Flaubert / Edl | Madame Bovary | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 752 Seiten

Flaubert / Edl Madame Bovary

Roman
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-446-24070-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 752 Seiten

ISBN: 978-3-446-24070-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Gustave Flauberts hinreißendes Drama und seine Heldin sind zum Skandal und Mythos geworden: Emma Bovary lebt in der Provinz und träumt von großer Leidenschaft, großer Liebe und großem Leben. Gelangweilt von ihrer Ehe mit dem Landarzt Charles, sucht sie die ersehnten Erregungen bald im Ehebruch, doch sie scheitert an ihrem Verlangen und ihrer Umwelt. Als das Buch 1857 in Frankreich erschien, wurde Flaubert wegen 'Unmoral' der Prozess gemacht. Zugleich begann 'Madame Bovarys' Ruhm als der vollkommenste Roman der Geschichte und Gründungsroman der literarischen Moderne. Elisabeth Edl hat eine Neuübersetzung geschaffen, die zeigt, worin Flauberts unvergleichliche Modernität liegt.

Gustave Flaubert wurde am 12. Dezember 1821 in Rouen (Normandie) geboren und starb 1880 im Alter von 59 Jahren in Croisset. Schon seit seiner Jugend schrieb er Erzählungen und Romane. Aufgrund seiner hohen Ansprüche an sich selbst veröffentlichte er jedoch keines seiner Manuskripte. Sein erstes publiziertes Werk wurde der Roman Madame Bovary, der 1856 im Feuilleton der Revue de Paris erschien und der ihm einen Prozess wegen Verstoßes gegen die Sitten eintrug. Sein schönstes Buch ist für viele seiner Verehrer Drei Geschichten, zugleich sein letztes vollendetes Werk. Zunächst unverstanden, aber noch einflussreicher auf die Entwicklung der europäischen Literatur war der große Roman 'L'Éducation sentimentale. Histoire d'un jeune homme' (1869), der als Lehrjahre der Männlichkeit (Geschichte einer Jugend. Roman, 2020) in der Neuübersetzung von Elisabeth Edl erschien. Gustave Flaubert ist einer der besten Stilisten der französischen Literatur und ein Klassiker des Romans; zusammen mit Stendhal und Balzac bildet er das Dreigestirn der großen Erzähler Frankreichs. Bei Hanser erschien zuletzt die Neuübersetzung Memoiren eines Irren (Roman, 2021).
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I.


Wir saßen im Arbeitssaal, als der Direktor hereintrat, gefolgt von einem Neuen in bürgerlichem Aufzug und einem Schuldiener, der ein großes Pult schleppte. Wer geschlafen hatte, erwachte, und jeder sprang hoch, wie aufgeschreckt beim Lernen.

Der Direktor gab ein Zeichen, wir sollten uns wieder setzen; dann wandte er sich an den Hilfslehrer:

»Monsieur Roger«, sagte er halblaut, »ich lege Ihnen diesen Schüler ans Herz, er kommt in die Quinta. Sind Fleiß und Betragen lobenswert, bleibt er bei den Großen, wo er dem Alter nach hingehört.«

Der Neue, im Winkel hinter der Tür stehengeblieben, so dass man ihn kaum sah, war ein Bursche vom Land, etwa fünfzehn und größer als irgendeiner von uns. Seine Haare waren auf der Stirn gerade abgeschnitten, wie bei einem Dorfkantor, er wirkte brav und sehr verlegen. Obwohl er keine breiten Schultern hatte, schien die Joppe aus grünem Tuch und mit schwarzen Knöpfen unterm Arm zu spannen, und durch die Schlitze an den Aufschlägen sah man rote Handgelenke, die es gewohnt waren, nackt zu sein. Die blaubestrumpften Beine steckten in einer gelblichen, von Trägern stramm hinaufgezogenen Hose. Er trug grobe, schlecht gewichste Nagelschuhe.

Nun begann das Abfragen des Stoffs. Er lauschte mit gespitzten Ohren, aufmerksam wie bei der Predigt, wagte nicht einmal die Schenkel übereinanderzuschlagen oder den Ellbogen aufzustützen, und um zwei, als die Glocke läutete, musste der Hilfslehrer ihn ermahnen, damit er sich mit uns in Reih und Glied stellte.

Wir hatten die Gewohnheit, beim Betreten des Klassenzimmers unsere Mützen auf den Boden zu werfen, um die Hände frei zu haben; bereits auf der Türschwelle musste man sie so unter die Bank schleudern, dass sie gegen die Mauer knallten und viel Staub aufwirbelten; das war in Mode.

Doch entweder war ihm der Trick nicht aufgefallen, oder er hatte sich nicht getraut mitzumachen, jedenfalls war das Gebet zu Ende und der Neue hielt seine Mütze noch immer auf dem Schoß. Es handelte sich um eine jener Kopfbedeckungen gemischter Natur, welche Elemente der Pelzkappe, der Tschapka, des runden Huts, der Otterfellkappe und der Zipfelmütze in sich vereinte, ja, um eines jener armseligen Dinger, deren stumme Hässlichkeit die gleiche ausdrucksvolle Tiefe besitzt wie das Gesicht eines Idioten. Eiförmig und durch Fischbeinstäbchen gewölbt, begann sie mit einem dreifachen Wurstring; dann kamen abwechselnd, durch ein rotes Band getrennt, Rauten aus Samt und Kaninchenfell; hierauf folgte eine Art Sack, der in einem pappverstärkten, mit kunstvoll gesticktem Litzenbesatz verzierten Vieleck endete, und daran baumelte, als Abschluss einer langen, allzu dünnen Kordel, ein kleines Goldfadenknäuel in Form einer Eichel. Die Mütze war neu; der Schirm glänzte.

»Stehen Sie auf«, sagte der Lehrer.

Er stand auf; seine Mütze fiel zu Boden. Die ganze Klasse lachte.

Er bückte sich, um sie aufzuheben. Ein Banknachbar stieß ihn mit dem Ellbogen, sie fiel ein zweites Mal, wieder las er sie auf.

»Legen Sie doch Ihren Helm ab«, sagte der Lehrer, denn er war ein geistreicher Mann.

Die Schüler brachen in schallendes Gelächter aus, was den armen Kerl so verwirrte, dass er nicht wusste, ob er seine Mütze in der Hand behalten sollte, auf dem Boden lassen oder aufsetzen. Er nahm wieder Platz und legte sie in den Schoß.

»Stehen Sie auf«, verlangte der Lehrer noch einmal, »und sagen Sie mir Ihren Namen.«

Der Neue nuschelte einen unverständlichen Namen.

»Noch einmal!«

Das gleiche Silbengenuschel war zu hören, übertönt vom Johlen der Klasse.

»Lauter!« schrie der Lehrer, »lauter!«

Da fasste sich der Neue ein Herz, riss den Mund sperrangelweit auf und brüllte, als riefe er jemanden, aus vollem Hals das Wort: Schahbovarie.

Sogleich erhob sich ein Heidenlärm, schwoll an im crescendo, mit schrillen Tönen (man kreischte, jaulte, trampelte, wiederholte: Schahbovarie! Schahbovarie!), grollte in vereinzelten Noten weiter, legte sich nur mühsam und brauste in einer Bankreihe immer wieder plötzlich auf, wenn hier und dort, wie ein schlecht gelöschter Knallfrosch, ersticktes Lachen hervorsprang.

Unter dem Hagel von Strafarbeiten kehrte jedoch langsam Ordnung ein in der Klasse, und als der Lehrer endlich den Namen Charles Bovary verstand, nachdem er ihn sich hatte diktieren lassen, buchstabieren und repetieren, befahl er dem armen Teufel stante pede, sich in die Eselsbank zu setzen, gleich vor den Katheder. Der gab sich einen Ruck, zögerte jedoch, bevor er losging.

»Was suchen Sie?« fragte der Lehrer.

»Meine Mü…«, antwortete zaghaft der Neue mit ängstlich wanderndem Blick.

»Fünfhundert Verse, die ganze Klasse!« mit zorniger Stimme gerufen, unterdrückte, wie das Quos ego, einen neuerlichen Sturm. »Geben Sie doch Frieden!« fuhr der aufgebrachte Lehrer fort und wischte sich die Stirn mit einem Taschentuch, das er aus seiner Kappe gezogen hatte: »Und Sie, Neuer, Sie schreiben mir zwanzigmal das Verb ridiculus sum

Dann, mit sanfterer Stimme:

»Na! Die finden Sie schon wieder, Ihre Mütze; die ist nicht gestohlen!«

Alles wurde ruhig. Die Köpfe beugten sich über Schulmappen, und der Neue saß zwei Stunden in beispielhafter Haltung, obwohl von Zeit zu Zeit das eine oder andere Papierkügelchen aus einer Federspitze geflogen kam und auf sein Gesicht klatschte. Doch er wischte sich mit der Hand ab und verharrte reglos, den Blick gesenkt.

Am Abend, im Arbeitssaal, zog er seine Ärmelschoner aus dem Pult, brachte seine Siebensachen in Ordnung, linierte sorgfältig sein Papier. Wir sahen, wie er gewissenhaft lernte, alle Vokabeln im Wörterbuch nachschlug und sich große Mühe gab. Dem guten Willen, den er an den Tag legte, hatte er es wohl zu verdanken, dass er nicht in die niedrigere Klasse abstieg; denn auch wenn er die Regeln leidlich beherrschte, fehlte ihm doch jede Eleganz im Ausdruck. Der Pfarrer seines Dorfes hatte ihm Grundkenntnisse in Latein beigebracht, da seine Eltern ihn aus Sparsamkeit erst möglichst spät auf die Schule schicken wollten.

Sein Vater, Monsieur Charles-Denis-Bartholomé Bovary, ehemaliger Hilfschirurg der Armee, um 1812 in eine Affäre bei Truppenaushebungen verstrickt und um dieselbe Zeit gezwungen, den Dienst zu quittieren, hatte sich damals seine persönlichen Vorzüge zunutze gemacht, um nebenbei eine Mitgift von sechzigtausend Franc einzustreichen, die sich in Gestalt der Tochter eines Wirk- und Strickwarenhändlers darbot, denn diese hatte sich in seine elegante Erscheinung verliebt. Ein stattlicher Mann, Angeber mit laut klirrenden Sporen, einem Backenbart, der in den Schnauzer überging, stets glitzernde Ringe an den Fingern und in auffällige Farben gekleidet, wirkte er wie ein kühner Recke mit der aufgeräumten Laune eines Handlungsreisenden. Nach der Heirat lebte er zwei oder drei Jahre vom Vermögen seiner Frau, dinierte gut, erhob sich spät, rauchte aus großen Porzellanpfeifen, ging abends erst nach dem Theater heim und besuchte regelmäßig Kaffeehäuser. Der Schwiegervater starb und hinterließ wenig; er war empört, stürzte sich ins Geschäft, verlor ein bisschen Geld und zog sich zurück aufs Land, das er bewirtschaften wollte. Da er von Ackerbau jedoch genauso wenig verstand wie von bedruckten Baumwollstoffen, seine Pferde ritt, anstatt sie zum Pflügen aufs Feld zu schicken, seinen Apfelwein flaschenweise trank, anstatt ihn fassweise zu verkaufen, das schönste Geflügel auf seinem Hof verspeiste und die Jagdstiefel mit dem Speck seiner Schweine einfettete, merkte er bald, dass es besser war, Schluss zu machen mit dem Spekulieren.

Für zweihundert Franc Miete jährlich fand er in einem Dorf, an der Grenze zwischen Pays de Cau und Picardie, eine Bleibe, halb Bauernhof, halb Gutshaus; und griesgrämig, von Reue geplagt, den Himmel verklagend, neidisch auf alle Welt, igelte er sich mit fünfundvierzig Jahren ein, angewidert von den Menschen, sagte er, und entschlossen, in Frieden zu leben.

Seine Frau war dereinst nach ihm verrückt gewesen; sie hatte ihn geliebt mit tausend Unterwürfigkeiten, die ihn noch stärker von ihr entfernt hatten. Früher einmal fröhlich, offenherzig und liebevoll, war sie mit zunehmendem Alter (so wie abgestandener Wein zu Essig) unverträglich geworden, zänkisch, nervös. Zuerst hatte sie viel gelitten, ohne zu klagen, wenn sie ihn allen Dorfschlampen hinterherlaufen sah und die zahllosen Spelunken ihn ihr abends zurückschickten, stumpf und stinkend vom Suff! Dann hatte ihr Stolz rebelliert. Von nun an hatte sie geschwiegen, ihre Wut heruntergeschluckt mit stummem Gleichmut, und den bewahrte sie bis zu seinem Tod. Sie war ständig unterwegs, geschäftig. Sie lief zu den Anwälten, zum Gerichtspräsidenten, wusste stets, wann ein Wechsel fällig war, erwirkte Aufschübe; und zu Hause bügelte sie, nähte, wusch, überwachte die Arbeiter, zahlte die Rechnungen, während Monsieur, der sich um nichts scherte, der immerzu in schmollender Trägheit dahindämmerte und bloß erwachte, um ihr etwas Unfreundliches zu sagen, rauchend vor dem Kaminfeuer saß und in die Asche spuckte.

Als sie ein Kind bekam, musste es zu einer Amme gegeben werden. Wieder bei ihnen zu Hause, wurde der Bengel verwöhnt wie ein Prinz. Seine Mutter fütterte ihn mit eingemachtem Obst, sein Vater ließ ihn barfuß laufen und sagte sogar, um den Philosophen zu spielen, er könne genausogut nackt bleiben wie Tierkinder. In Widerspruch zu den mütterlichen Neigungen hatte er ein männliches Kindheitsideal im Kopf, nach dem er seinen Sohn zu...


Edl, Elisabeth
Elisabeth Edl, 1956 geboren, lehrte als Germanistin und Romanistin an der Universität Poitiers und arbeitet heute als Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin in München. Sie wurde u. a. mit dem Celan-Preis, Petrarca-Preis, Voß-Preis, dem Österreichischen Staatspreis, dem Romain Rolland-Preis und dem Prix lémanique de la traduction ausgezeichnet. Sie ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und Chevalier de l'Ordre des Arts et des Lettres der Republik Frankreich.

Flaubert, Gustave
Gustave Flaubert wurde am 12. Dezember 1821 in Rouen (Normandie) geboren und starb 1880 im Alter von 59 Jahren in Croisset. Schon seit seiner Jugend schrieb er Erzählungen und Romane. Aufgrund seiner hohen Ansprüche an sich selbst veröffentlichte er jedoch keines seiner Manuskripte. Sein erstes publiziertes Werk wurde der Roman Madame Bovary, der 1856 im Feuilleton der Revue de Paris erschien und der ihm einen Prozess wegen Verstoßes gegen die Sitten eintrug. Sein schönstes Buch ist für viele seiner Verehrer Drei Geschichten, zugleich sein letztes vollendetes Werk. Zunächst unverstanden, aber noch einflussreicher auf die Entwicklung der europäischen Literatur war der große Roman „L'Éducation sentimentale. Histoire d'un jeune homme“ (1869), der als Lehrjahre der Männlichkeit (Geschichte einer Jugend. Roman, 2020) in der Neuübersetzung von Elisabeth Edl erschien. Gustave Flaubert ist einer der besten Stilisten der französischen Literatur und ein Klassiker des Romans; zusammen mit Stendhal und Balzac bildet er das Dreigestirn der großen Erzähler Frankreichs. Bei Hanser erschien zuletzt die Neuübersetzung Memoiren eines Irren (Roman, 2021).

Edl, Elisabeth
Elisabeth Edl, 1956 geboren, lehrte als Germanistin und Romanistin an der Universität Poitiers und arbeitet heute als Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin in München. Sie wurde u. a. mit dem Celan-Preis, Petrarca-Preis, Voß-Preis, dem Österreichischen Staatspreis, dem Romain Rolland-Preis und dem Prix lémanique de la traduction ausgezeichnet. Sie ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und Chevalier de l'Ordre des Arts et des Lettres der Republik Frankreich.



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