E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Fischer-Hunold Fräulein Florentines Gespür für Mord
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7641-9368-3
Verlag: Ueberreuter Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-7641-9368-3
Verlag: Ueberreuter Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Alexandra Fischer-Hunold studierte deutsche und englische Literatur und arbeitete in einem Verlag, bevor sie selbst anfing zu schreiben. Ihre Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt. Sie lebt mit ihrem Mann und dem Irish Terrier Carla in Münster in Westfalen.
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1
Es ist vielleicht eine halbe Stunde her. Da hat er noch gemeinsam mit seiner frischgebackenen Braut, meiner Cousine Charlotte, die vierstöckige Hochzeitstorte angeschnitten. Und jetzt liegt er vor mir. Sein goldener Kneifer ist ihm beim Sturz von der Nase gerutscht und krachend auf den Marmorfliesen der Eingangshalle aufgeschlagen. Ein Spinnennetz aus Sprüngen überzieht die beiden Gläser. Um mich herum drängen sich nachströmende Gäste. Aus den Augenwinkeln sehe ich Charlotte. In Reisekleidung schreitet sie zögernd die breite Treppe hinunter. Ein paar Stufen über ihr steht ihr Bruder Hendrik. Er ist kalkweiß. Langsam wende ich meinen Blick wieder dem Toten zu. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Aber nicht etwa, weil ich so bestürzt bin (diese Gefühle dränge ich beiseite), sondern weil ich mein Glück kaum fassen kann. Denn im Rücken des guten Amandus steckt das Tortenmesser.
Als Tochter aus gutem Hause weiß ich selbstverständlich, was sich in so einer Situation gehört. Also simuliere ich einen bühnenreifen Ohnmachtsanfall. Mit einem erschöpften Seufzer lasse ich mich neben die Einstichstelle sinken. Ich muss Wunde und Messer untersuchen, bevor mich starke Arme hochheben. Mich auf das nächstbeste Sofa betten und mein Retter nach Riechsalz ruft.
Das Messer steckt ganz schön tief, denke ich gerade, als ich die Wunde blinzelnd überprüfe. Da geht ein Zucken durch Amandus’ Körper. Langsam dreht er seinen Kopf zu mir und schaut mich verwundert an. Er lebt. Lang genug, um mir mit gebrochener Stimme eine Botschaft ins Ohr zu flüstern. Dann haucht er seinen Odem aus.
Unauffällig lasse ich den Gegenstand in meinem Handtäschchen verschwinden, den er mir in der letzten Sekunde seines Lebens heimlich zugesteckt hat. Dann schließe ich die Augen und spiele wieder die Ohnmächtige.
Amandus Graf von Lauenburg ist ermordet worden.
Von wem? Warum? Ich werde es herausfinden.
Aber ich greife vor. Drehen wir die Uhr ein paar Stunden zurück. Zu dem Zeitpunkt, als ich …
… völlig außer Atem Leopolds Fahrrad in der Hofdurchfahrt an die Hauswand lehnte und die Schirmmütze tief ins Gesicht zog.
Verstohlen blickte ich zu den hinteren Fenstern der Beletage hinauf, in der meine Familie und ich wohnen. Ich war viel zu spät dran. Falls die Kirchturmuhr, an der ich auf meiner rasanten Fahrt von der Charité nach Hause vorbeigesaust war, richtig ging. Die hatte nämlich zwei Uhr geschlagen und schon um drei läuteten Charlottes Hochzeitsglocken. Ich konnte nur hoffen, dass Elise, unser Hausmädchen, mir den Rücken freigehalten hatte.
Für den Moment musste mich jeder zufällige Beobachter für Thomas halten. So heißt der Student, der mehrmals die Woche in der Wohnung über uns zum Nachhilfeunterricht erwartet wird. Deshalb würde Mama sich auch nicht darüber wundern, dass Thomas jetzt mit gesenktem Kopf durch die Haustür huschte. Kaum im Vestibül angekommen, riss ich mir die Mütze vom Kopf und schüttelte meine langen Locken. An so einem warmen Julitag taten mir die jungen Männer fast leid. Schließlich dienen mir die von Leopold geborgten langen Hosen, das Hemd, die Krawatte, Weste und das Jackett nur gelegentlich zur Tarnung. Er und seine Freunde müssen sich jeden Tag so kleiden. Aber kein falsches Mitgefühl. Dafür müssen sie sich nicht jeden Morgen in ein Korsett zwängen.
Gott sei Dank saß Hanke nicht in der Portiersloge. Das war der einzige Vorteil meiner Verspätung. Es war Samstag und Hank’sche Tradition, dass pünktlich um zwei Uhr sein Lieblingsessen auf dem Tisch stand. Der Geruch nach gebratenen Bouletten war mir schon beim Fahrradabstellen aus der Souterrainwohnung in die Nase gestiegen.
Wäre ich nicht in geheimer Mission unterwegs gewesen, wäre ich jetzt durch die doppelflügelige Tür mit den eleganten Glasornamenten gejagt, dann weiter die mit dem roten Teppich ausgelegte breite Marmortreppe in die erste Etage hinauf. Korrektur: Ich wäre selbstverständlich geschritten. Äußerst damenhaft und elegant. Denn das gehört sich so für eine Tochter aus gutem Hause. Und genau das ist es, was ich bin.
Weil besondere Umstände aber nun mal besondere Maßnahmen erfordern, schlüpfte ich durch die unscheinbare Seitentür zu meiner Linken. Dahinter führt nämlich ein langer, schmaler Korridor zur Dienstbotentreppe, deren steile Stufen sich in der Art eines Schneckenhauses in die Höhe schrauben. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend keuchte ich sie hoch. Dabei ließ ich unsere Küchentür in der ersten Etage genauso links liegen wie die von Professor Pauli im zweiten Stock. Mein Ziel war der Dachboden. Der rechte Bereich dient dem Personal beider Familien als Trockenboden und Waschraum. Aber mein Ziel lag linker Hand, dort, wo sich die Zimmer der Dienstboten befinden.
Ohne zu zögern, riss ich die Tür auf und schlüpfte in die kleine Kammer.
»Ich weiß, ich bin schrecklich spät dran. Der Professor hat überzogen und ich konnte mich nicht einfach so aus dem Hörsaal stehlen«, entschuldigte ich mich, kaum dass die Tür hinter mir ins Schloss gefallen war. Denn mir war völlig klar, dass die arme Elise meinetwegen auf höllenheißen Kohlen geschmort hatte. »Hat Mama die Migräneausrede geschluckt?«
Ächzend setzte ich mich auf den Boden, um Leopolds Schuhe aufzuschnüren. Damit ich in den Quadratlatschen meines Bruders laufen konnte, hatte ich sie mit alten Stofffetzen ausgestopft. Leider waren die so grob und rau wie Schmirgelpapier. Stöhnend zog ich meine wund gescheuerten Füße aus den Schuhen und spreizte meine steifen Zehen. Was für eine Wohltat!
Elise war zwar bei meinem Eintreten sofort von ihrem Bett hochgeschossen, aber gesagt hatte sie bisher kein einziges Wort. Sie stand einfach nur da, in ihrem langen schwarzen Kleid, über das sie die weiße Spitzenschürze gebunden hatte, und schaute auf mich herab.
»Die gnädige Frau hat sich sehr oft nach Ihrem Wohlbefinden erkundigt«, brach sie endlich das Schweigen. Von jedem ihrer Worte triefte die Angst wie der Morgentau von den Blütenblättern im Tiergarten.
»Ich mache es wieder gut!«, versprach ich ehrlich zerknirscht. Dabei zermarterte ich mir das Hirn auf der Suche nach einer Möglichkeit, mein Versprechen in die Tat umzusetzen. Und plötzlich hatte ich eine Idee. Die war richtig gut. Elise hatte eine große Schwäche, wie ich seit unserem gemeinsamen Ausflug in die Konditorei Hofstetter wusste, und die hieß: »Nougatpralinen?«
Elises grüne Augen wurden groß und rund. Ihr Mund öffnete sich. Und klappte wieder zu. Statt, wie ich gehofft hatte, ein freudiges »Oh!« auszurufen, schüttelte sie heftig den Kopf.
Das tat sie mit so viel Nachdruck, dass das weiße Häubchen auf ihrem Haar in bedenkliche Schieflage geriet.
»Mit Verlaub …«, setzte sie unsicher an.
»Frei von der Leber weg, Elise«, munterte ich sie auf.
Sie nickte und sog stoßweise die Luft ein. »Mit Verlaub und allem Respekt, was nutzen mir Ihre Pralinen, wenn die Gnädige uns auf die Schliche kommt und mich vor die Tür setzt?« Elises rundes Gesicht war sehr ernst geworden. »Jeden Tag strömen Hunderte Mädchen vom Land in die Stadt und suchen eine gute Anstellung, so wie ich sie bei Ihren Eltern gefunden habe. Die Arbeit hier ist ein Klacks gegen die Schinderei auf dem Bauernhof meiner Eltern. Das können Sie mir glauben, Fräulein Florentine. Noch nie habe ich ein eigenes Zimmer besessen. Meine Geschwister, meine Eltern und ich, wir haben zusammen in einem Raum geschlafen.« Betrübt senkte sie den Kopf und flüsterte schüchtern: »Ich will nicht wieder dorthin zurück. Ehrlich nicht. Auch wenn ich meine Eltern und meine Geschwister jeden Tag vermisse. Alle zehn.«
Ich schaute zu dem Häufchen Elend auf, das händeringend über mir stand, und erschrak vor mir selbst. Denn erst jetzt begriff ich, wie heiß die Kohlen, auf die ich sie gesetzt hatte, wirklich gewesen waren. Ich ließ meinen Blick durch das winzige Zimmer wandern. Bett, Kommode, Schrank, ein wackeliger Stuhl, ein kleiner halbblinder Spiegel und der geflochtene Weidenkorb, in dem sie bei ihrer Ankunft vor vier Wochen all ihre Habseligkeiten die Treppe hinaufgeschleppt hatte. Das und ein schmales Dachfenster, hinter dem der blaue Himmel über der verheißungsvollen Großstadt strahlte, wog für sie so viel mehr als alle Schätze des Kaiserreichs.
Und ich kam ihr mit Nougatpralinen! Ich schämte mich schrecklich. Wie egoistisch und rücksichtslos ich gewesen war! Mit einem entschuldigenden Lächeln rappelte ich mich hoch, trat vor Elise, rückte ihr Häubchen gerade und schloss sie in die Arme. »Du wirst nie wieder für mich lügen müssen.« Ein Seufzer der Erleichterung schüttelte Elises dünnen Körper. »Versprochen!«, setzte ich nach. »Nie, nie wieder. Und ich entschuldige mich von Herzen für die Sorgen, die ich dir bereitet habe. Ab sofort regele ich das anders. Ich weiß zwar noch nicht wie, aber lass das mal meine Sorge sein.«
Später, denn jetzt musste ich mich endlich für Charlottes Hochzeit fertig machen.
»Haben Sie vielen Dank, gnädiges Fräulein.« Elise wand sich etwas unwohl aus meiner Umarmung. Aber sie wirkte erleichtert.
»Wo sind meine Sachen?« Eilig schlüpfte ich aus Weste und Hemd.
»Hier!« Elise machte einen Schritt zur Seite, um den Blick auf das Kopfende ihres Bettes freizugeben. Dort hatte sie alles fein säuberlich zurechtgelegt, was aus dem falschen Studenten Florian die Brautjungfer Florentine Falkenberg machen würde. Das lange hellblaue Kleid, mein schreckliches Korsett, nebst Unterkleid, das schlichte Täschchen,...