Flaig | Die Niederlage der politischen Vernunft | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 416 Seiten

Flaig Die Niederlage der politischen Vernunft

Wie wir die Errungenschaften der Aufklärung verspielen
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-86674-647-3
Verlag: zu Klampen Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Wie wir die Errungenschaften der Aufklärung verspielen

E-Book, Deutsch, 416 Seiten

ISBN: 978-3-86674-647-3
Verlag: zu Klampen Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Dass menschenrechtliche Prinzipien universal sein sollen, ist ein Gebot der Vernunft, das uns die Aufklärung auferlegt hat. Indes, wie sind die Erfordernisse dieses Universalismus zu erfüllen in der jeweiligen konkreten Weltlage? Das vermag uns nur eine politische Vernunft zu sagen, welche sich - anders als Kants praktische Vernunft - in Zeithorizonten bewegt. Aber eben diese Vernunft verliert heute rasch Terrain an antiuniversalistische Theorien, die kulturelle Sonderrechte propagieren und verfälschte Vergangenheiten produzieren. Dabei gerät die gute Gesinnung zum Maßstab des Handelns und die Entrüstung zum Mittel geistiger Auseinandersetzung. Um zu ermessen, was hierbei auf dem Spiel steht, verlangt Egon Flaig geistesgeschichtliche Rückbesinnung. Er fragt zum einen, welche Diskurse eine antiuniversalistische Einstellung legitimiert und vorangetrieben haben; und er erörtert zum anderen, weshalb die politische Vernunft auf historische Verankerung angewiesen ist. Denn allein aus einem kulturellen Gedächtnis heraus, das sich der Aufklärung verpflichtet weiß, gewinnen wir die Orientierung für politisches Handeln im Geiste eines emanzipatorischen Universalismus.

Egon Flaig, geboren 1949, lehrte als Professor für Alte Geschichte an den Universitäten Greifswald und Rostock. Gastprofessuren führten ihn ans Collège de France, die Sorbonne und an die Universität Konstanz; er war Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin und am Historischen Kolleg München. 1996 wurde ihm der Hans-Reimer-Preis der Aby-Warburg- Stiftung verliehen. Zuletzt sind von ihm erschienen »Weltgeschichte der Sklaverei« (2009), »Die Mehrheitsentscheidung« (2013) und bei zu Klampen »Gegen den Strom. Für eine säkulare Republik Europa« (2013).
Flaig Die Niederlage der politischen Vernunft jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material




Notre pensée n’est qu’une continuelle commémoration.

Was ist politische Vernunft?

Es geht um die politische Vernunft. Diese ist nicht die Kunst der Politik; und sie ist nicht eine spezifische Rationalität politischen Handelns. Sie ist eine Schwester der praktischen Vernunft kantianischen Stils. Bei Kant findet sich dieser Vernunfttyp nicht. Allerdings verficht er die »Idee einer Weltgeschichte, die gewissermaßen einen Leitfaden a priori hat.« Die Vernunft gebiete: exeundum e statu naturali – die Menschheit hat die Pflicht, aus dem Naturzustand herauszufinden und »das größte Problem für die Menschengattung« zu lösen, nämlich eine »vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung« zu erreichen. Zuerst gelte es, sich in rechtlich geordneten Staaten zusammenzuschließen. Nicht von der Moralität der Bürger rühre »die gute Staatsverfassung, sondern vielmehr, umgekehrt, von der letzteren allererst die gute moralische Bildung eines Volkes«.Sogar ein Volk von Teufeln müßte im Rahmen allgemeiner Gesetze sich so verhalten, daß das allgemeine Wohl befördert würde. Ob der Königsberger Philosoph hierbei den Kitt, ohne den Republiken auseinanderfielen, allzu unbeachtet ließ, davon soll im achten Kapitel die Rede sein. Jedenfalls hält er dafür, daß auch die Einzelstaaten den Naturzustand, in dem sie sich befinden, überwinden müßten. Und auch auf diesem Wege bedient sich die Natur der Antagonismen, ja sogar der Kriege: »Alle Kriege sind demnach so viel Versuche (zwar nicht in der Absicht der Menschen, aber doch in der Absicht der Natur), neue Verhältnisse der Staaten zu Stande zu bringen (…) bis endlich einmal, teils durch die bestmögliche Anordnung der bürgerlichen Verfassung innerlich, teils durch eine gemeinschaftliche Verabredung und Gesetzgebung äußerlich, ein Zustand errichtet wird, der (…) so wie ein Automat sich selber erhalten kann.«1 Eine Naturabsicht treibe die menschliche Geschichte mittels Konkurrenz und Feindschaft asymptotisch ihrem Endzweck zu, einer republikanischen Weltföderation. Kant setzte in diese geschichtsphilosophisch wichtige Hohlstelle kein menschliches Vermögen ein; ihm genügt die blinde Logik der unsichtbaren Hand, die sich durchsetzt hinter dem Rücken der Akteure und ohne deren Bewußtsein. Hegel hat daraus die List der Vernunft gemacht. Aber läßt sich an dieser Stelle nicht ein menschliches Vermögen auffinden?

Globalisierung ist nicht denkbar ohne Universalismus; allerdings ist der aufklärerische Universalismus nicht der einzige. Der Prozeß der Globalisierung folgt überwiegend einem ›Trend‹; er hat also eine Richtung, folglich einen Sinn, wie schwach und undeutlich dieser sich auch ausnehme. Dieser Trend kommt teilweise als blindes Resultat zustande, teilweise haben ihn Akteure in schwersten politischen Kämpfen intentional vorangetrieben. Die Sklaverei wurde abgeschafft nur durch allergrößte politische und militärische Anstrengung, entgegen jeglicher ökonomischen Logik und trotz heftigstem und andauerndem Widerstand. Wenn man die vielfältigen Gebiete der Universalisierung betrachtet, dann ist der Fortschritt rasant geworden. Aber er ist nicht stufenmäßig garantiert. Was Kant annahm, nämlich daß man hinter erreichte Stufen der Aufklärung nicht zurückfallen könne, ist zweifelhaft geworden. Angebracht ist eine skeptische Version der Aufklärung, nämlich die Einsicht, daß die Menschheit zum Zustand weltbürgerlicher Vereinigung fortschreiten muß, wenn sie überleben will. Denn die demographische Explosion, der klimatische Umbruch, der gleitende ökologische Kollaps, die ökonomische Privatisierung von gigantischen Ressourcen, die epidemische Virulenz des Terrorismus sowie die ausufernden religiösen Bürgerkriege berauben die Menschheit der Chance, auf diesem Planeten globale Katastrophen zu vermeiden, Katastrophen, die einen Großteil der kulturellen Errungenschaften der vergangenen zweieinhalb Jahrtausende annihilieren werden. So wie Kant ein »principium exeundum e statu naturali« postuliert, ein Prinzip, wonach die Menschen notwendigerweise den Naturzustand verlassen müssen, um mittels des Staates im Zustand des Rechts leben zu können, so drängt sich im Angesicht der heutigen Drohungen als analoges Prinzip die Notwendigkeit auf, aus dem Naturzustand der Staatenwelt herauszufinden. Die Perspektive verstattet keinen hoffnungsfrohen Blick auf den Fortschritt, sondern nötigt zu einer nüchternen Suche nach einem Ausweg.

Welche politische Verfaßtheit die kriegsfähige Gemeinschaft hat, ist ihm dabei gänzlich gleichgültig. Von dieser Position setzt sich die hier gewählte Definition des Politischen scharf ab. Denn es bezeichnet einen abgegrenzten sozialen Bereich, der sich desto mehr autonomisiert, je intensiver und extensiver die institutionell geformte Partizipation der Mitglieder einer Gemeinschaft sich gestaltet. Seine Lebendigkeit bemißt sich nicht so sehr an der Kriegsfähigkeit als vielmehr an der Entscheidungsfähigkeit. Ein solcherweise bestimmtes Politisches kann demnach ohne Kriege und Feindschaft auskommen. Es benötigt als zuzuführenden energetischen Stoff lediglich den Konflikt, nämlich die ständigen Reibereien von Meinungen, Optionen und Zielen. Jedoch bleibt es hinsichtlich der Schmitt’schen Definition auf einem parallelen Weg, solange auf dem Planeten feindliche und kriegsfähige Einheiten hausen. Solange Kriege möglich sind und so lange wie eine republikanische Weltföderation außer Reichweite ist, bleibt die Feindschaft eine kardinale Kategorie des vernünftigen Denkens. Für jede ernsthafte kulturelle Selbstvergewisserung sind das semantische Potential und der kognitive Mehrwert von Feindschaft riesig. Das wird zu behandeln sein im achten und neunten Kapitel.

Just im Jahre 1789, in seiner Jenenser Antrittsvorlesung, deduzierte Friedrich Schiller aus dieser Dankbarkeit eine geistige Disposition, uns verpflichtet zu fühlen gegenüber der Nachwelt, weil die Dankesschuld sich nur so überhaupt abstatten lasse. Wegen dieser intergenerationellen Verpflichtung betrachtete Edmund Burke Staaten als Gemeinschaften zwischen denen, die gelebt haben, leben und noch leben werden. Es ist ein Irrtum, hierin eine beliebige Identitätskonstruktion zu sehen; denn der Grund, dankbar zu sein, läßt sich nicht wegdiskutieren, da er in Gestalt tausendfacher Errungenschaften vor unseren Augen steht. Dieselben bloß für gegeben zu halten, würde die Menschen der Gegenwart in amnestische Troglodyten verwandeln, die als Parasiten durch die Geschichte stolpern.

Die Basissätze dieser Entgrenzung werden beleuchtet im folgenden Kapitel, ihre politische Virulenz in Kapitel neun.

Wer das Wort ›Vernunft‹ in den Mund nimmt, setzt sich etlichen Vorwürfen aus. Zweien unter diesen sei vorab begegnet. Erstens ist zu erläutern, in welchem Verhältnis die so definierte Vernunft zur Utopie steht, zweitens inwiefern sie einen Anspruch auf überlegenes Wissen erhebt gegenüber der bloßen ›Ideologie‹.

Nun zum Anspruch auf überlegene Wahrheit. Der Begriff der Aufklärung enthält eine gewisse Skepsis gegen seine eigenen Grenzen. Daher wird in diesem Buch das Wort ›Ideologie‹ nur sparsam verwendet. Marxens These, Ideologie sei notwendig falsches Bewußtsein, ist grausam lächerlich. Denn jedwedes menschliche Bewußtsein ist notwendig fehlerhaft, weil es ein menschliches ist; und weil uns Menschen die letzten Gründe und Zusammenhänge immer verschlossen sein werden. Alle Aufklärung hat notwendigerweise Grenzen. Damit ist der wissenschaftliche Fortschritt nicht geleugnet. Es gibt ihn; und die postmodernen Einwürfe, alle Diskurse seien gleich weit vom Realen entfernt, folglich Voodoo genauso wahr wie Atomphysik, werden außerhalb der Cultural Studies an westlichen Universitäten mit Hohn quittiert. Selbstverständlich gibt es Fortschritt in der Erkenntnis der Welt. Aber die Menschheit bleibt immer in der platonischen Höhle gefangen. Es gelingt lediglich, uns in der Höhle von Fesseln zu befreien, umherzugehen und die Körper von ihren Schatten zu unterscheiden. Und mit viel Mühe gelingt es, einzelne Winkel der Höhle besser auszuleuchten. Mehr ist dem irdischen Leben nicht gegeben. Das sind die Grenzen der Aufklärung. Deutlicher: Die Aufklärung benötigt Wissenssysteme; sie versucht nach Kräften, ohne Glaubenssysteme auszukommen. Doch alle Wissenssysteme müssen mit Axiomen arbeiten, die sie unbewiesen voraussetzen; und sie unterscheiden sich in dieser Hinsicht nicht von Glaubenssystemen, obwohl sie in funktionalen Hinsichten solchen weit überlegen sind. Das einzige, was die Aufklärung zuverlässig leisten kann, ist, die Wissenssysteme unablässig aufs Forum zu rufen und sie gegeneinander antreten zu lassen, damit die Öffentlichkeit sie prüfen kann, um zu überprüfen, welche Wissenssysteme die Wirklichkeit besser erklären als andere und wie konsistent ihre innere Logik jeweils ist. Doch vollständige Kohärenz ist für kein menschliches Wissenssystem erreichbar; immer zeigen sich Lücken. Die Unvollständigkeit garantiert für alle Zeiten eine kreative Unruhe, selbst wenn diese mal heftiger und mal träger wirkt. Aufklärung befreit nicht aus der Höhle, sie findet keine Schlüssel zum Reich. Sie befindet sich auf dem schwankenden Boden der historischen Situativität.

Zwei Bedingungen:

Öffentlichkeit und Urteilskraft

Welche apriorischen und welche empirischen Bedingungen müssen gegeben sein, damit die politische Vernunft agieren kann? Es sind zwei Bedingungen, beide liegen auf...


Egon Flaig, geboren 1949, lehrte als Professor für Alte Geschichte an den Universitäten Greifswald und Rostock. Gastprofessuren führten ihn ans Collège de France, die Sorbonne und an die Universität Konstanz; er war Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin und am Historischen Kolleg München. 1996 wurde ihm der Hans-Reimer-Preis der Aby-Warburg- Stiftung verliehen. Zuletzt sind von ihm erschienen »Weltgeschichte der Sklaverei« (2009), »Die Mehrheitsentscheidung« (2013) und bei zu Klampen »Gegen den Strom. Für eine säkulare Republik Europa« (2013).



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.