E-Book, Deutsch, 760 Seiten
Fallois Der Brief der Magdalena
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-95890-240-4
Verlag: Europa Verlage
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 760 Seiten
            ISBN: 978-3-95890-240-4 
            Verlag: Europa Verlage
            
 Format: EPUB
    Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Isabelle von Fallois wurde in München geboren, wuchs in einem künstlerischen Haus auf und wollte von Kindesbeinen an Pianistin werden. Sie studierte das Konzertfach Klavier und war im Anschluss daran Schülerin des Pianisten Arnaldo Cohen sowie des Dirigenten Maestro Sergiu Celibidache. In dieser Zeit arbeitete sie auch mit Sängern und Tänzern aus der Welt des klassischen Ballett sowie des Flamenco zusammen. Eine lebensbedrohliche Leukämieerkrankung führte Isabelle von Fallois dazu, sich intensiv mit übersinnlichen Phänomenen auseinanderzusetzen. Sie schrieb vier Bücher, darunter den Bestseller 'Die heilende Kraft deiner Engel', der in viele Sprachen übersetzt wurde. Dies ist ihr erster Roman.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Marie
Paris, 27. auf den 28. August 2013
Ein sommerlicher Gewitterregen prasselte auf das Dach von Maries Wohnung im obersten Stockwerk, und sie hoffte, dass die alten Fenster des leicht heruntergekommenen Hauses dicht hielten. Als sie am Montmartre dieses gemütliche Appartement entdeckt und gemietet hatte, waren ihr solche Überlegungen vollkommen fremd gewesen. An Schlaf war vorerst nicht zu denken. Marie war indes nicht nur traurig. Seit ihrer Kindheit quälten sie Albträume, die seit der Ermordung ihres Vaters wenige Wochen zuvor schlimmer geworden waren.
Eingehüllt in den viel zu großen blauen Samtbademantel ihres Vaters, beschloss Marie, sich einen japanischen Tee zu kochen, ihre Lieblingsmethode, um dem Grauen der Träume zu entkommen. Sie hätte niemandem eingestanden, dass sie kaum noch wusste, wer sie war. Was war nur aus ihr geworden? Wohin war die erfolgreiche junge Kunstprofessorin verschwunden, die noch vor zwei Monaten einen internationalen Preis erhalten hatte? Konnten sie und diese selbstbewusste Frau ein und dieselbe Person sein?
Marie wagte es nicht einmal, sich ihrer besten Freundin Véronique anzuvertrauen. Während der Kessel beruhigend summte, setzte sie sich auf die Bank am Küchentisch, zog die Knie an die Brust, barg den Kopf in den Armen und ließ den Tränen freien Lauf. Erst als das Pfeifen des Teekessels sie wieder in die Realität zurückbrachte, gab Marie sich einen Ruck und brachte ihn zum Schweigen. Wenn doch nur die Stimmen in ihrem Kopf genauso leicht zum Verstummen gebracht werden könnten. Gedankenverloren starrte sie auf das Foto ihres Vaters, das ihr auf dem Küchentisch Gesellschaft leistete. Damals in seinen besten Jahren war sein volles dunkles Haar nur von wenigen silbernen Fäden durchzogen gewesen, und seine stahlblauen Augen schienen sie gleichzeitig liebevoll und wissend anzusehen. Ihr Vater war ihr so nah und doch so ein Rätsel gewesen. Warum nur hatte er, der immer auf alles eine Antwort wusste, sich nur geweigert, sie zu unterrichten. Warum war ihr der Zugang zu den höheren Mächten verwehrt geblieben? War es wirklich so schlimm, dass sie auf Wissenschaft und Forschung vertraut hatte statt auf seine spirituellen Halbwahrheiten?
Wie oft sie sich seinetwegen geschämt hatte! Aber wie hätte sie verstehen sollen, dass ein derart erfolgreicher Musiker und weltberühmter Dirigent zuweilen solchen Nonsens von sich gab. Dabei wirkte ihr Vater stets so gleichmütig, auf sie hatte das fast provozierend gewirkt, eine solche Selbstbeherrschung, nein, darüber würde sie niemals verfügen. Jetzt, da sie ihn nie wieder sprechen konnte, bedauerte sie, dass sie ihm in den letzten Jahren ausgewichen war. Zu unterschiedlich waren ihre Denkweisen. Und zu spät war ihr bewusst geworden, mit welcher Liebe er sie in Gedanken stets begleitet hatte, egal, wohin ihn seine Reisen geführt hatten.
Damals hätte sie nie gedacht, dass er ihr so fehlen könnte. Erst nach seinem Tod war ihr bewusst geworden, dass sie mit ihrem Schmerz, der sie wie ein Dolch durchbohrte, unweigerlich allein war. Sie würde ihn nie mehr wiedersehen, nie wieder mit ihm sprechen können.
Als Marie sich an den Tee erinnerte, war er längst kalt und bitter geworden, und sie beschloss, dass es Zeit war, schlafen zu gehen. Einmal nicht zu träumen, das war ihr größter Wunsch. Sie kuschelte sich unter die Bettdecke, rollte sich zusammen wie ein Embryo und sandte ein Stoßgebet zum Himmel, mit der Bitte um eine ruhige, erholsame Nacht.
Für sie waren nur Sekunden vergangen, als sie sich ängstlich umblickte und erstaunt die Fassade einer großen Kathedrale vor sich aufragen sah. Es war finstere Nacht, und doch hatte Marie das untrügliche Gefühl, von unzähligen in der Dunkelheit verborgenen Gestalten beobachtet zu werden. Ein kalter Schauer ließ sie zittern wie Espenlaub.
Da erhellte ein Blitz die Nacht, zeichnete ein Kreuz an den Himmel. Das konnte kein Zufall sein. Ein Zeichen war es, ein Zeichen nur für sie, Marie war das sofort klar, es musste so sein, ein Gewitter hatte sich nicht angekündigt. Doch sie war noch immer in Gefahr. Das wusste sie instinktiv. Sie musste ein Versteck finden, und fast unerträglich langsam schlängelte sie sich im Schatten der Mauern vorsichtig zu einer Seitenpforte. Sie würde nicht verschlossen sein, das wusste sie. Ein Stoßgebet, hoffentlich würde das Knarren der Tür sie nicht verraten. In der Ferne bellte ein Hund, und Marie zog mit einem Ruck die Pforte auf. Das Quietschen drang nur ihr ins Mark, das Hundegebell übertönte es für alle lauschenden Ohren. Flink schlüpfte sie durch den schmalen Spalt in das kühle Innere der Kirche, es musste hier sein. Was auch immer sie suchte. Mit einer Verzweiflung, die sie sich ebenso wenig erklären konnte wie diese Gewissheit, dass es so war, suchte sie etwas. Marie duckte sich zwischen die Bankreihen, kniete vor einer wunderschönen Statue der Madonna mit dem Kind nieder. Ein Auftrag. Diese Suche war ein Auftrag, den sie erfüllen musste. Wer aber hatte ihn erteilt? Was war diese rätselhafte Aufgabe? Was suchte sie? War sie einfach zu blind? Und warum war sie so schrecklich sicher, dass sie in Gefahr war?
Marie vergrub das Gesicht in den Händen und wiegte sich sanft, bis ein Geräusch sie aufschrecken ließ. Mit vor Schreck geweiteten Augen starrte sie in die Dunkelheit, ihre Ohren verrieten ihr, dass sich jemand auf sie zubewegte. Nicht nur ein paar Schritte, es waren mehrere. Bevor Marie reagieren konnte, war sie umzingelt von dunkel gekleideten Gestalten, deren Gesichter von schwarzem Tuch verhüllt waren, und eine schneidende Stimme fragte: »Was suchst du hier, Unwürdige? Oder hast du bereits entwendet, was eigentlich uns gehört?« Unsichtbare Hände hielten sie von hinten gefasst. Marie bekam keinen Ton heraus.
Die Stimme wurde drohender: »Sprich oder wir werden dich das Fürchten lehren!«
Doch Marie war wie gelähmt. Die Hände griffen fester, sie wurde an den Armen durch die Kathedrale geschleift, ein Mann warf sie sich grob über die Schulter. Und dann ging es weiter durch unterirdische Gänge. Wie ein nasser Sack wurde sie auf den nackten Erdboden geworfen. Ein heiserer Aufschrei, dann biss sie die Kiefer fest aufeinander, erfüllt von Angst und Mutlosigkeit. Doch das Grauen nahm kein Ende, sie wurde gepackt und auf einen eiskalten Tisch geschnallt. Dann riss man ihr die Hose vom Leib.
Einer der Männer zerschnitt mit einem kalten Dolch das Spitzenhöschen, sodass der verletzlichste Teil ihres Körpers für alle sichtbar wurde.
Ein Schluchzen stieg in ihr auf und drohte Marie zu ersticken, als ein leises Flüstern zu ihr durchdrang: »Wenn du uns nicht sagst, was wir wissen wollen, du kleine Hure, werden wir deinen Körper zerstören, dass du deines Lebens nie mehr froh wirst! Hast du mich verstanden?«
Da löste sich ein gellender Angstschrei aus Maries Kehle und riss sie aus dem Schwarz der Katakomben. Panisch setzte sie sich in ihrem Bett auf und versuchte verstört herauszufinden, wo sie sich befand.
Der vertraute Klang von Glocken verriet es ihr: Das Geläut der nahe gelegenen Basilika von Sacré-Cœur verkündete die Mitternacht – und Marie erkannte ihre kleine Dachwohnung und neben sich das vertraute Blau des Bademantels ihres Vaters.
Ihr Atem beruhigte sich. Auch wenn sie seit dem Tod ihres Vaters unterschiedliche Versionen des immer gleichen Themas heimgesucht hatten, war doch keiner der Träume so fürchterlich realitätsnah gewesen wie der gerade eben. Marie spürte sie noch, die Scham darüber, dass so viele Männer ihren intimsten Körperteil gesehen hatten. Wie nur sollte sie das verstehen? Schlummerten in ihrem Unterbewusstsein verquere Sehnsüchte? War das der Grund, warum sie es nie länger mit Männern ausgehalten hatte?
Marie war erschüttert. Kein Wunder, dachte sie, dass sie es nicht wagte, ihrer besten Freundin Véronique von den nächtlichen Heimsuchungen zu erzählen. Zumal ihr der Schrecken, auf eine derartig perfide Art und Weise gefoltert zu werden, so lebhaft vor Augen stand, dass sie sich nicht vorstellen konnte, ihn durch Worte neu zu beleben.
Atmen, sie brauchte Luft. Als Marie sich endlich wieder bewegen konnte, trat sie ans Fenster und streckte ihr Gesicht in die Nachtluft hinaus. Wie gut das tat. Und doch fühlte sie sich einsam unter dem Bogen des Himmels.
Mit weit geöffneten Augen blickte Marie zum Nachthimmel empor, als eine Sternschnuppe mit lichtem Blitz ihre Bahn über sie hinweg zog. Das war bestimmt ein Zeichen, es musste einfach ein Hinweis sein. Und im selben Moment überkam sie eine Erkenntnis. Das war vielleicht der Grund: Ihr Unterbewusstes wollte, dass sie das Rätsel löste, das sie seit dem Tod ihres Vaters quälte – das Geheimnis des goldenen Schlüssels! Des Schlüssels, den sie beim Durchsehen der Unterlagen im Safe seines Hauses gefunden hatte. Eingehüllt in seidiges Papier hatte er dagelegen, und auf dem Papier standen diese Worte zu lesen:
Geliebte Tochter,
mit diesem Schlüssel hinterlasse ich Dir ein unendlich kostbares, dabei ebenso gefährliches Vermächtnis.
Sobald bekannt wird, dass Du die neue Hüterin dieses himmlischen Schatzes bist, wirst Du Deines Lebens nicht mehr sicher sein.
Es tut mir von Herzen leid, dass mir keine Zeit mehr bleibt, Dich darüber aufzuklären, welche Bewandtnis es mit diesem Schlüssel hat. Auch kann ich Dich leider nicht beschützen, aber was mir an Kraft bleibt, wird in Dir weiterleben.
Pass bitte gut auf Dich auf, mein geliebtes Kind! Glaub mir, vergessen ist, was zwischen uns stand. Vergiss bitte nie:
Der...




