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E-Book

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Enright Rosaleens Fest

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-641-17353-1
Verlag: DVA
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

ISBN: 978-3-641-17353-1
Verlag: DVA
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Rosaleen ist eine Frau, die nichts tut und von den anderen alles erwartet. Sie ist Mitte siebzig, die vier Kinder sind schon lange aus dem Haus. Die Brüder Dan und Emmett sind vor der Enge der irischen Heimat in die Ferne geflohen; das Nesthäkchen Hanna wollte auf den Theaterbühnen der Welt reüssieren, spricht aber nun dem Alkohol zu, und Constance, die Älteste, hat sich selbst verloren. Doch abgenabelt hat sich keines der Kinder. Noch immer versucht jedes auf seine Weise, es dieser besten aller Mütter recht zu machen. Und scheitert.

Da kommt die Einladung zu einem letzten Weihnachtsfest in Ardeevin. Rosaleen möchte das Haus, in dem die Kinder groß geworden sind, das voller Erinnerungen an glückliche Momente und Verletzungen steckt, verkaufen. Die Geschwister reisen mit diffuser Hoffnung auf Versöhnung an – und doch endet es, wie noch jedes Weihnachten geendet hat.

Booker-Preisträgerin Anne Enright wagt sich auf den dunklen Grund unserer Gefühle, studiert menschliches Verhalten dort, wo es am störanfälligsten ist, wo Liebe und Hass nahe beieinander liegen und es kein oder zumindest kein einfaches Entrinnen gibt: in der Familie.

Anne Enright, 1962 in Dublin geboren, zählt zu den bedeutendsten englischsprachigen Schriftstellerinnen der Gegenwart und wurde 2015 zur ersten Laureate for Irish Fiction ernannt. »Das Familientreffen« (2007) wurde unter anderem mit dem renommierten Booker-Preis ausgezeichnet, ist in gut dreißig Sprachen übersetzt und weltweit ein Bestseller. Für »Anatomie einer Affäre« (2011) erhielt sie die Andrew Carnegie Medal for Excellence in Fiction, für »Rosaleens Fest« (2015) den Irish Novel of the Year Prize. »Vogelkind«, ihr achter Roman, stand auf der Shortlist des Women's Prize for Fiction und errang den Writers' Prize for Fiction 2024.

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DAN

New York

1991

Wir alle dachten, Billy sei bei Greg, doch in Wahrheit waren die beiden schon vor Monaten getrennte Wege gegangen – falls sie denn jemals zusammen gewesen waren. Es war schwer, die Dinge zu benennen, damals im East Village, als alle im Sterben lagen oder Angst vor dem Sterben hatten und so viele bereits dahin waren – wir blätterten die Seiten unserer Adressbücher durch, und in unseren Träumen wurden wir von den angenehmen und unnachahmlichen Gesichtern der Toten überrascht.

Falls die Frage jedoch lautete, ob Billy noch immer mit Gregory Savalas schlief, so wurde die Antwort gegeben, dass sie kaum je miteinander geschlafen hätten. Billy war ein blonder, eher stämmiger Junge, der zwischen Schlägertyp und Engel changierte, sodass arme Schweine vor seiner Tür Schlange standen, die Hälfte von ihnen verheiratet, die meisten von ihnen Anzugträger. Aber Billy hasste es, sich nicht zu seinem Schwulsein zu bekennen. Was Billy wollte, war starker, lauter, angstfreier Sex mit jemandem, der nicht weinte oder sich kompliziert anstellte oder nach Orangensaft und Croissant noch lange herumlungerte. Billy hatte seine Hemmungen überwunden und sich fröhlich geoutet, und er wollte Männer, die im Wesentlichen so wie er waren: süße Typen, die Gewichte hoben, wild fickten und dir auf die Schulter klopften, wenn es Zeit war, die Position zu wechseln. Er wollte nicht jemanden wie Greg – geschüttelt von Todesangst, neurotisch, gehemmt. Im East Village gab es in jenen Monaten und Jahren eine Menge neurotischer Typen, einer Menge herrlicher Typen, und jetzt sind auch all ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten dahin.

Greg war die Sorte Mann, der im Badezimmerschränkchen einen Handspiegel verwahrte, um seine Rückenhaut nach Flecken und Läsionen absuchen zu können, und diesen Handspiegel benutzte er ein Mal, zwei Mal, sechs Mal am Tag. Bei zwei Gelegenheiten verließ er kurz vor einer Verabredung zum Mittagessen zwanghaft das Restaurant, rannte zurück zu seinem Arbeitsplatz und schloss sich in der Toilette ein, um sich auszuziehen und sich zu untersuchen, sich dann wieder anzuziehen und fünf Häuserblocks weit zu rennen, damit er rechtzeitig wieder an seinem Tisch eintraf. Dann drückte er sich mit einem Lächeln auf die Sitzbank, während der prickelnde Schweiß auf seinem Rücken zum Juckreiz des Krebses wurde, der unter der Haut wucherte.

Von all den Anzeichen waren uns die braunbläulichen Flecken des Kaposi-Sarkoms am verhasstesten, denn dann bestand kein Zweifel mehr, und wenn du in der U-Bahn sitzt und die erstbeste Mutter ihr Kind vom Nebensitz reißt, verlässt du das Haus nicht mehr gern. Auch Sex ist nur noch schwer zu finden. Selbst eine Umarmung ist eine komplizierte Angelegenheit, wenn du vom Tod gezeichnet bist. Und die Leute, die jetzt noch mit dir schlafen wollen – was für Leute sind das?

Als wir erkrankten, wollten wir nicht geliebt werden, denn das wäre unerträglich gewesen, und Liebe war alles, wonach wir in unseren letzten Tagen suchten.

So lächelt und schwitzt sich Gregory Savalas, Kunstgauner, Händler, Testamentsvollstrecker, durch zwei Menügänge und Kaffee, und wenn er wieder in seiner winzigen Galerie im Süden von Manhattan sitzt und nichts Neues hereinkommt – außer den eingebildeten Läsionen auf seinem Rücken –, nimmt er den Hörer zur Hand und wählt eine Nummer.

Meist sind die Leute, die zu Hause sind, ebenfalls krank, und die Leute, die nicht krank sind, mögen es nicht, wenn man sie während der Arbeitszeit anruft, denn es handelt sich um lange und ziellose Anrufe voller Andeutungen und Schweigepausen; und es fällt einem schwer, Gregs spürbare Anspannung zu verkraften, die einem durch die Leitung entgegenschlägt. Früher rief Greg Max an, der den ganzen Tag in seinem Atelier arbeitete, aber Max war immer so arrogant, und dann starb er. Früher rief Greg eine Menge Leute an. Seine Freundin Jessie hat mit Verlustangst – oder was immer es ist – zu kämpfen, inzwischen ist sie völlig übergeschnappt, also ruft Greg Billy an, denn auch wenn Billy ein bisschen zu normal ist, manchmal braucht man eben was Normales.

»Grafik.«

»Hallo, Kabinenmann.«

»So wahr ich lebe und atme.«

Und Greg legt los. Zuerst erzählt er Billy, Massimo habe den Nachmittag im Oscar verbracht und über die Beleuchtung für seine Herbstausstellung geredet, und da sei diese Frau hereingekommen mit vierhundert Einkaufstüten und einem Jungen, der sie alle trug. Stellt sich raus, sie ist die Maharani von Jaipur, also so in etwa die Jackie O von ganz Indien, und sie hat ’n Smaragd auf der Brust, größer als dein linkes Auge. Der Tütenjunge ist, wie sich rausstellt, ’n richtiger Fürst – ’n Turban mit ’ner Feder vorn –, und Massimo hat ihn für sein Abendessen am Donnerstagabend eingetütet. Greg sagt, er hat angeboten, ein Risotto zuzubereiten, kann aber das Rezept vom letzten Mal, das allen so geschmeckt hat, nicht wiederfinden, das mit Rotwein. Er sagt, seine Mutter hat aus Tampa angerufen, sie hat ein Ohrringe-plus-Trainingsanzug-Dilemma, seinen Vater hat sie nicht erwähnt, mit keinem Wort. Und nachdem er sie darauf hingewiesen hat, hat sie gesagt: »Himmelherrgott, Gregory!«

Das alles ist gefährliches Gerede. Wörter wie »Risotto« zerren an Billy, als wäre er wieder in seinem Kinderschlafzimmer im Elk County, Pennsylvania. Ein Wort wie »Risotto« beinhaltet Jahre der Einsamkeit. Heute arbeitet Billy an den Nachrichten; auf seiner Quantel-Paintbox schreibt er: »New Yorker Brandmeister warnt vor Brandgefahr bei Matratzen.« Er überlegt hin und her und hantiert mit seinem Eingabestift, bis die Wirkung des Risottos nachlässt, derweil Greg redet und redet und nicht zu Potte kommt. Schließlich, nach einer kurzen Pause, rückt Billy mit seiner Frage heraus: »Und wie geht’s dir?«

Und Greg sagt: »Ich hab ’ne Art Schmerz in der Lunge.«

»Oh?«

»Nur beim Einatmen, weißt du.«

»Okay.«

»Wie Seitenstechen.«

»Vielleicht ist es ja Seitenstechen«, sagt Billy. Er weiß, dass er das Falsche sagt und doch das einzig Mögliche, und er wartet darauf, dass Greg das Schweigen so weit entwirrt, dass er antworten kann.

»Mag sein.«

Das Gespräch mit einem sterbenden Mann kann man nicht beenden, indem man einfach den Hörer auflegt, doch damals in New York legten wir alle den Hörer auf, behutsam, wir wollten uns aus der Situation herausretten.

»Vielleicht solltest du dich röntgen lassen?«

Wir ließen einander in den verschiedenen Zimmern und Betten zurück, in denen wir sterben würden – aber noch nicht gleich. Nicht, bevor wir den Hörer auflegten. Denn niemand starb jemals am Telefon.

»Vielleicht. Es ist nur so eine Art Räuspern. So wie … da.«

»Da?«

»Wahrscheinlich kannst du’s nicht hören – da! – hörst du das? Am Telefon kannst du’s wahrscheinlich nicht hören.«

»Möchtest du, dass ich vorbeikomme?«, fragt Billy. Und weil Greg in letzter Zeit so schwierig ist, fügt er hinzu: »Heute Abend nicht. Ich bin wirklich im Rückstand. Möchtest du, dass wir zusammen ausgehen?«

»Ich kann nicht ausgehen.«

Natürlich kann er nicht ausgehen, Greg hat sein gutes Aussehen eingebüßt. Wie kann Billy ihn nur fragen, ob er mit ihm ausgehen will?

»Also gut. Ich komme vorbei.«

Als er neunzehn Jahre alt war, frisch aus New Jersey, hatte sich Gregory Savalas in einen Galeristen namens Christian verliebt, dessen Augen die Farbe von Eis hatten, wenn es blau ist. Christian war ein Däne, der sich, sobald man sich testen lassen konnte, einem Test unterzog. Danach versuchte er immer wieder, sich umzubringen, auf bedächtige, sehr dänische Art. Greg wusste nie, was er vorfinden würde, wenn er die Tür zum Apartment öffnete. Überall Blut – Christian, der im Badewasser verblutet, Christian, der auf den brasilianischen Leinenlaken verblutet, Christian, der zitternd auf dem Bett liegt, der Fußboden unter ihm mit leeren Paracetamol-Fläschchen übersät, auf dem Kinn glänzendes Gallensekret. Ironischerweise brauchte es eine Ewigkeit, bis er an der Krankheit selbst starb. Lange siechte er dahin. Wenn Greg ihn badete, zitterte er unter dem Schwamm, und seine Augen waren völlig verrückte Blausplitter.

Sie waren im St Vincent’s Hospital, im siebten Stock, das Personal trug Raumanzüge, und aus Christian ragten sechs Schläuche, als endlich seine Mutter auftauchte, natürlich attraktiv, das blonde Haar ins Silberne schimmernd. Sie eilte auf ihren kaum mehr wiederzuerkennenden Sohn zu und beugte sich über sein Krankenhausbett.

»Hey.«

Sie schauten einander an, ein Blick von Eis zu Eis, und flüsterten miteinander auf Dänisch, und da geschah etwas mit Christian. Er wurde wieder Mensch. Er wurde rein. Drei Tage lang blickten sie einander tief in die Augen, dann starb er.

Wie alle anderen auch vermochte Greg durchaus einen Moment der Gnade zu erkennen, aber er glaubte noch immer, dass der Tod eine große Überraschung war – das schrecklichste Verhängnis überhaupt. Jenseits aller Vorstellungskraft. Christian war tot, und der Anblick der Lebenden erfüllte Greg mit Verachtung. Es war 1986, der Schrecken allgegenwärtig: Wenn Nachbarn den Fahrstuhlknopf drücken wollten, benutzten sie Papiertaschentücher, und wildfremde Leute riefen: »Hoffentlich verreckst du bald, du Schwuchtel!«, wenn sie dir auf der Straße begegneten. Greg konnte sich nur mit Mühe an seinen Lover als Person erinnern. Er dachte oft an den Sex, den sie miteinander gehabt hatten, an all das Blut, das er aufgewischt und das er berührt hatte, dabei hatte es Ewigkeiten gedauert,...


Enright, Anne
Anne Enright, 1962 in Dublin geboren, zählt zu den bedeutendsten englischsprachigen Schriftstellerinnen der Gegenwart und wurde 2015 zur ersten Laureate for Irish Fiction ernannt. »Das Familientreffen« (2007) wurde unter anderem mit dem renommierten Booker-Preis ausgezeichnet, ist in gut dreißig Sprachen übersetzt und weltweit ein Bestseller. Für »Anatomie einer Affäre« (2011) erhielt sie die Andrew Carnegie Medal for Excellence in Fiction, für »Rosaleens Fest« (2015) den Irish Novel of the Year Prize. »Vogelkind«, ihr achter Roman, stand auf der Shortlist des Women's Prize for Fiction und errang den Writers' Prize for Fiction 2024.



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