E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Fitzpatrick Lost Souls
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-86854-886-0
Verlag: Hamburger Edition HIS
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sowjetische DPs und der Beginn des Kalten Krieges
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-86854-886-0
Verlag: Hamburger Edition HIS
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sheila Fitzpatrick ist eine US-amerikanische Historikerin australischer Herkunft, die zu moderner russischer Geschichte und der Geschichte der Sowjetunion forscht. Sie ist emeritierte Professorin für Russische Geschichte an der Universität von Chicago und schreibt regelmäßig für die London Review of Books.
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Einleitung
Als am Ende des Zweiten Weltkriegs sowjetische Truppen den Osten und britische sowie amerikanische Streitkräfte den Westen Deutschlands besetzt hielten, bestand eines der dringendsten Probleme darin, was mit den umherstreifenden Massen von Menschen geschehen sollte – insgesamt bis zu zehn Millionen Personen, darunter alliierte Soldaten, Kriegsgefangene, aus Osteuropa vertriebene Deutsche, Zwangsarbeiter und Geflüchtete osteuropäischer Herkunft, waren zur deutschen Bevölkerung hinzugekommen.1 Aufseiten der Zivilisten gehörten zu ihnen Überlebende der Nazi-Konzentrationslager und Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen, die im Krieg aus den besetzten Gebieten in Ost- und Westeuropa oft gegen ihren Willen nach Deutschland gebracht worden waren. Doch unter ihnen befanden sich auch sowjetische und osteuropäische Bürgerinnen und Bürger, die dem Rückzug der Deutschen am Kriegsende in Richtung Westen gefolgt waren, ebenso wie andere, die nach dem Sieg der Alliierten weiterhin aus Osteuropa herausströmten. Aufseiten des Militärs hatten mehrere Millionen sowjetischer Soldaten das Kriegsende als Insassen deutscher Kriegsgefangenenlager erlebt. Eine weitere Gruppe von beträchtlicher Größe waren frühere sowjetische Soldaten, die sich in ebendiesen Lagern von den Deutschen hatten rekrutieren lassen, um gegen die Sowjetunion zu kämpfen, und die sich nach dem Krieg neben deutschen Soldaten in den alliierten Kriegsgefangenenlagern wiederfanden.
Übersicht in diese Situation zu bringen, war eine erhebliche Herausforderung. Die kurzfristige Lösung lag darin, die Zivilisten und später die entlassenen Kriegsgefangenen als »Displaced Persons« zu erfassen (in allen Sprachen setzte sich rasch die englisch ausgesprochene Abkürzung durch), sie zu entlausen, mit Essen zu versorgen und bis zu ihrer Repatriierung in Lagern unterzubringen. Bald stellte sich jedoch heraus, dass viele s, insbesondere die aus der Sowjetunion, nicht zu einer Rückkehr bereit waren. Daraus entstand ein diplomatisches Problem, das zwischen der Sowjetunion und ihren Verbündeten, Großbritannien und den , zu einer großen Streitfrage in den ersten Jahren des Kalten Krieges wurde. Die Sowjets verlangten »ihre« Staatsbürgerinnen und Staatsbürger zurück; die westlichen Alliierten wichen der Forderung aus und lehnten nach den ersten Monaten eine Zusammenarbeit in der Frage stillschweigend ab. 1947 entschieden die Alliierten über eine Lösung für den sogenannten von ungefähr einer Million nicht-repatriierbarer s aus der Sowjetunion und Osteuropa: Sie sollten außerhalb Europas in den Ländern neu angesiedelt werden, die sie aufzunehmen bereit wären. Wie sich herausstellte, waren dies primär Länder in Nordamerika, Australasien, Südamerika und (für jüdische s) der junge Staat Israel. Die Sowjetunion zeigte sich empört über das, was sie als »Diebstahl« ihrer Bürgerinnen und Bürger durch Kapitalisten betrachtete, die nach Arbeitskräften gierten.
Das vorliegende Buch erzählt die Geschichte der »-Frage«, mit der sich die Alliierten am Ende des Zweiten Weltkriegs konfrontiert sahen, und ihrer hauptsächlich durch die Neuansiedlung der s erfolgten Lösung in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren. Diese Geschichte ist einerseits eine der Regierungen und der Diplomatie, die sich teilweise innerhalb der neu gegründeten Vereinten Nationen abspielte, wobei die Sowjetunion und ihre osteuropäischen Unterstützer zunehmend in Konflikt mit den , Großbritannien und den Ländern Westeuropas gerieten. Dieser Teil der Geschichte setzt am Kriegsende mit der scheinbar unproblematischen konzertierten Bemühung der Alliierten zur Rückführung sämtlicher Kriegsgefangener und Zwangsarbeiter in ihre Herkunftsländer ein, um daraufhin den Zusammenbruch des Kriegsbündnisses und die Entstehung des Kaltes Krieges nachzuzeichnen. Am Ende dieses Teils stand die erfolgreiche Umsetzung eines sehr ambitionierten, größtenteils -finanzierten Resettlement-Programms, dessen Finanzierung der amerikanische Kongress wohl nie bewilligt hätte, wenn die s nicht durch die Linse des Kalten Krieges, also als Opfer des Kommunismus, betrachtet worden wären.
Im Rahmen der entstehenden Antagonismen des Kalten Krieges, war die -Frage zwar ein relativ kleines Thema, an dem die politischen Empfindlichkeiten und Verstimmungen der Sowjetunion allerdings besonders deutlich hervortraten. Zunächst einmal wurde es als Demütigung gesehen, dass dermaßen viele sowjetische s ihre Repatriierung ablehnten. Natürlich stammten die meisten der Verweigerer nicht aus der »alten« Sowjetunion (aus der Zeit vor 1939), sondern aus den Gebieten im Baltikum, der Westukraine und Belarus, die infolge des Hitler-Stalin-Pakts von 1939 ungewollt in die Sowjetunion einverleibt worden waren. Da Moskau aber keinen Unterschied zwischen den beiden -Gruppen sehen wollte, konnte man darauf nur schwer aufmerksam machen. Wie der Marshallplan zum Wiederaufbau Westeuropas wurde die Neuansiedlung von s als Beispiel dafür gesehen, wie Kapitalisten mit obszönen Geldsummen um sich warfen, um die Sowjetunion zu schädigen. Doch die Neuansiedlung sowjetischer s war ein sogar noch herberer Schlag, weil es aus Sicht der Sowjets dabei zu einer unrechtmäßigen Aneignung ihres Eigentums (ihrer Staatsangehörigen) kam.
Parallel zu dieser Erzählung der großen Mächte verläuft die Geschichte der s selbst, angefangen mit ihrer Ankunft in den Lagern bis zu ihrer Ausreise in verschiedene Zielländer einige Jahre später. Displaced Persons wurden oft als »Bauern des Schicksals« beschrieben, als Menschen, die die Kontrolle über ihr Los verloren hatten und erst den Wirren des Krieges und später der Diplomatie der Großmächte ausgeliefert waren. Dieses prägnante Bild, das vielen s und ihren Nachkommen im Rückblick reizvoll erschien, ist tatsächlich nur teilweise zutreffend. Denn das realweltlich Geschehene unterscheidet sich nicht nur von der Geschichte, die die institutionellen Archive erzählen, sondern auch von der in Erinnerungen. Je näher der Blick dem Leben der s in den Lagern (und außerhalb davon) kommt, umso deutlicher wird der Grad an Handlungsmacht die sie sowohl kollektiv als auch individuell ausübten.2
Die Verweigerung der Repatriierung war die erste, aber auch nur die offensichtlichste große Übung in puncto Handlungsmacht. Die s wurden nach Name, Alter und Nationalität erfasst – aber all diese Informationen beruhten im Wesentlichen auf Selbstangaben. Die Alliierten konnten sie genauso wenig überprüfen wie Angaben zum Ehestand oder zur Kollaboration mit den Deutschen. Es war der kollektive Druck der s, der die Alliierten, entgegen ihrer ursprünglichen Absichten, dazu bewog, in Nationalgruppen aufgeteilte Lager zuzulassen und daraufhin auch zunächst »jüdisch« und später »ukrainisch« als Nationalitäten anzuerkennen. s konnten selbst entscheiden, ob sie in den Lagern unterkamen (viele holten dort lediglich ihre Rationen ab und lebten in Städten), ob sie einer Arbeit nachgingen (was erlaubt, aber nicht vorgeschrieben war), ob sie sich weiterbildeten (sie konnten kostenlosen Zugang zu deutschen Universitäten erhalten) oder ob sie, wenn es sich um weibliche s handelte, in den Lagern eine Art Sozialstaat im Kleinen in Anspruch nahmen und Kinder bekamen. Als das Resettlement-Programm anlief und Anträge an verschiedene nationale Auswahlkommissionen gerichtet werden konnten, hatten s die Wahl, wo sie ihr Glück versuchten.
Diese zwei Ebenen der Geschichte – die der Diplomatie der Großmächte und die der Handlungsmacht der s – ließen sich mit Blick auf alle -Gruppen nachzeichnen, die nach der Massenrepatriierung in den ersten Monaten nach Kriegsende für längere Zeit in Obhut der westlichen Alliierten verblieben. Darunter waren polnische s (die größte Gruppe von ihnen), jüdische s (die überwiegend aus Polen kamen), jugoslawische und tschechische s und weitere Gruppen aus sämtlichen anderen Ländern Osteuropas, ebenso wie s aus der Sowjetunion. Das vorliegende Buch befasst sich jedoch spezifisch mit s – oder, genauer gesagt, mit jenen s, die die Sowjets als die ihren betrachteten. Zu ihnen gehörten nicht nur die Bürgerinnen und Bürger aus der der Vorkriegszeit – die nach sowjetischem Recht neben ihrer gemeinsamen Staatsangehörigkeit andere Nationalitäten besaßen und etwa Russen, Ukrainer, Belarussen, Georgier, Juden, Tataren oder Kalmücken waren –, sondern auch Menschen aus den Gebieten, die die Sowjetunion mit dem Hitler-Stalin-Pakt annektiert hatte. Diese Gruppe umfasste Letten, Litauer und Esten aus den vormals unabhängigen baltischen Staaten; Westukrainer und Westbelarussen, die einst polnische Staatsbürger waren; und sogar einige Bessaraber, die früher zu den Staatsbürgern Rumäniens zählten.
Es gibt eine Reihe von Besonderheiten, die sowjetische s zu einem äußerst aufschlussreichen Thema machen. Erstens stand diese Gruppe im Zentrum eines »Besitz«-Streits, der sich zwischen der Sowjetunion und den Alliierten abspielte und einen der grundlegenden Konflikte des Kalten Krieges darstellte. Zweitens nahmen einzelne sowjetische s oft falsche Identitäten (als Polen, Jugoslawen oder staatenlose Russen) an, um unentdeckt zu bleiben und der Zwangsrepatriierung zu...




