die Buchwelt aus verschiedensten Perspektiven: Als leidenschaftliche Leserin studierte sie allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft, arbeitete für eine Literaturagentur, ein Literaturmagazin und als Redakteurin, Übersetzerin und Lektorin für verschiedene Verlage. Wenn sie nicht gerade schreibt oder liest, trifft man sie in Craft-Beer-Kneipen, im Fußballstadion oder als Backpackerin auf der Suche nach dem nächsten Abenteuer. Mit ihrem Debüt »Finde mich. Jetzt« schaffte Kathinka Engel es aus dem Stand auf die SPIEGEL-Bestsellerliste. Bei Instagram teilt sie unter @kathinka.engel ihre Begeisterung für Bücher.
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1
Ich habe einen wiederkehrenden Traum. Darin wate ich ins Wasser, ein Mädchen an der Hand. Manchmal sind es zwei. Und seltener ist es ein Junge. Ich wate einem Ziel entgegen, das ich nicht kenne. Aber ich weiß, ich muss es erreichen. Meine Kleider saugen sich voll Wasser, ziehen schwer an meinem Körper, die kleinen Finger klammern sich fester an mich. Es ist kalt, es ist nass, ich rutsche auf den Steinen aus, fange mich wieder, halte die Hand. Ich darf sie nicht loslassen. Wind zerrt an meinen Haaren, Wellen rollen auf uns zu. Erst sind sie klein und zu bewältigen. Doch je weiter wir waten, desto höher wachsen sie, steigen, schwellen an. Sie reichen mir bis zur Hüfte, dann bis zur Brust, bis zu den Schultern. Das Mädchen neben mir schluckt Wasser, ich muss schneller sein. Muss schneller waten, sie in Sicherheit bringen. Doch der Widerstand des Wassers ist groß, zu groß. In der Ferne sehe ich ein Ruderboot. Ein Mann sitzt darin, und ich will schreien, winke ihm hektisch. Aber er hört mich nicht, weil ich keinen Laut von mir gebe. Wenn ich genauer hinsehe, kann ich erkennen, dass es mein Vater ist, doch er rudert nicht einmal, sondern ergibt sich vollkommen den Fluten. Wieder versuche ich zu schreien, wieder ist kein Laut zu hören. Das Wasser steht mir bis zum Hals, Wellen schwappen in meinen geöffneten Mund, schwappen über mich, hohe Wellen, mächtige Wellen. Sie sind mächtiger als ich, und ich habe ihnen nichts entgegenzusetzen. In dem Moment, da die nächste Woge mich und das Mädchen an meiner Hand unter Wasser drückt, hinunterzieht, bis auf den Meeresgrund, erwache ich.
Früher war ich jedes Mal schweißgebadet, hatte das Gefühl zu ersticken, keuchte nach Luft. Inzwischen ist der Traum Gewohnheit. Noch während ich schlafe, weiß ich, dass ich träume, und wenn es mir zu viel wird, zwinge ich mich, aufzuwachen. Das funktioniert meistens. Weil es eben nur ein Traum ist.
In der Realität lassen sich Probleme leider nicht so einfach lösen. Obwohl mir auch in wachem Zustand das Wasser bis zum Hals steht. Geldprobleme, Übermüdung (aufgrund einer unnachahmlichen Mischung aus zu wenig Schlaf dank wiederkehrender Träume und Überarbeitung), ellenlange To-do-Listen.
Neben kleinen Aufgaben wie »Medikamente für Mrs Henderson abholen« und »Marigold Whiskynachschub bringen« steht seit einigen Tagen »Vorbereitung Banktermin« auf meiner Liste. Denn ich brauche für meine Mikro-Destillerie Golden Plover Whisky dringend einen kleinen Kredit. Unsere Abfüllanlage ist kurz davor, endgültig den Geist aufzugeben, ich schulde Henry, meinem einzigen Mitarbeiter und besten Freund seit der ersten Klasse, ein Monatsgehalt (und mir selbst mindestens drei) und eine längst überfällige Gehaltserhöhung. Außerdem will ich in neue innovative Finishing-Fässer investieren. Seit über einem Jahr suche ich nach den perfekten Fässern. Jetzt habe ich sie gefunden, kann sie mir aber nicht leisten. Und dann ist da noch die ungeplante Ausgabe für die Whiskymesse, an der wir aufgrund einer Unüberlegtheit meinerseits teilnehmen müssen. Normalerweise treffe ich überlegte Entscheidungen. Aber wenn Boyd Tulloch, Erbe und Geschäftsführer der größten Destillerie der Shetlands und meine Nemesis, seit ich vor Jahren ein Praktikum bei der Tulloch Distillery absolviert habe, in der Nähe ist, lasse ich mich zu leicht provozieren.
»Verflucht noch mal, du Mistding, jetzt geh endlich an!« Henry kniet mit einem Schraubenzieher in der Hand neben unserer Abfüllanlage und versucht seit geschlagenen zwei Stunden, sie wieder zum Laufen zu bringen. Ich sitze am Schreibtisch neben der Küchennische und starre auf meinen Bildschirm. Auf die Verläufe unserer Finanzen. Einnahmen, Ausgaben. Zwei Ordner mit den Unterlagen liegen aufgeschlagen daneben.
Bis vor anderthalb Jahren hatte ich das Glück, von einer staatlichen Förderung für junge Unternehmerinnen zu profitieren. Die Kurve ging stetig bergauf. Doch leider zu langsam, sodass wir seit einiger Zeit keine schwarzen Zahlen mehr schreiben. Aber die Differenz wird geringer – wiederum stetig, wiederum zu langsam.
Ich seufze, nehme einen Schluck von meinem inzwischen lauwarmen Schwarztee. Ich hasse Finanzen. Hasse Excel. Hasse Kurven, vor allem, wenn sie so flach sind wie diese hier. Deswegen öffne ich die Website mit den Fässern. Fünf verschiedene Holzarten – vier Eichenarten und Kastanie. Jahrzehntelang wurde Mezcal in ihnen gelagert. An solche speziellen Fässer zu kommen, ist schwierig, aber Henry und ich würden gern ein Experiment mit schnell gemaischtem, dreifach destilliertem Whisky wagen. Mit einer sehr kurzen Gärung wollen wir so einen Whisky kreieren, der über drei Jahre die Würze der Sherry- und Bourbon-Fässer mit starkem Malzcharakter verbindet und durch den kurzen Maischprozess die Getreidenoten behält. Das Finishing in diesen Fässern würde dem Whisky in unserer Vorstellung die perfekte Rauchnote verpassen.
»Schaust du dir schon wieder die fancy Fässer an?« Henry kennt mich einfach zu gut.
»Sie sind jedenfalls noch da. Aber der Preis leider auch … Was wärst du bereit zu zahlen?« Ich bin zwar die Geschäftsführerin von Golden Plover, sehe Henry aber als vollkommen gleichberechtigt an. Golden Plover, das sind er und ich. Henry und Nessa. H + N, so wie ich es uns in der ersten Klasse mit schwarzem Filzschreiber auf den Arm malte, als wir endlich beide Buchstaben gelernt hatten. Jede Entscheidung treffen wir gemeinsam. Ein paarmal wollte ich ihn schon überreden, Teilhaber zu werden, doch bislang hat er immer abgelehnt.
»Mehr als dreihundert pro Fass ist Wahnsinn«, sagt Henry, und ich gebe ihm recht. Allerdings könnten wir uns im Moment nicht einmal das leisten, geschweige denn den Wucherpreis von fünfhundert Euro, den Ariel82, der Verkäufer auf der Plattform, dafür haben will. Das absolute Maximum sind eigentlich tausend für alle vier Fässer, obwohl sich die Investition sicher lohnen würde. Nur eben erst in drei Jahren, wenn der Whisky fertig ist. Bei Whisky braucht man einen langen Atem, sowohl finanziell als auch geduldsmäßig. Letzteren habe ich. Ersterer fehlt, seit unsere Nachwuchsförderung ausgelaufen ist.
»Aber du willst diese Fässer, oder? Vielleicht solltest du sie einfach kaufen.«
»Ich will sie dringend, weil ich glaube, dass der Whisky spektakulär wird. Aber ohne den Kredit wird das nichts.«
»Hoffen wir, dass sie nach dem Termin mit der Bank noch da sind«, sagt Henry und schlägt einmal fest mit der Faust gegen die Abfüllanlage, die daraufhin sofort anfängt zu rumpeln. »Ernsthaft?«, fragt er. »Stundenlang versuche ich es mit Liebe, aber ein einziger Faustschlag genügt, um sie wieder zum Laufen zu bringen?«
Ich lache. Aber innerlich bin ich einfach nur erleichtert, dass Henry jetzt weiter abfüllen kann. Denn ohne Abfüllanlage keine abgefüllten Flaschen. Und ohne abgefüllte Flaschen keine Verkäufe. Und ohne Verkäufe kein Kredit und ohne Kredit keine neue Abfüllanlage. Keine Fässer. Ein weiterer Monat ohne Gehalt. Ich muss diesen Kreislauf durchbrechen. Für unseren Traum, die schottische Whiskylandschaft mit unseren Kreationen zu bereichern. Sie bunter zu machen, vielfältiger, mutiger. Die Innovationen in den letzten Jahren kamen aus den USA, aus Japan, aus der ganzen Welt. Aber hier, wo der Whisky seinen Ursprung hat, haben es kleine Destillerien wie meine schwer. Mit neuem Elan wende ich mich wieder Excel zu.
Glücklicherweise habe ich Erfahrung mit schwierigen Situationen dieser Art, weil ich mich seit meinem fünfzehnten Lebensjahr um die Finanzen der Familie kümmere. Fiona war damals elf, Effie neun und unsere Mutter seit ebenso vielen Jahren verstorben – und unser Dad versuchte, seinen Kummer im Pub hinunterzuschlucken.
Während Henry Flaschen abfüllt und etikettiert, suche ich die letzten Jahre meiner peniblen Buchführung zusammen und erstelle eine Bestandsaufnahme der Ist-Situation der Destillerie. Dann wage ich mich an eine Prognose. Eine optimistische Prognose, denn Henry hat vor Kurzem eine kleine Getränkemarktkette in Nordschottland überzeugt, unseren Whisky ins Sortiment aufzunehmen. Ich setze Zahlen ein, lasse Excel kalkulieren, korrigiere, setze optimistischere Zahlen ein, bin immer noch nicht zufrieden. Ich kratze an der Grenze des Realistischen, aber jetzt sieht die Prognose deutlich besser aus. Deutlich kreditwürdiger. Einige Schönheitskorrekturen werde ich noch durchführen müssen, aber für ein paar Stunden Arbeit bin...




