E-Book, Deutsch, 112 Seiten
Fleckenstein / Fleckenstein-Heer / Leiberg Mit Stolz aus der Abhängigkeit
Die Auflage entspricht der aktuellen Auflage der Print-Ausgabe zum Zeitpunkt des E-Book-Kaufes.
ISBN: 978-3-608-11591-8
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Leistungssensible Suchttherapie
E-Book, Deutsch, 112 Seiten
ISBN: 978-3-608-11591-8
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Martin Fleckenstein , Psychologe M.Sc., Eidgen. anerkannter Psychotherapeut in eigener Praxis, Co-Leitung Beratung u. Therapie Suchtfachstelle Zürich, Weiterbildungen in EMDR, NET; Co-Autor der Leistungssensiblen Suchttherapie LST, IRRT-ER-Trainer und IRRT-Supervisor.
Autoren/Hrsg.
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2
2.1
Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung haben parallel mehrere Herausforderungen zu meistern. Sie sehen sich einerseits mit den Symptomen ihrer Abhängigkeitserkrankung und mit der wiederkehrenden Erfahrung konfrontiert, ihre süchtigen Verhaltensweisen nicht stoppen oder kontrollieren zu können. Das bedeutet, dass sie das grundlegende Bedürfnis nach (Selbst-)Kontrolle wiederholt nicht befriedigen können. Zudem leiden sie häufig unter weiteren psychischen Erkrankungen, die komorbid (im Zuge der Abhängigkeitserkrankung) auftreten oder schon vor der Entwicklung der Abhängigkeit zu beobachten waren, z. B. Angststörungen, Depressionen, Persönlichkeitsstörungen. Die Symptome dieser zusätzlichen Erkrankungen stellen oftmals eine schwere Belastung dar. Psychische Erkrankungen führen häufig dazu, dass Betroffene nicht mehr oder nur noch teilweise arbeitsfähig sind, einen Großteil ihrer Lebenszufriedenheit einbüßen und nicht mehr zu einer selbstständigen Lebensführung in der Lage sind. Die dauerhaft erfolgreiche Bewältigung dieser Probleme stellt für die Betroffenen einen Kraftakt dar und mündet häufig in eine Überforderung.
2.1.1
Eine weitere Herausforderung ist die Art und Weise, wie die Gesellschaft auf psychisch erkrankte Menschen reagiert. Hauptsächlich auf der Basis vieler Missverständnisse in der Gesellschaft in Bezug auf Menschen mit psychischen Erkrankungen erfolgt eine Stigmatisierung. Komplizierend wirkt sich aus, dass manche Menschen mit psychischen Erkrankungen diese Vorverurteilung durch die Gesellschaft übernehmen, was zu Selbststigmatisierung und Selbstbeschämung führt (Rüsch et al., 2005).
Stigma
Der Begriff »Stigma« kommt aus dem Griechischen und bedeutet »Stich« oder »Wundmal«. Zum Stigma eignen sich Merkmale oder Eigenschaften, die in negativer Weise von dem abweichen, was wir oder andere von uns erwarten. Nach Erving Goffman (1974) kann das Stigma als Beispiel für die Kluft betrachtet werden, zwischen dem, was eine Person sein sollte, und dem, was sie wirklich ist. Das Stigma offenbart die Kluft zwischen der virtuellen (idealen) Identität und der wirklichen sozialen Identität.
Stigmatisierungen haben nach Grausgruber (2005) auf gesellschaftlicher Ebene eine wichtige regulierende Funktion. Stigmata regeln Werte, Einstellungen und Normen, aber auch Interaktionen zwischen gesellschaftlichen Gruppen. Sie legitimieren Ungleichbehandlungen sowie unterschiedliche Positionen einzelner Gruppen in Gesellschaften und stützen Machtgefälle. So betrachtet sind Stigmata wesentlich für das Zusammenleben von Menschen. Im Folgenden sollen jedoch die dysfunktionalen Ebenen der Stigmatisierung psychisch erkrankter Menschen beleuchtet und ihre die Krankheit aufrechterhaltenden Wirkmechanismen aufgedeckt werden. Die Literatur zu diesem Themenkomplex ist sehr umfangreich. Daher kann nur ein Auszug präsentiert werden, ohne den Anspruch, der Thematik vollumfänglich gerecht zu werden.
Stigmatisierungsprozess
Link & Phelan (2001) sprechen von einem Stigmatisierungsprozess, der mit der Wahrnehmung von Unterschieden beginnt und mit Diskriminierung endet. Tabelle 2 und Abbildung 8 beschreiben und illustrieren diesen Prozess. Auf der rechten Seite der Tabelle sind mögliche Konsequenzen aufgeführt, die in der jeweiligen Prozessphase im Erleben der Beteiligten zentral sind.
Tabelle 2: Phasen des Stigmatisierungsprozesses nach Link & Phelan (2001) mit konkreten möglichen Konsequenzen im Erleben der Beteiligten
Phasen des Stigmatisierungsprozesses | Konkrete mögliche Konsequenzen im Erleben der Beteiligten |
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Name | Beschreibung |
---|
Phase 1: Wahrnehmen und Ausdrücken einer Normabweichung | Bei einer Person wird ein zentrales unterscheidendes Merkmal festgestellt. | Die Wahrnehmung selbst ist oft inhaltlich richtig und nicht stigmatisierend. Auch ein adäquater Ausdruck muss nicht zwangsläufig zu Ausgrenzung führen. Beispiel: »Du hast eine andere Hautfarbe als ich.« |
Phase 2: Aktivieren negativer Stereotypien | Festgestellte Unterschiede werden mit negativen Attributen in Verbindung gebracht. | Die negative Bewertung der festgestellten Unterschiede (z. B.: »Du hast eine andere Hautfarbe, deswegen misstraue ich dir.«) geht oft mit inadäquaten Gleichheitserwartungen einher, z. B.:
Eine vorwurfsvolle Konstellation entsteht sowohl zwischen Stigmatisierenden und Stigmatisierten als auch in den Stigmatisierten sich selbst gegenüber. Wichtige Bindungsbedürfnisse werden verletzt. Das Gefühl der Verbundenheit lässt nach. |
Phase 3: Abgrenzen gegenüber dem Träger des Stigmas | Es kommt zu Ab- und Ausgrenzung, im Gegensatz zu somatischen Erkrankungen meist mit Übertragung des Stigmas auf die gesamte Person (der Süchtige, der Schizophrene) verbunden; ein Machtgefälle entsteht. | Abgrenzung und Ausgrenzung führen im Erleben der Betroffenen zu tiefgreifender Beschämung und Selbstbeschämung, z. B.:
Beginn von Stigmamanagement: ständige Anstrengung bezüglich Informationssteuerung und Kommunikation mit dem Ziel, als vollwertiger Interaktionspartner anerkannt zu werden (Hohmeier, 1975). ... |