E-Book, Deutsch, 340 Seiten
Reihe: Dr. Caspari
Fischer Die Farben des Zorns
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-96041-040-9
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 340 Seiten
Reihe: Dr. Caspari
ISBN: 978-3-96041-040-9
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Drei Ärzte sind einem psychopathischen Serienkiller bereits zum Opfer gefallen, als ein weiterer Mord im Fratzenstein, dem Hexenturm in Gelnhausen, entdeckt wird. Pfarrerin Clara Frank und LKAHauptkommissar Dr. Christoph Caspari versuchen fieberhaft, einen weiteren Mord in Fulda zu verhindern.
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KAPITEL II »PAPA, AUFWACHEN!« Caspari rang nach Luft, als sich Lukas schwungvoll auf seine Brust setzte. Herzhaft gähnend blickte er in das Gesicht des Fünfjährigen. Lukas’ Augen waren genauso ausdrucksvoll wie die seiner Mutter. Auch das schlank geschnittene Gesicht hatte er von ihr. Der Rest seiner Erscheinung stammte aus dem Erbgut der Casparis. Sein ungestümer rotblonder Haarschopf verlieh ihm ein spitzbübisches Aussehen. An Körpergröße überragte er alle anderen Gleichaltrigen. Caspari fuhr seinem Sohn durch die Haare und zog ihn an sich. Lukas genoss die Umarmung. Für eine Weile lag er auf seinem Vater, bis er den Kopf hob und eine erbarmungswürdige Miene aufsetzte. »Papa, wann machst du Frühstück? Ich habe Hunger! Mein Bauch hat ein großes Loch!« Caspari warf einen Blick auf seinen Wecker. »Ich kenne niemanden außer dir, der schon um sieben Uhr so ausgehungert ist. Man könnte meinen, du bist ohne Abendessen ins Bett gegangen. Aber wie ich Oma kenne, halte ich das für völlig ausgeschlossen.« »Ach, Papa, das war doch gestern Abend. Jetzt ist schon ein anderer Tag. Und außerdem ist Schlafen sehr anstrengend und macht großen Hunger.« Caspari lachte. Gegen solche schlagkräftigen Argumente war er machtlos. In einem kleinen Ringkampf beförderte er Lukas von seiner Brust und stieg schwerfällig aus dem Bett. Ein paar Stunden mehr Schlaf hätte er gut gebrauchen können. Er hatte die halbe Nacht mit Recherchen im Internet und mit Grübeln zugebracht. Gegen halb zwei war er völlig übermüdet ins Bett gefallen. »Papa, heute ist Samstag. Am Wochenende gibt es immer Kakao!«, erinnerte ihn Lukas an die Feinheiten des Frühstückrituals. »Ja, ich weiß. Willst du ein Ei?« »Mensch, Papa, du kannst dir aber auch gar nichts merken«, antwortete Lukas mit vorwurfsvoller Miene. »Ich esse doch immer ein Ei beim Frühstück am Wochenende!« Caspari stellte den Milchtopf auf den Herd, schaltete den Eierkocher an und startete die Cappuccinomaschine. Im Bad warf er sich seinen Bademantel über und schlurfte in seinen ausgetretenen Hausschuhen auf den Hof, um die Brötchentüte aufzuheben, die der Bäcker samstags immer unter das Vordach legte. Die Oktobersonne stieg gerade über das Dach der gegenüberliegenden Stallungen. Er blinzelte und streckte sich dem jungen Tag entgegen. Sein Vater trat vorgebeugt aus der geduckten Stalltür. »Morgen, Christoph. Hat der Wahnsinnige wieder zugeschlagen?« »Morgen, Paps. Sieht so aus, als wär er es wieder.« »Mensch, Mensch, Mensch«, sinnierte der alte Caspari. »Was für ein krankes Hirn muss so einer haben? Schnapp dir den Verrückten endlich! So wie du aussiehst, macht der dich sonst fix und fertig. Und dein Sohn braucht auch mehr Zeit und Aufmerksamkeit von seinem Vater als in den letzten zwei Monaten.« »Ja, ich weiß. Ich bin euch auch unendlich dankbar, dass ihr euch so um ihn kümmert. Wenn wir den Kerl haben, kehrt wieder etwas mehr Ruhe ein. Versprochen!« Es gab Momente, in denen er seinen Beruf hasste. Dieser Morgen gehörte dazu. Mit schlechtem Gewissen kehrte Caspari in die Küche zurück, wo sich gerade der Eierkocher bemerkbar machte. Lukas hatte schon den Tisch gedeckt und strahlte ihn an. Caspari ließ seinen Blick über die Tafel schweifen und entdeckte das neue Glas Schokoladenaufstrich, das Benny wieder einmal in den Küchenschrank geschmuggelt haben musste. Benny war ein Patenonkel, wie man ihn sich nur wünschen konnte. Aber väterliche Vorstellungen von einem gesunden Frühstück interessierten ihn nicht im Mindesten. Unwillig brummend stellte Caspari die übrigen Dinge auf den Tisch. »Papa, musst du heute wieder arbeiten?«, fragte Lukas laut schmatzend. »Ja, heute Vormittag muss ich noch einmal wegfahren. Ich hoffe aber, dass ich gegen Nachmittag wieder hier sein werde. Tut mir Leid, mein Kleiner, dass ich im Moment so wenig Zeit für dich habe.« »Macht nichts«, meinte Lukas, »Denis und ich wollen heute Morgen dem Opa helfen, die Strohballen vom Feld zu holen. Und dann spielen wir hier im Hof Fußball.« »Prima«, gab Caspari erleichtert zurück, »dann wird dir ja nicht langweilig.« Er war froh, dass sie Tür an Tür mit seinen Eltern auf dem alten Bauernhof wohnten. Anders hätte er seinen Beruf und seine Rolle als allein erziehender Vater unmöglich miteinander verbinden können. Unter der Dusche zuckte er zusammen. Ein stechender Schmerz durchfuhr sein linkes Schienbein. Stöhnend rieb er über seine alte Schussverletzung, die ihn in unregelmäßigen Abständen an jenen Tag erinnerte, an dem er seine körperliche Unversehrtheit verloren hatte. Das Stechen hörte genauso plötzlich auf, wie es gekommen war. Trotzdem nahm Caspari eine seiner Schmerztabletten als reine Vorsichtsmaßnahme und verdrängte den Gedanken, dass er mehr auf sich achten müsste. Lukas, der im Schnelldurchgang seine Morgentoilette erledigt hatte, war schon fertig angezogen. Die erdbraune Patina auf der Jeans und der unverwechselbare Stallgeruch verrieten seinem Vater, dass er es wieder einmal versäumt hatte, seine Kleider zur Schmutzwäsche zu legen. Demonstrativ baute sich Caspari halb bekleidet vor seinem Sohn auf und stemmte seine breiten Fäuste in die Hüften. »Mein lieber Freund, die Sachen tust du höchst persönlich heute Abend zur Schmutzwäsche. Sonst ist die Nutella morgen zum Frühstück gestrichen! Habe ich mich klar ausgedrückt?« »Schokoladenklar, Papa«, antwortete der Kleine mit einem spitzbübischen Grinsen. Gemeinsam gingen sie in den Flügel des Anwesens, den Casparis Eltern bewohnten. Besorgt blickte Irma Caspari an ihrem Sohn hoch. »Du siehst schlecht aus. Wie lange willst du das noch durchhalten? Du brauchst dringend den Urlaub mit Lukas!« »Ja, ich weiß. Vielleicht hat der ›Chirurg‹ ja diesmal einen Fehler gemacht und geht uns endlich ins Netz. Wenn wir ihn gefasst haben, werde ich ein paar Tage lang ein paar Überstunden abbauen.« »Die Botschaft hör ich wohl; allein, mir fehlt der Glaube!«, antwortete Irma Caspari mit hochgezogener Augenbraue. Caspari umarmte Lukas, der ihn fest drückte. Als er sich wieder aufrichtete, gab ihm seine Mutter einen Kuss. »Pass auf dich auf, Junge. Dein Sohn braucht dich.« Wortlos hob Caspari die Hand und ging zum Auto. Bevor er den Wagen startete, wählte er die Peer-Gynt-Suite als Einstimmung auf den vor ihm liegenden Tag. Er liebte das langsame Wachsen der Klänge in eine hoffnungsfrohe Melodie, die den Sieg des Lebens über die todbringenden Mächte ausdrückte. Seine Gedanken gingen zur jungen Pfarrerin. Die Aussicht, ihr heute wieder zu begegnen, stimmte ihn versöhnlich mit den Aufgaben, die an diesem Tag vor ihm lagen. Langsam fuhr er mit dem Volvo über den geteerten Weg zur Straße nach Wittgenborn. Als er noch ein Kind war, hatten seine Eltern diesen halb verfallenen Bauernhof nahe Waldensberg gekauft. Die Leute vom Dorf hatten sie damals für verrückt erklärt, aber die beiden restaurierten mit Hilfe von Freunden und Verwandten das alte Anwesen in jahrelanger Arbeit liebevoll. Für Kinder war es ein idealer Ort aufzuwachsen. Den Hof umgaben Felder und Wald, und die alten Gebäude boten viel Gelegenheit zum Spielen. Obwohl er die meiste Zeit seines Lebens hier verbracht hatte, konnte Caspari sich an dem Anwesen und der Landschaft nicht satt sehen. Gelassen nahm der Volvo die kurvenreiche Straße nach Wittgenborn und von dort hinunter nach Wächtersbach. Der Vogelsberg war in bunte Herbstfarben getaucht, die sich mit der Musik zu einer prächtigen Symphonie vereinigten. Caspari fühlte sich davon berauscht. Er spürte, wie die Anspannung der vergangenen Wochen für einen Moment von ihm abfiel. »Mir reicht es! Ich fahre jetzt heim und lege mich aufs Ohr!« Doktor Thorsten Rosskopf hatte eine anstrengende Nacht hinter sich. Um ein Uhr fünfunddreißig waren sieben Jugendliche nach einer Bandenschlägerei eingeliefert worden. Der Dienst habende Assistenzarzt hatte ihn sofort verständigen lassen. Gemeinsam mit ihm hatte Rosskopf in Anwesenheit von vier Polizisten drei Stichverletzungen, Platzwunden am Kopf, einen Jochbeinbruch und zwei Nasenbeinbrüche versorgen müssen. Seinen Einstieg als neuer Oberarzt der Unfall-Chirurgie hatte sich Rosskopf ein klein wenig ruhiger vorgestellt – zumindest, was die Rufbereitschaft betraf. Nachdem er die halbe Nacht im Operationssaal gearbeitet hatte, war er noch zur Visite geblieben. Rosskopf freute sich auf ein paar Stunden Schlaf – vorausgesetzt, die Zwillinge würden das zulassen. Mit seiner Frau und den Zweijährigen wohnte er seit zwei Wochen in einem kleinen Dorf nahe Fulda. Als das Angebot auf die Stelle des Oberarztes kam, hatte er sofort zugegriffen. Besser hätte er es nicht treffen können. Hoffentlich hält meine Glücksträhne an, dachte er bei sich, als er in seinen Wagen stieg. Er konnte nicht wissen, wie nahe er dem Tod war. Jemand hatte seine Fährte aufgenommen und zog langsam und unsichtbar seine Kreise um ihn. Ein Raubtier in Menschengestalt wollte ihn für ein Vergehen bestrafen, dass er nicht kannte. Rosskopfs Leben hing an einem seidenen Faden. Im Schatten stand ein Wesen, das es zu seinem Lebensinhalt gemacht hatte, dieses dünne Band zu durchtrennen. Clara stand im Badezimmer vor dem Spiegel. Sie hatte heute Morgen schon versucht, die bleierne Müdigkeit mit Jogging zu vertreiben. Das war ebenso wenig effektiv gewesen wie das anschließende Wechselduschen. Aus dem Spiegel blickte ihr ein blasses Gesicht mit dunklen Augenringen entgegen. Während sie sich ihre feuchten Haare kämmte, schellte schon die Türglocke. Panisch blickte sie auf ihre Uhr: Es war...