E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Eui-kyung Hello Baby
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8412-3777-4
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-8412-3777-4
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sechs Frauen, ein Kampf: Der große Roman aus Südkorea über den sozialen Druck, der auf Frauen lastet, Mütter zu werden.
Munjeong und ihre fünf Mitstreiterinnen lernen sich in der Baby-Angel-Fruchtbarkeitsklinik in Seoul kennen. Sie alle sind getrieben von dem Wunsch nach einem Baby, der sich auf natürliche Art nicht erfüllen will. 'Hello Baby' heißt der Gruppenchat, in dem sie sich gegenseitig beistehen. Bis eine von ihnen, die 46-jährige Jeonghyo, plötzlich offline geht und spurlos verschwindet. Ein Jahr später taucht sie auf mysteriöse Weise mit einem Baby wieder auf ...
Sechs unfruchtbare Frauen finden sich im blinden Fleck der Gesellschaft wieder, ihr Kampf schweißt sie in einer Freundschaft wider Willen zusammen. Ein bewegendes Porträt darüber, was es bedeutet, heute Frau zu sein und sich Erwartungen in patriarchalen Gesellschaften zu widersetzen.
Kim Eui-kyung, geboren 1978 in Südkorea, ist Romanautorin und Essayistin. Sie gewann den Korea Economic Daily Youth Literary Contest und den Soorim Literary Prize. 'Hello Baby' ist ihr dritter Roman, der in Südkorea zu einem großen Erfolg wurde und international in sieben Sprachen übersetzt wird. Inwon Park, Übersetzerin u. a. von Cho Nam-Joos 'Miss Kim weiß Bescheid', Ae-ran Kims Erzählband 'Lauf, Vater, lauf' und Young-Ha Kims Roman 'Aufzeichnungen eines Serienmörders', ist Associate Professor für Germanistik an der Ewha-Frauenuniversität in Seoul.
Weitere Infos & Material
Munjeong Kang
44 Jahre alt
Es war 8.30 Uhr am Morgen. Munjeong führte am Eingang das Infrarot-Fieberthermometer an ihre Stirn, um ihre Körpertemperatur zu messen, rieb sich mit dem Desinfektionsgel die Hände ein und betrat die Klinik. Für einen Moment hielt sie inne und gönnte sich eine Verschnaufpause. An der Patientenaufnahme war eine Mitarbeiterin gerade dabei, mit der Linken den Barcode-Sticker eines Besuchers zu scannen und gleichzeitig mit der Rechten einen Anruf entgegenzunehmen. Hinter der Empfangstheke ihr gegenüber bereiteten sich weitere Angestellte auf den Beginn ihres Arbeitstages vor. Einige machten Gymnastikübungen im Sitzen, andere waren mit ihren Smartphones beschäftigt. Eine Krankenschwester in blauer Arbeitskleidung ließ einen flüchtigen Blick über den Wartebereich schweifen, der sich allmählich füllte, und verschwand im Injektionsraum. Munjeong atmete tief durch und stieg dann zur IVF-Abteilung ins erste Untergeschoss hinunter.
Ihr Mann war bereits eine Stunde vor ihr für die Samenprobe hier gewesen und gleich danach ins Atelier gefahren. Hätte er nicht an ihrer Seite bleiben und ihr die Hand halten können? Sicher, es handelte sich hier um eine In-Vitro-Fertilisation, aber Munjeong gefiel es nicht, dass ihre Behandlungen getrennt voneinander abliefen. Ihr Mann war bei der letzten erfolglosen IVF-Runde einem Bekannten begegnet, und seitdem wollte er sie nur noch in die Klink begleiten, wenn seine Anwesenheit unbedingt erforderlich war. Als er das letzte Mal nach verrichteter Mission aus dem Raum getreten war, sei ihm einer der wartenden Männer irgendwie bekannt vorgekommen. Er sei seinem Blick ausgewichen und fluchtartig im Toilettenraum verschwunden. Und trotz Mundschutz habe Munjeongs Mann eindeutig seinen ehemaligen Kommilitonen wiedererkannt, an dessen Augen, und hatte dann, ohne sich noch einmal umzudrehen, sofort die Klinik verlassen. Die Frage, warum er ausgerechnet an diesem Ort einem Kommilitonen begegnen musste, sei ihm nicht aus dem Kopf gegangen.
War das Nachlassen sexueller Reproduktionsfähigkeit wirklich etwas, wofür Männer sich schämen mussten? Warum dachten sie in dem erhabenen Moment, in dem neues Leben erschaffen wurde, an so etwas wie ihr Ansehen? Zugegeben, auch unter Frauen verheimlichten viele ihre Behandlung in einer Kinderwunschklinik, aber nicht aus Scham, sondern weil sie befürchteten, ihnen könnten aufgrund ihrer Familienplanung Aufgaben und Verantwortung im Job entzogen werden. Sollte sie schwanger werden, war Munjeong fest entschlossen, bis kurz vor der Entbindung zu arbeiten. In den letzten Wochen vor der Geburt würde sie selbstbewusst ihren Bauch vorzeigen, während sie Frauen aus den verschiedensten Berufen interviewte. Momentan war Munjeong nämlich für ein Projekt zuständig, das Einblicke in die Privatleben von Spitzenverdienerinnen verschaffen sollte. Es ging darum, neben der Arbeit auch andere Lebensbereiche in den Blick zu nehmen, wie etwa Hobbys, Reisen und vieles mehr. Und da immer mehr Frauen sich gegen die Ehe entschieden oder keinen Kinderwunsch hegten, ergaben sich sehr abwechslungsreiche Porträts. Erst vor Kurzem hatte Munjeong ein Gespräch mit einer ehemaligen Volleyballspielerin geführt, die mit drei großen Hunden in einer Villa lebte. In ihrem Ruhestand setzte sie sich aktiv für den Tierschutz ein, etwa mit Geldspenden und Freiwilligenarbeit in Tierheimen. So banale Themen wie Konflikte mit den Schwiegereltern kamen überhaupt nicht zur Sprache, was Munjeong als Anzeichen für einen gesellschaftlichen Wandel deutete und was sie während des Interviews mit leiser Euphorie erfüllt hatte. Ihr war auch der Gedanke gekommen, dass Heirat und Kinder womöglich die größten Hindernisse für weiblichen Erfolg darstellten. Und nun fand ausgerechnet Munjeong selbst sich bei Baby Angel wieder, der größten koreanischen IVF-Klinik und einer der Top-3-Einrichtungen weltweit.
In-Vitro-Fertilisation, die man früher nur aus der Science-Fiction kannte, hatte sich inzwischen zu einer gängigen Behandlungsmethode bei Unfruchtbarkeit entwickelt. Die Baby Angel-Klinik war heillos überfüllt mit Patientinnen, die sich unbedingt jetzt, während der COVID-Pandemie, einer Therapie unterziehen wollten. Und anscheinend genoss die Behandlung hier ein so hohes Ansehen, dass ein regelrechter IVF-Tourismus internationale Reisende nach Korea zog.
Im Jahr 1978, Munjeongs Geburtsjahr, war das erste Retortenbaby namens Louise Brown in England zur Welt gekommen. Berichten zufolge war sie nach ihrer Heirat auf natürlichem Wege schwanger geworden und hatte zwei Söhne auf die Welt gebracht. Bei Munjeong war es nun genau andersherum, sie war auf natürliche Weise gezeugt worden und unterzog sich nun einer IVF-Therapie. Als Louise Brown geboren wurde, hatte der Papst dies als einen Verstoß gegen die göttliche Ordnung verurteilt, und in den Medien wurde die Befruchtung im Reagenzglas als »die größte Bedrohung seit der Atombombe« bezeichnet. Der Journalist, der unter diesem Aufhänger einen aufgebrachten Artikel verfasst hatte, hatte nicht vorhersehen können, dass später weltweit acht Millionen Kinder durch IVF geboren werden sollten und in Korea, einem Fortschrittsland der Medizin, eine Spezialklinik dafür entstehen würde. Wer weiß, vielleicht war sogar die Tochter des Journalisten gerade in einer Kinderwunschklinik in Behandlung.
Nachdem Munjeong sich untenrum frei gemacht hatte und in den Patientenkittel geschlüpft war, trat sie aus dem Umkleideraum. Die Krankenschwester setzte ihr eine Netzhaube auf, kontrollierte ihren Blutdruck und legte ihr ein Armband mit einem QR-Code und den Namen der beiden Eheleute um das Handgelenk. Munjeong musste an die Einlassbänder von Freizeitparks denken, wie sie sie als Kind getragen hatte, und legte sich auf die Liege im Wartezimmer. Würde sie ihr eigenes Baby bald kennenlernen, jetzt, da sie eine Tageskarte für diese spezielle Art von Freizeitpark inklusive aller Attraktionen hatte? Sie schrieb ihrem Mann eine SMS:
—Ich habe Angst vor der Narkose.
—Das machst du doch nicht zum ersten Mal.
—Aber wenn die Betäubung nachlässt, tut es höllisch weh. Davor habe ich Angst.
In Wirklichkeit war die Entnahme der Eizellen nicht ganz so schmerzhaft, wie oft behauptet wurde. Es fühlte sich nicht schlimmer an als das Ziehen im Unterleib während einer starken Menstruation. Im Vergleich zu anderen Frauen war die Behandlung bei Munjeong aber auch weniger qualvoll, weil man ihr aufgrund von nachlassender Eierstockaktivität nur bis zu sechs Eizellen entnehmen konnte. Doch dieses Mal hatte Munjeong sich fest vorgenommen, wehleidig zu sein. Bei einer IVF-Behandlung fokussierte man sich ungerechterweise vor allem auf die Frau. Während sie allerlei Spritzen, die Eizellentnahme und den Embryotransfer über sich ergehen lassen musste, bestand die Aufgabe des Mannes lediglich darin, am Tag der Samenentnahme einmal kurz in der Klinik zu erscheinen und sein Ejakulat in ein kleines Fläschchen zu füllen. Anders als die schmerzhafte Eizellentnahme war die Samengewinnung auch noch mit Lust verbunden. Und da sie außerdem so unkompliziert war, schien Munjeongs Mann nicht so deprimiert zu sein wie sie, wenn die Befruchtung im Labor misslang. Was für eine Ungerechtigkeit.
»Wachen Sie auf, Frau Seonyeong Kim. Frau Seonyeong Kim!«
Anscheinend wollte die Frau neben Munjeong nicht aus der Narkose aufwachen. Die Krankenschwester schlug ihr leicht auf die Wange und rief dabei ihren Namen. Auch wenn Munjeong die Frau nicht kannte, wünschte sie Seonyeong Kim, dass sie schnell wieder zu sich kam.
Als Munjeong von der Toilette zurückkam, warf sie einen Blick durch den offenen Spalt des Vorhangs auf das Nachbarbett. Seonyeong Kim war wohl endlich aufgewacht, denn sie stöhnte leise. Obwohl Munjeong sonst nicht so leicht aus der Fassung zu bringen war, packte sie plötzlich die Angst vor der Eizellentnahme. Nicht vor den Schmerzen, sondern vor der quälenden Hoffnung. Vor der Vollnarkose fürchtete sie sich zwar auch ein wenig, aber mehr noch davor, diese...