E-Book, Deutsch, Band 1, 392 Seiten
Reihe: Die Polidoris
Fislage Die Polidoris (Bd. 1)
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-649-67152-7
Verlag: Coppenrath
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
und der Pakt mit der Finsternis
E-Book, Deutsch, Band 1, 392 Seiten
Reihe: Die Polidoris
ISBN: 978-3-649-67152-7
Verlag: Coppenrath
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Anja Fislage ist leider nicht in einem Spukhaus am Meer aufgewachsen, hatte aber trotzdem eine schöne Kindheit. Sie liebt Abenteuer, sitzt jedoch lieber am Schreibtisch, als in See zu stechen. Darum studierte sie zunächst Literaturwissenschaften und arbeitete dann als Lektorin in verschiedenen Verlagen. Eines Tages fiel ihr auf, dass man auch Abenteuer am Schreibtisch erleben kann, und das tut sie seitdem mit großer Freude. 'Die Polidoris' ist ihr Kinderbuch-Debüt.
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Kapitel 1
Das Turmzimmer
Petronella Polidori ärgerte sich über das aufgeregte Prickeln, das ihr über den Rücken lief. Nein, sie würde das Haus nicht mögen! Oder zumindest ignorieren. Das hatte sie sich fest vorgenommen. Aber nun machte ihr diese Gänsehaut einen Strich durch die Rechnung. Wie unpassend! Dabei hätte sie vorhin noch platzen können vor Wut, Traurigkeit und Erschöpfung.
»Glaubt ihr wirklich, dass hier jemand wohnt?«, rief Roberta und lachte. Es sollte verächtlich klingen, doch Petronella kannte ihre große Schwester gut genug, um das freudige Beben in ihrer Stimme zu bemerken. »Das ist eins von diesen Häusern. Absolut typisch! Ihr wisst schon. Ich wette, da liegt irgendwo ein Skelett in der Badewanne. Wartet mal ab!«
Petronella blickte an den bröckeligen Mauern empor. Wilde Ranken überwucherten die Hälfte der Fassade und hatten sich bereits einige Fenster einverleibt. Was sich wohl dahinter verbergen mochte? Alles an diesem Haus schien ihr zu sagen: Bei dem Gedanken daran spürte Petronella eine Art von … Vorfreude. Sehr verwirrend.
»Ausgesetzt in der ostfriesischen Einöde – von den Pfadfindern!«, rief Roberta begeistert. »Wenn das mal nicht der Anfang einer absolut haarsträubenden Geschichte ist!« Sie rückte ihren Federhut zurecht und stakste beschwingt weiter. Im Gegensatz zu Petronella und Pellegrino hatte sie ihre Pfadfinderkleidung gegen ein kariertes Kostüm mit steifer Bluse, wadenlangem Rock und Schuhen mit Pfennigabsätzen eingetauscht. Im Moment hatte sie ihre Vornehme-alte-Dame-Phase. Die zahlreichen wechselnden Hüte gehörten dazu. (Daher die vielen Hutschachteln, die sie Petronella und Pellegrino aufgeladen hatte – sie selbst dürfe in ihrem Alter ja nicht mehr so schwer schleppen, hatte sie behauptet. Wenn man Petronella fragte, waren diese Phasen eine nervliche Belastung für die ganze Familie. Aber niemand fragte Petronella.)
»Meine Füße und mein Rücken schmerzen. Die Sonne brennt auf meine Haut«, stellte Pellegrino fest – im Tonfall eines Wissenschaftlers, der seine Forschungsergebnisse zusammenfasst. »Zudem leide ich unter großem Hunger und … Oh! Was haben wir denn hier?« Von einem plötzlichen Eifer befallen, ließ er Hutschachtel, Koffer und Rucksack in den Staub fallen und eilte zu dem verwitterten Zaun, um ihn ausgiebig mit seiner kleinen Lupe zu begutachten. Ohne Zweifel.«
Petronella seufzte, aber nur innerlich. Pellegrinos Vorliebe für Naturwissenschaften und lateinische Begriffe war immer ein bisschen unpassend, doch hier und jetzt ganz besonders, fand sie. Sie selbst hatte Tiere auch gern, aber eben die lebendigen (ein eigenes Haustier war immer ihr größter Wunsch gewesen, oder zumindest ihr zweitgrößter), während Pellegrino sich eher für ihre Bestandteile und deren Bezeichnungen interessierte.
, dachte sie – ein schwacher Versuch, gegen ihre unangemessene Vorfreude anzukämpfen.
Das behielt sie aber ohnehin lieber für sich. Es hatte keinen Sinn, mit Pellegrino zu diskutieren. Außerdem war sie zu erschöpft für solche Nebensächlichkeiten.
Seit heute Morgen kreisten ihre Gedanken nur um diesen einen Satz, der einen wilden Sturm in ihrem Kopf entfacht hatte und nun wie ein Echo nachhallte:
… müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass die seit sieben Tagen kein Signal mehr gesendet hat und Suchaktionen bislang ergebnislos geblieben sind …
Der Satz stammte aus einem Brief von der Gesellschaft für Tiefseeforschung, den der unfreundliche Campleiter der Kleinen Steinböcke ihnen heute Morgen mit tonloser Stimme vorgelesen hatte. Daraufhin hatte er die Geschwister persönlich zum Zug gebracht, mit Trauermiene das geheime Handzeichen der Kleinen Steinböcke gemacht und war erleichtert verschwunden.
Es war das abrupte Ende ihres Aufenthalts in dem Alpen-Pfadfindercamp gewesen, wo sie die Sommerferien verbracht hatten, während ihre Eltern zu einer Forschungsreise im Südatlantik aufgebrochen waren. Das war eigentlich nicht weiter ungewöhnlich, denn die beiden erforschten die Tiefsee. Allerdings waren sie bislang eher die Sorte Forscher und Forscherin gewesen, die lieber am Schreibtisch saß, als auf Tauchgänge zu gehen. Jedenfalls war das bei ihrem Vater so gewesen, während ihre Mutter stets darauf gedrängt hatte, endlich eine echte Expedition zu unternehmen. Dieses Mal hatte sie sich durchgesetzt. Und nun war das eingetreten, wovor ihr Vater sich stets gefürchtet hatte: Dr. Oscar und Dr. Stella Polidori waren im Atlantik verschollen.
Ja. Vielleicht war dies nicht nur das Ende ihrer Sommerferien, sondern auch das Ende ihres bisherigen Lebens. Bei diesem Gedanken spürte Petronella die Tränen heiß hinter ihren Lidern brennen. Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte hoch zu dem kleinen Türmchen auf dem löchrigen Hausdach. Die Turmfenster schienen herausfordernd zurückzustarren. Merkwürdigerweise ließ sie der Anblick ihre Tränen vergessen.
Nach der zehnstündigen Zugfahrt gen Norden, wobei sie zweimal den Anschlusszug verpasst hatten, stand die Sonne nun schon recht tief am Himmel und zeichnete ihre langen Schatten auf den Weg aus zerbrochenen Muschelschalen. Er führte zu einer Ehrfurcht gebietenden Eingangstür aus Ebenholz und Messing.
Roberta betätigte die Klingel und nickte erst Petronella, dann Pellegrino zu. Das sollte wohl heißen: (eins von Robertas Lieblingswörtern), und Petronella stellte erneut fest, dass sie wirklich keine Angst hatte. Nein, es prickelte weiter unpassend die Wirbelsäule auf und ab.
Ein sehr lautes, majestätisches Glockenläuten ertönte. Nur eine Sekunde später wurde die schwere Tür schwungvoll geöffnet und eine – im Gegensatz zu Roberta echte – vornehme alte Dame stand in einem goldenen Morgenmantel vor ihnen. Petronella kannte ihre Großmutter nur von den wenigen Fotos in einem vergilbten Album, auf denen sie wesentlich jünger gewesen war. Nun war sie alt – und noch immer schön, stellte Petronella erstaunt fest. Trotz des weiß-goldenen Gehstocks, auf den Großmutter sich stützte – oder vielleicht gerade deswegen –, war sie auf eine seltsame, altmodische Art besonders elegant. Ihre Augen waren hinter der großen, getönten Brille kaum zu erkennen. Ihr Mund wirkte streng, verzog sich aber nun zu einem sehr breiten Lächeln, bei dem ihre Zähne zwischen den rosarot glänzenden Lippen wie perfekt aufgereihte Perlen schimmerten.
Sofort stülpte Petronella die Oberlippe über ihre eigenen Schneidezähne und sah zu Boden. Dabei ärgerte sie sich über sich selbst, mal wieder. Es sah bestimmt blöd aus und ihren Überbiss konnte sie damit sowieso nicht verstecken. (Nummer drei auf der Liste der größten Wünsche überhaupt, doch ihre Eltern waren stets unerbittlich geblieben. »Ich habe mein ganzes Leben mit diesem Überbiss verbracht«, pflegte Dr. Stella zu sagen, »und niemals einen Nachteil gehabt, nie!«, was Petronella für eine glatte Lüge hielt. Jetzt bildete sich ein Kloß in ihrem Hals, wenn sie an die Stimme ihrer Mutter dachte.)
»PERNELL!«, rief Großmutter sehr laut, ohne die drei aus den Augen zu lassen, und Petronella dachte im ersten Moment, sie würden in einer fremden Sprache begrüßt. Großmutter meinte aber den Großvater, der sich noch irgendwo in den Tiefen des Hauses befand. »Sieh nur, die Vögelchen sind da!«
Sie strahlte Petronella, Pellegrino und Roberta der Reihe nach mit ihren Perlenzähnen an. Dann wurde ihr Gesicht urplötzlich ernst. Sie sog die Luft tief ein und starrte an ihnen vorbei nach draußen in die Ferne. Zögerlich wandte Petronella sich um und versuchte zu erkennen, was oder wer sie so aus der Fassung brachte. Als sie nichts und niemanden entdeckte, tauschte sie einen ratlosen Blick mit Roberta und Pellegrino. Hatte Großmutter gerade einen Herzinfarkt erlitten? War sie krank?
Jetzt hob Großmutter beide Hände zum Herzen und atmete endlich aus, was klang wie eine Mischung aus Grunzen und Seufzen. »Wie freue ich mich, euch drei zu sehen! Pernell, nun komm doch, sie sind da!«
Großvaters Kopf tauchte aus dem Dunkel auf, hoch und gerade stellte er sich neben Großmutter, legte ihr eine Hand auf die Schulter und räusperte sich. »Meine Enkel. Ihr seid pünktlich zum Tee.« Seine Stimme war tief und ruhig. »Tretet herein.«
»Es heißt: Tretet , Pernell«, korrigierte Großmutter ihn. »Oder: herein. Aber nicht: Tretet herein. Das ist falsches Deutsch, hörst du?«
Roberta kicherte und erntete einen strengen Blick der...




