E-Book, Deutsch, 212 Seiten
Fink Im verwunschenen Schloss, im verbotenen Zimmer
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7568-0651-5
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vorgeschichtliche Bräuche im Spiegel der Folklore
E-Book, Deutsch, 212 Seiten
ISBN: 978-3-7568-0651-5
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Verfasser beschreibt ein Dutzend vorgeschichtliche Bräuche, die dauerhaft in die Folklore eingegangen sind, sei es in Form von Relikten, auf die noch unsere Großväter Wert legten, sei es, dass man von ihnen erzählte. Freilich wussten die Erzähler längst nicht mehr, wovon sie sprechen. Die Sippenältesten, die sich an der Wiege eines Neugeborenen zu einer Beratung versammelten, werden im Falle Dornröschens als Feen vorgestellt, in den Märchen vom reichen Mann und seinem Schwiegersohn als Schicksalsfrauen. Das Buch endet mit einem Paukenschlag, nämlich mit einem Staatsstreich: Der Stammeszauberer wird vom Oberhäuptling entmachtet, als die Mehrheit der Sippenchefs einverstanden ist. Das lässt sich aus den Märchen vom Wilden Mann ableiten.
Hans Fink (geboren 1942 in Temeschburg/Timisoara, Rumänien) ist ein rumäniendeutscher Journalist und Publizist. Er studierte Germanistik und Rumänistik und arbeitete viele Jahre als Journalist in Bukarest. Seine Themenfelder waren Unterricht und Erziehung.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Das Vorhaben
Als Antti Aarne im Jahre 1910 sein Verzeichnis der Märchentypen1 veröffentlichte, galten die sogenannten Zaubermärchen noch allgemein als Erfindungen. Knapp fünfzig Jahre später hob Wladimir Propp diese Ansicht mit seiner Abhandlung über die historischen Wurzeln des Zaubermärchens2 aus den Angeln. Propp wies nach, dass viele Zaubermärchen sich aus Erinnerungen an Bräuche und Riten bildeten. Im Vordergrund seiner Ausführungen stehen die archaische Jugendweihe im Alten Europa, an die überaus viele Märchen erinnern, und, in Verbindung damit, die Bestattungsrituale, denn vermeintlich ging ein Initiand in den Tod, weshalb man ihn, sobald er vom Dorf zur Initiationsstätte im Wald geführt wurde, mit den Kleidungsstücken und mit dem Schmuck ausstattete, die man sonst einem Verstorbenen auf den letzten Weg mitgab. Die späteren Erzähler haben die zwei Motivkomplexe, hervorgegangen einerseits aus den Erinnerungen an die Jugendweihe, andererseits aus den Vorstellungen von der Wanderung eines Toten ins Jenseits, auf unterschiedliche Weise kombiniert. Dem Phänomen der sakralen Könige, von deren Wohlbefinden vermeintlich das Glück ihres Volkes abhing, sind längere Passagen gewidmet (S. 41-45, 424-436). Das gilt auch für die Opferung einer Jungfrau, damit der Flussgott eine reiche Ernte gewähre (S. 23, 325-332). Andere Bräuche werden nur erwähnt, so die Altentötung (S. 23) und die Schamanenweihe (S. 265-266). Auf alle Bräuche trifft zu, dass man erst dann begonnen hat, von ihnen zu erzählen, nachdem sie abgestorben waren – nachdem sie aus der sozialen Wirklichkeit verschwunden waren. Manche Märchen handeln ausdrücklich von der Aufgabe eines Brauchs, von seinem Ende. Der Held tötet den Drachen, der in regelmäßigen Abständen eine Jungfrau fordert; der König verwirft den Befehl, die alten Leute als vermeintlich unnütze Esser zu töten. Propps Ideen verbreiteten sich nur allmählich. Seine Abhandlung war 1946 im zerstörten Leningrad veröffentlicht worden, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und am Anfang des Kalten Krieges, der den Kulturaustausch zwischen Ost und West jahrzehntelang beeinträchtigte. Die deutsche Übersetzung ist mit einer Verspätung von vierzig Jahren erschienen. Das Buch fand so wenig Anklang, dass der Hanser-Verlag die unverkäufliche Restauflage hat einstampfen lassen.3 Den politisch naiven Leser, der nicht Bescheid wusste über die Spielregeln im real existierenden Sozialismus, mochte der Tribut des Verfassers an die Zensur befremden. Damit ist nicht die historische Betrachtungsweise gemeint, die der marxistischen Philosophie entspricht; ohne sie würde sich die Abhandlung in Luft auflösen. Auch nicht der Exkurs über das Märchen als Erscheinung mit Überbaucharakter, wo es darum geht, welche Produktionsweise das Zaubermärchen hervorgebracht hat.4 Gemeint ist etwas anderes. Damit das Werk erscheinen kann, musste Propp sich als linientreuer Sowjetbürger ausweisen, zumal sein Standpunkt unter den sowjetischen Wissenschaftlern umstritten war. Also hat er gleich im ersten Absatz dick aufgetragen: „Vor der Revolution war Folklore die Schöpfung der unterdrückten Klassen, […] die Folkloristik eine Wissenschaft mit einer Ausrichtung von oben nach unten. […] Heute erlaubt es die Methode des Marxismus-Leninismus, den Weg des abstrakten Theoretisierens zu verlassen und den Weg des konkreten Forschens einzuschlagen.5 In Deutschland war das Feld von anderen Theorien besetzt. Der Erzählforscher Gottfried Henßen schrieb noch im Jahre 1957: „Wer ihre Verfasser waren und wann sie entstanden sind, wissen wir nicht. Die Brüder Grimm erblickten in ihnen ein geistiges Erbgut aus der frühen indogermanischen Zeit; die heutige Forschung ist wieder zu dieser Ansicht zurückgekehrt; anders kann sie sich die große Verwandtschaft der europäischen Märchen untereinander nicht erklären. Was sicher feststeht, ist, dass sie seit vielen Jahrhunderten in der mündlichen Überlieferung umlaufen und als Beispiele einer vollendeten Erzählkunst zu gelten haben. Nur so ist ihr fest umrissener sprachlicher Stil zu erklären, die gerundete Form mit den stehenden Eingangs- und Schlussformeln, die klare Gliederung des Aufbaus und die rhythmische Sprache.“6 Als Friedrich von der Leyen seine Studie über das Märchen redigierte (erste Ausgabe 1911, die vierte 1958 zusammen mit Kurt Schier), war die mythologische Schule von der psychologischen Schule abgelöst worden, die wenig Beifall erntete, weil die Auslegungen ihrer Vertreter nicht übereinstimmen. Von der Leyen lehnte sie ab.7 Dafür nehmen bei ihm Beispiele für die Entstehung der Märchenmotive aus Traumerlebnissen viel Raum ein.8 Es liege ein Traum zugrunde, wenn der Held mit einem Sieb einen Teich ausschöpfen muss – wenn er aus einem unendlichen Haufen des verschiedensten Getreides die einzelnen Arten aussondern muss – wenn er mit einer hölzernen Axt ausgestattet einen ganzen Wald an einem Nachmittag umhauen muss. (In Wirklichkeit sind solche überspitzten Forderungen der Zauberer-Gestalt eine Folge der Umwertung des Ritus und Übertreibungen der Erzähler.) Das Märchen vom Tierbräutigam erklärte von der Leyen durch eine Traum-Ehe. (Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Knaben in der alteuropäischen Buschschule von eigens dazu verpflichteten Helferinnen sexuell aufgeklärt wurden, allem Anschein nach in der Phase, in der sie die Tier-Maske trugen.) Was Friedrich von der Leyen sich dachte, verdient deshalb Beachtung, weil er die erfolgreiche Reihe „Märchen der Weltliteratur“ begründet hat, die seit 1912 erscheint, sie umfasst mehr als 160 Bände. Er selbst hat rund 50 Bände mitbetreut. Von der Leyen war geneigt, für einige Motive ein hohes Alter anzunehmen. Im Drachen vermutete er richtig die Gottheit eines Flusses, die man bewegen wollte, nicht über die Ufer zu treten und nicht Fluren und Äcker zu zerstören.9 Er nahm an, dass es sich um einen Initiationsbrauch handelt, wenn Mädchen im Pubertätsalter in unterirdische Gemächer geführt werden, damit kein Sonnenstrahl zu ihnen dringe10 (was nicht stimmt, denn alle Frauen mussten das Sonnenlicht meiden, sobald die Regelblutung einsetzte). In einem anderen Fall kam er der Wahrheit sehr nahe. Er nahm an, dass im Grimm’schen Märchen „Bruder Lustig“ (KHM 81) mit der Zerstückelung und Wiederbelebung der Königstochter durch den Apostel Petrus die Vision eines Schamanenlehrlings wiedergegeben wird11; bei Licht besehen ist dieses Motiv das Echo einer in der alteuropäischen Buschschule praktizierten Form des „zeitweiligen Todes“. Felix Karlinger, der die Arbeit von der Leyens bei der Herausgabe von Märchen-Anthologien fortsetzte, war fasziniert von der Möglichkeit, manche Motive durch Traumerlebnisse zu erklären. Er ist in Griechenland einem talentierten Erzähler begegnet, der freimütig zugab, in seine Vorträge auch Träume einzuflechten.12 Indem Propp ältere Theorien vom Tisch wischte und sich in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung kein Blatt vor den Mund nahm, forderte er die etablierten Theoretiker zur Ablehnung und Ächtung heraus. Er warf die Vorstellung von der Entstehung der Märchen im Mittelalter über den Haufen, von der andere Forscher sich nicht lösen konnten, weil die Erzähler im Mittelalter – über tausend Jahre lang – die überlieferten Texte mit Fakten aus ihrer Umwelt ausgeschmückt hatten. Linda Dégh etwa vermerkte als hervorstechendstes Merkmal des europäischen Märchenmaterials, dass die gesellschaftlichen Einrichtungen und Auffassungen, die wir darin antreffen, das Zeitalter des Feudalismus widerspiegeln.13 Die Gesellschaft im Märchen, schrieb auch Maria Tatar, spiegelt im Allgemeinen die Gesellschaftsordnung feudaler Zeiten wider.14 Wer vom Europozentrismus beseelt war, jener mit dem modernen Kolonialismus entstandenen Auffassung, derzufolge Europa den Nabel der Welt bildet, mochte sich gekränkt fühlen, weil es aus dieser Sicht absurd scheint, dass europäische Märchen Bräuche schildern, die bei Naturvölkern beobachtet worden sind. Und noch etwas mag ihn unangenehm berührt haben. Die Initiationsmärchen lenken den Blick auf ein Schulsystem, welches nicht nur jenem der Griechen und Römer, sondern auch dem des Mittelalters überlegen war: Alle Kinder nahmen verpflichtend am Unterricht teil, der sie dazu befähigte, selbst für sich zu sorgen; bei den Kpelle in Liberia dauerte ein voller Lehrgang für Knaben vier Jahre, bei anderen Völkern noch länger. Schließlich bewertete Propp die Märchen nicht als gesunkenes Kulturgut, und es kann sein, dass der eine oder andere ihm das übel nahm, weil er darin mit der marxistischen...